Heute in den Feuilletons

Die Summe seiner Triebe

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2009. In der FR möchte Tiziano Scarpa das Subjekt wiederbeleben, schon um Berlusconi wieder etwas entgegenstellen zu können. Die SZ bestaunt das Wunder von Lüttich. Die Berliner Zeitung erinnert in der Sloterdijk-Debatte daran, dass wir nicht nur für Hartz IV Steuern zahlen. Die Welt erklärt noch einmal die Vorzüge von Open Access. In den Blogs werfen Matthias Spielkamp und Robin Meyer-Lucht einen kritischen Blick auf die Verlegerpläne für ein Leistungsschutzrecht

FR, 18.11.2009

Im Interview spricht der italienische Autor Tiziano Scarpa über seinen historischen Vivaldi-Roman "Stabat Mater", die Notwendigkeit im Italienischen eine neue Sprache zu finden. Auf die Frage, wie es Berlusconi gelingen konnte, die Massen zu verführen, antwortet er: "Wissen Sie, das Problem liegt woanders. Das 20. Jahrhundert hat das Subjekt, das, was wir 'Ich' nennen, abmontiert, auseinandergestückelt. Wir haben erfahren, dass das Individuum, das 'Ich', nicht mehr als die Summe seiner Triebe ist. Und dass wir keine Kontrolle über diese Triebe und Impulse haben. Wenn es so ist, wie soll man den Medien und ihren Wirkungsstrategien Widerstand leisten? ... Vielleicht sollten wir einfach wieder lernen, 'Ich' zu sagen. Und diesem 'Ich' eine gewisse Konsistenz zutrauen."

Weitere Artikel: Hans-Klaus Jungheinrich stellt CDs mit raren Fingerbrechern für Pianisten vor. In Times Mager erklärt Christian Schlüter den Protestanten, warum sie die Idee mit der Ökumene vielleicht mal eine Weile zurückstellen sollten.

Auf der Medienseite berichtet Ulrike Simon, dass die Zeitschriftenverleger auf dem Jahrestreffen ihres Verbandes nicht sonderlich amüsiert reagierten auf provokative Fragen von Außenseitern, etwa des Co-Präsidenten des Club of Rome, der wissen wollte, "ob das Ausbleiben von Anzeigen der Zeitschriftenbranchen nicht sogar geholfen habe, unabhängiger zu werden". Christoph Keese, Konzerngeschäftsführer Public Affairs der Axel Springer AG, deutete bei einer Diskussion in Berlin an, was er sich unter einem Leistungsschutzrecht für Verlage im Internet vorstellt, berichtet Marin Majica: "Offenbar wird darüber nachgedacht, das war bei Keese herauszuhören, Links auf journalistische Inhalte kostenpflichtig zu machen. Und zwar immer dann, wenn sie in einem gewerblichen Zusammenhang erstellt werden, also etwa im Büro, und Kollegen geschickt werden."

Besprochen werden die Surrealismusausstellung "Gegen jede Vernunft" in Ludwigshafen, David Albaharis Roman "Ludwig" und ein Band mit Briefen und Aufzeichnungen von Marion Gräfin Dönhoff (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 18.11.2009

Carta berichtet ausführlich über Tagung des Verbandes der Zeitschriftenverleger. Robin Meyer-Lucht hat die Argumente zusammengefasst, mit denen der Jurist Mathias Schwarz ein Leistungsschutzrecht für Verlage begründet. Eins davon: "Das fehlende Leistungsschutzrecht ist eine irritierende Lücke im deutschen Schutzsystem für Presseverlage" und verweist auf das britische "Publishers' Right". (Ein Video von der Rede gibt's auch)

Matthias Spielkamp, der die Argumente von Schwarz auseinander nimmt, erklärt: "Eine Stelle, an der überdeutlich wird, auf wie schwachen Beinen die Forderung der Verleger steht. Das Publishers' Right verleiht Verlagen ein 'Copyright in typographical arrangement', schützt also die exakte typographische Übernahme eines Textes. Sie nützt im Netz überhaupt nichts, da schon eine winzige formale Umstellung dazu führt, dass der Schutz nicht greift."

Außerdem kann man die Rede Angela Merkels auf der Tagung hören. Hingewiesen wird darauf, dass iRrights das im Frühjahr erstellte Bundestag-Gutachten zum Leistungsschutzrecht ins Netz gestellt hat und kurz kommentiert.

Schließlich hat Gawker schlechte Nachrichten für Verleger: Laut Umfrage würden nur 20 Prozent der Leser für Online-Inhalte zahlen, bei den restlichen 80 Prozent käme es auf's wie an.

Welt, 18.11.2009

Hendrik Werner erklärt die neue von Lars Fischer initiierte Online-Petition für Open Access, die bereits mehr als 10.000 Unterzeichner hat: "Fischer zufolge ist es unangemessen und nicht hinnehmbar, dass die öffentliche Hand die Forschung hierzulande jährlich zwar mit zwölf Milliarden Euro fördere, deren Ergebnisse aber überwiegend nur in kostenpflichtigen Fachzeitschriften nachlesbar seien. Dieses Missverhältnis drücke sich auch darin aus, dass die wissenschaftlichen Artikel wegen der hohen Kosten und der Vielzahl fachspezifischer Zeitschriften nur in wenigen Bibliotheken einsehbar seien. Den meisten Bürgern werde 'der Zugang zu der von ihnen finanzierten Wissenschaft dadurch nicht nur erschwert, sondern de facto ganz verschlossen, heißt es in der Begründung der Unterschriftensammlung."

