Heute in den Feuilletons

Wie sich das Geld die Stadt unterwirft

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2009. In der FR verteidigt Norbert Bolz den Liberalismus. Der Freitag würde sich ja mit Honneths Sloterdijk-Kritik anfreunden, wenn da nicht Honneths Fliegenklappe wäre. Die Welt staunt über die offene Gesellschaftskritik türkischer Künstler. Die NZZ verabschiedet sich mit Trauer von zwei Dritteln aller Sprachen. In der FAZ meint Bernard-Henri Levy, dass man das Ende des Sozialismus durchaus voraussehen konnte. 

TAZ, 12.11.2009

Tieftraurige Menschelei, einigermaßen lustige Stunts und einfältige Welterklärung" bescheinigt Sven von Reden dem neuen Film von Michael Moore "Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte". "Könnte man sich nicht einen Performer vorstellen, der mit seinen öffentlichkeitswirksamen Aktionen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und andere politische Missstände ohne den Impetus des Welterklärers offenlegt, der nicht nur die sowieso schon Gebildeten und Engagierten erreicht, sondern einen Querschnitt der Bevölkerung, der seinem Publikum nicht einfach nur das sichere Gefühl gibt, auf der richtigen Seite zu stehen, sondern es in Territorien führt, in der es seine eigenen Haltungen überprüfen muss? Ach ja, den gibt es schon. Moore und Wallraff würden ihn sicher nicht ernst nehmen. Er heißt Sasha Baron Cohen, besser bekannt als Ali G., Borat oder Brüno."

Problematisch, vor allem in der Abwehr der Kritik daran, findet Ulrich Gutmair einen Fall von Selbstzensur am Deutschen Historischen Museum in Berlin, dessen Urheberschaft strittig ist. Bettina Gaus sinniert über Weltuntergänge, Roland Emmerichs neuen Film "2012" und die Ewigkeitsqualität des Fernsehens. Und Simone Schmollack kommentiert Ansätze der neuen schwarz-gelben Regierung, nun auch den sexuellen Missbrauch von Jungs zu thematisieren.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung mit Arbeiten von Scott McFarland und Owen Kydd in der Vancouver Art Gallery, der Tourauftakt des New Yorker Quartetts Grizzly Bear im Hamburger Club Grünspan, die Adaption des ungarischen Regisseurs Bela Tarr von Georges Simenons Roman "The Man From London" fürs Kino, die DVDs von Tilda Swintons Berliner Fahrraderkundungen "Cycling the Frame" und "The Invisible Frame" sowie in tazzwei der Film "Resiste! Aufstand der Praktikanten".

Und Tom.

FR, 12.11.2009

Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz ist gar nicht einevrstanden damit, für alle Übel die Liberalen verantwortlich zu machen und "erfolgreiche, leistungsbereite und wachstumsorientierte Menschen" in die Defensive zu treiben: "Für den modernen Liberalen gibt es keine funktionierende Wirtschaft ohne einen starken Staat. Allerdings ist der starke Staat nicht umso stärker, je tiefer er in die Wirtschaftsprozesse eingreift. Im Gegenteil schwächt er sich durch seine allgegenwärtigen regulierenden und helfenden Eingriffe. Der starke Staat hat also die Aufgabe, den Kapitalismus gegen die schlechten Kapitalisten zu verteidigen, d.h. für die Herrschaft des Leistungsprinzips, die Freiheit des Marktes und die Demokratie der Konsumenten zu sorgen."

Weiteres: Ursula Baus berichtet, dass Stuttgart seine ehemalige Gestapozentrale zwecks Quartiersaufwertung entsorgen will. Sylvia Staude war auf dem Hamburger Tanzkongress. Für Times mager blättert Arno Widmann durch die Zeitungen von 1989.

Besprochen werden die Ausstellung "Istanbul Next Wave" im Berliner Gropiusbau, Michael Moores neuer Film "Kapitalismus", Roland Emmerichs Weltuntergangsmärchen "2012" und ein Konzert von Abdullah Ibrahim in Frankfurt.

Freitag, 12.11.2009

Die Redaktion des Freitag seziert die Sloterdijk-Honneth-Debatte, und obwohl Honneths Verteidigung des Sozialstaats eher auf Freitaglinie liegt, hat Michael Angele Schwierigkeiten: "Axel Honneths Antwort auf Sloterdijk hat mich deprimiert. Am Ende seiner langen Kritik in der Zeit sorgt sich Honneth über einen ihm unerträglichen 'Grad an Verspieltheit, an Ernstlosigkeit und Verquatscheit' in 'unserer demokratischen Kultur'. Was hat der Mann eigentlich gegen Verspieltheit? frage ich mich. Gott sei Dank sitzt der nicht zum Beispiel in unserer Redaktion, er würde auf jede halbweg schräge Idee mit der Fliegenklappe hauen, muss ich denken, tut mir Leid."

Lesenswert außerdem ein Essay von Nikolas Westerhoff über gesellschaftliche Außenseiter, ihren Einfluss auf die Mehrheit und ihre glückliche Entdeckung durch die Sozialpsychologie.

Welt, 12.11.2009

Mely Kiyak besucht die Ausstellung "Istanbul Next Wave" in Berlin, die einen Vorgeschmack gibt auf das Istanbuler Kulturhauptstadtjahr. Die Künstler - und besonders die Künstlerinnen - reflektieren offenbar mit bemerkenswerter Ehrlichkeit über ihre Gesellschaft: "Patriarchalisch, sexistisch, konsumfetischistisch sei sie. Gemeinsam mit den männlichen Kollegen landen alle unabhängig voneinander bei ähnlichen Urteilen. Identität, Sprache, Brauchtum, Religion und Zugehörigkeit, das sind die großen Leitplanken der Gesellschaft. Vor zwei Wochen bescheinigte die EU im Fortschrittsbericht der Türkei erhebliche Defizite in der demokratischen Entwicklung. So wurde noch einmal auf die Unterdrückung der Frauen in weiten Teilen der Türkei hingewiesen sowie auf erhebliche Defizite, was Meinungs- und Pressefreiheit betrifft. Die Kunst kommt zu ähnlichen Einsichten, ohne sich auf politische Aktionskunst zu reduzieren."

Weitere Artikel: Michael Wenk gratuliert dem Fernsehregisseur Dieter Wedel zum Siebzigsten. Eckhard Fuhr konstatiert, dass durch die Finanzkrise viel heiße Luft aus den Kulturanstrengungen der arabischen Emirate gewichen ist. Marko Martin schickt aus Laos, wo er mit einer Touristengruppe unterwegs ist, eine Meditation über Claude Levi-Strauss' Kulturkritik und was daraus geworden ist.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten Alfred Messel, der etwa mit seinem Wertheim-Kaufhaus am heute verhunzten Leipziger Platz, die Stadt Berlin prägte (mehr hier), Peter Konwitschnys Inszenierung von Richard Strauss' "Salome" in Amsterdam und Filme, darunter Michael Moores filmische Kapitalismuskritik. Peter Zander unterhält sich außerdem mit dem Filmemacher.

NZZ, 12.11.2009

Der Japanologe und Linguist Florian Coulmas sorgt sich um die Vielfalt der Sprachen: Pessimistsichen Prognosen zufolge werden in ein oder zwei Generationen bis zu zwei Drittel aller Sprachen verschwinden, insgesamt mehr als 4000: "Heute wird die Überlieferung vieler Sprachen beendet, ohne dass Blut vergossen wird oder Volksstämme ausgerottet werden. Von Sprachensterben kann man deshalb nur im metaphorischen Sinne reden. Da Sprachen keine Lebewesen sind, können sie auch nicht sterben. Das bedeutet nun keineswegs, dass das Verschwinden der Sprache der Ainu (Japan) oder jener der Karitiana (Brasilien) weniger bedauerlich wäre als das des Apollofalters oder des Roten Thunfischs."

Weiteres: Beat Stauffer widmet sich noch einmal dem höchst widersprüchlichen islamischen Denker Tariq Ramadan. Besprochen werden Roland Emmerichs Weltuntergangsspektakel "2012" (das Susanne Ostwald "höchst unterhaltsam" fand), Ken Loachs Film "Looking for Eric", die Ausstellung "Rauschenberg - Tinguely" im Basler Museum Jean Tinguely, Georg Kreislers Autobiografie "Letzte Lieder" und Ian McEwans Opernlibretto "For You" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 12.11.2009

Für einen gefährlichen Mythos hält Bernard-Henry Levy die inzwischen durchgesetzte "Desinformation", das Ende des Kommunismus und der Mauerfall hätten sich nie und nimmer voraussehen lassen. Man dürfe da nicht einseitig auf "Kissinger, Brandt oder Giscard D'Estaing" sehen, "die vor den Unterdrückten im Osten die Türe zuschlugen". Weisere Männer seien da viel weitsichtiger gewesen: "Ich erinnere mich an Michel Foucault, der immer wieder gesagt hat, dass jede Diskursformation wie auch jedes politische Gebilde geboren wird, also auch stirbt - und dass dieses Gebilde eines Tages wie alle anderen sterben wird. Ich erinnere mich an Papst Johannes Paul II., der an die Erscheinung der Jungfrau Maria in Fatima erinnerte, die bereits im Mai 1917 den drei Hirtenkindern den Tod des Sowjetregimes geweissagt hatte, und der uns ohne Umschweife erklärte, die langersehnte Stunde sei nicht mehr fern." (Die steckt aber auch nur einer wie Levy in ein gemeinsames Bett.)

Weitere Artikel: Wie die mauerfallbegeisterten Franzosen zu Angela Merkels Besuch bei den Feiern zum Ende des Ersten Weltkriegs beinahe "Deutschland über alles" gesungen hätten, schildert Jürg Altwegg. Edo Reents beklagt, dass beim Todesfall Robert Enke die Berichterstattung "in den Jargon des Sportjournalismus" zurückgefallen ist. In der Glosse schüttelt Andreas Kilb den Kopf über den Zensurfall bei der Migrations-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, der nach Darstellung der beteiligten Offiziellen natürlich keiner gewesen sein soll. Ingeborg Harms nimmt sich in ihrer "Aus deutschen Zeitschriften"-Kolumne noch einmal die aktuelle Lettre vor und bedauert, dass viel Interessantes darin unter dem Geschrei um das Sarrazin-Interview in den Hintergrund geriet. Martin Kämpchen stellt den indischen Autor Chetan Bhagat vor, der mit in englischer Sprache verfasster "Unterhaltungsliteratur für und über Jugendliche aus der indischen Mittelschicht" singulär erfolgreich ist. Das nunmehr renovierte Museum der Universität Oxford hat Gina Thomas besucht. Karen Krüger muss am Todestag des Staatsgründers feststellen, wie sehr die Türkei zu ihrem Schaden bis heute im Bann von Kemal Atatürk steht. Auf der Kinoseite berichtet Hans-Jörg Rother vom Leipziger Dokfilm-Festival.

Besprochen werden Peter Konwitschnys "Salome"-Inszenierung in Amsterdam (Julia Spinola ist begeistert von Konwitschnys "Horrorvisionen"), Frank Heuels Inszenierung des Doku-Stücks "Zwei Welten" in Bonn, eine "Janosch"-Ausstellung im Frankfurter Museum für Kommunikation, Einspielungen mit Streichquartetten von Anton Ferdinand Titz und Peter Tschaikowsky, Michael Moores Agitdoc-Pamphlet "Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte" und Bücher, darunter "Crash", Claudia Liebs Studie über den Verkehrsunfall in der Literatur (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.11.2009

Thomas Steinfeld, der schon das dazugehörige Buch groß besprochen hat, zeigt sich nun auch von der "Migropolis"-Ausstellung (Website) in Venedig selbst enthusiasmiert. Dies sei eine politische Ausstellung, die über das gute Gewissen, das die bloße Geste des Anklagens ("von Isa Genzken über Luigi Nono bis zu Juli Zeh") verschaffe, hinausreicht: "Am Ende, nach zwei oder drei Stunden, hat man eine Anschauung, nicht nur einen Begriff davon, wie sich das Geld die Stadt unterwirft, wie der materielle Überfluss in den westlichen Ländern die andere Seite zur Armut in der Dritten Welt ist, wie die beiden größten Wanderungsbewegungen der Gegenwart, der Tourismus und die illegale Einwanderung, aufeinander bezogen sind - und was diese Stadt in alledem bedeutet, einschließlich der Industriewüste auf der 'terra ferma', die zur globalisierten Metropole Venedig gehört, wie die Brachflächen von New Jersey zu Manhattan gehören."

Weitere Artikel: Im Streit um den "Zensurfall" am Deutschen Historischen Museum sieht Franziska Augstein keinen Fehler beim Kulturstaatsminister, nur Beflissenheit bei Museumsdirektor Hans Ottomeyer. Alex Rühle schildert, wie das virale Marketing (hier etwa zu bewundern) von Sony für den Katastrophenfilm "2012" großen Ärger bei der NASA auslöste. Doris Kuhn porträtiert den bei der Kölner Kunstfilm-Biennale mit einer Retrospektive geehrten amerikanischen Kameramann Ed Lachman. Petra Steinberger beschreibt den Kulturkampf um Wäscheleinen in amerikanischen Vorstädten. Von einer französischen Diskussion um eine vermeintliche antisemitische Provokation Jean-Luc Godards nimmt Fritz Göttler Notiz.

Besprochen werden Nurkan Erpulats Uraufführungsinzenierung von Tim Staffels neuem Stück "Man braucht keinen Reiseführer für ein Dorf, das man sieht" am Berliner HAU, eine Rogier-van-der-Weyden-Ausstellung im Museum Löwen, neue Filme, darunter Michael Moores Doku "Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte", Brandon Camps Liebesfilm "Love Happens" mit Jennifer Aniston, und Bücher, darunter die nunmehr doch veröffentlichten letzten Karteikartenfragmente "Modell für Laura" von Vladimir Nabokov (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 12.11.2009

Tobias Timm berichtet, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann dafür sorgen ließ, dass in der Ausstellung "Fremde?" des Deutschen Historischen Museums die deutsche Flüchtlingspolitik gefälligst in einem positiven Licht erscheint. Ursprünglich lautete der Text auf einer Tafel: "Während innerhalb Europas die Grenzen verschwinden, schottet sich die EU zunehmend nach außen ab. Die Festung Europa soll Flüchtlingen verschlossen bleiben." Nun heißt es: "Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fördert staatlicherseits die Integration von Zuwanderern in Deutschland."

In der Debatte um Peter Sloterdijk und den Sozialstaat möchte Ulrich Greiner auch noch einmal über die "Würde der Armut" nachgedacht sehen. Dann würde auch Sloterdijks "reizvoll provozierende" Utopie vom freiwilligen Spendenstaat funktionieren: "Je stärker der Bürger als anonymer Steuerzahler verpflichtet wird, umso mehr sinkt seine Neigung, zu nachbarschaftlicher Anteilnahme und Zuwendung. Die Verstaatlichung der Tugenden kann nicht gelingen, und der Wunsch, die Bedürftigen sollten mit einem gewissen Stolz das ihnen Zustehende in Anspruch nehmen dürfen, ist unerfüllbar: Sie wollen nicht bloß Geld, sondern auch Anerkennung. Stattdessen müssen sie auf den Wartebänken der Sozialämter die Erfahrung machen, dass sie lediglich ein Aktenvorgang sind." (Zwei Fliegen mit einer Klappe! Herr Greiner muss weniger Steuern zahlen, und der Arme erhält seine Würde zurück.)

Weiteres: Vor Begeisterung taumelt Hanno Rauterberg durch das neue von Zaha Hadid entworfene MaXXI-Museum in Rom, in dem er eine Moderne schaute, "wie sie bislang niemand kannte". Heillos enttäuscht kehrt dagegen Adam Soboczynski vom Marbacher Schillermuseum zurück. Gewichtige Argumente gegen die Neuzuschreibung der Mona Lisa führt Frank Zöllner ins Feld. Tuvia Tenenbom berichtet vom Tribeca Festivalableger in Katar, wo er sich auf Einladung der Scheichin al-Mayassa bint Hamad al-Thani vergnügen durfte. Und Renate Klett schließlich verehrt den "fantastischen" Theatermacher Robert Lepage.

Besprochen werden eine Ausstellung spanischer Barockkunst in Londons National Gallery "Die Verwirklichung des Heiligen", Michael Moores neuer Film "Kapitalismus", Roland Emmerichs in Georg Seeßelens Augen entsetzlich "dummer" Katastrophenfilm "2012". Und Bücher, darunter Laszlo Földenyis Imre-Kertesz-Wörterbuch "Schicksallosigkeit" und Vladimir Nabokovs gegen seinen Willen postum veröffentlichten Roman "Das Modell für Laura", das für Michael Maar höchst "spärliche Reize" enthüllt.