Weiteres: Alexander Kluy berichtet von der Vergabe des Geschwister-Scholl-Preises an den italinieschen Autor Roberto Saviano. In einem zweiten Text besichtigt Kluy die wiedereröffnete Schack-Galerie in München. Elisabeth Wellershaus erzählt, wie Shermin Langhoff und Philippa Ebene im Ballhaus Naunynstraße beziehungsweise in der Werkstatt der Kulturen Theater mit Einwanderern zu machen. Michael Borgstede berichtet, dass dem kürzlich verstorbenen israelischen Allround-Künstler Amos Keinan vorgeworfen wird, vor 57 Jahren einen Anschlag auf den damaligen Verkehrsminister verübt zu haben. Berthold Seewald unterhält sich in einem Interview mit dem Physiker und Siemens-Manager Frank Stefan Becker über die Romane, die er in seiner Freizeit schreibt. Seewald macht uns mit den Arbeiten des Deutschen Archäologischen Instituts in Amman, Ankara, Jerusalem, Kairo, Sanaa und jetzt auch in Peking bekannt.

Besprochen wird Matthias Glasners Film "This is Love", der von der Beziehung eines pädophilen Kinderhändlers zu einer Kinderhure in Vietnam erzählt.

SZ, 18.11.2009

Im tristen Lüttich ist ein Wunder gelandet - "in ästhetischer, in technischer, und auch in städtebaulicher, symbolischer Hinsicht", staunt Manfred Schwarz: Santiago Calatravas spektakulärer neuer Bahnhof. "Der Schwung und die Transparenz dieses Bauwerks erinnern an den poppigen Futurismus im Design jener Epoche, an das himmelsstürmende Zeitalter der Raumfahrt. Für Lüttich, jener zuletzt ziemlich abgetakelten Industriestadt am Rand der Ardennen, ist dieser Bahnhof so etwas wie eine 'ganz persönliche Mondlandung': der Aufbruch in eine leuchtende Zukunft, ein Befreiungsschlag, ein hochwirksames Anti-Depressivum."

Weitere Artikel: "Schändlich" findet Thomas Steinfeld die Absicht hinter Bundesbildungsministerin Annette Schavans Bekenntnis, bei der "Umsetzung" der Hochschulreform habe es "handwerkliche Fehler" gegeben: "Denn 'handwerkliche Fehler' - das heißt, dass die Verantwortung für das drohende Scheitern der Reform nicht in der Politik, sondern bei den Universitäten zu suchen sei." Mit ihrem Relevanz-Streit hat sich die deutsche Wikipedia ihre Spendenkampagne vermasselt, berichtet Johannes Boie. "Allenfalls provokativ" fand der Anwalt Stefan von Moers einen Artikel von Johannes Boie, der in der SZ das Abmahnwesen der Verwertungsindustrie beschrieb. (Die unseriösen Kostenrechnungen von Abmahnanwälten beschrieb der Anwalt Udo Vetter kürzlich in seinem lawblog.)

Besprochen werden Oren Pelis kleiner Horrorfilm "Paranormal Activity", die Inszenierung von Einar Schleefs "Abschlussfeier" am Maxim Gorki Theater Berlin durch Armin Petras, eine Schau der Knetkünstlerin Leni Hoffmann im Kölner Museum Ludwig, die Inszenierung eines Ausschnitts von Peter Esterhazys "Harmonia Caelestis" am Wiener Burgtheater, die John-Baldessari-Ausstellung in der Londoner Tate Modern, einige CDs und Bücher, darunter ein Band über Schweizer Käse (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.11.2009

Jürgen Berger beschreibt den Neuanfang von Intendantin Barbara Frey am Zürcher Schauspielhaus. Michael Kasiske berichtet über das Symposium "Queer Spaces - Definitionen eines verdrängten Raumes" in Hamburg. Besprochen wird eine CD des Anti-Pop Consortiums.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 18.11.2009

Harald Jähner schaltet sich in die Sloterdijk-Debatte um den Sozial- und Steuerstaat ein: "Vor allem befremdet an dieser feuilletonistischen Steuerdebatte die Fixierung auf die Sozialausgaben. Als ob wir nur für Hartz IV Steuern zahlten! Steuern werden erhoben, seit der Staat sich um Straßen kümmert, um Polizei und Gerichtsbarkeit, um die Bildung und das Militär. Ohne Staat kann keine Privatwirtschaft gedeihen, er sorgt für die Infrastruktur des Wirtschaftslebens, den Schutz des freien Handels durch Justiz und Exekutive. Und er sorgt für die Sicherheit des Finanzmarktes durch Bürgschaften - durch das Auffangen strauchelnder Banken mit Steuerhilfe beispielsweise."
Stichwörter: Finanzmärkte

NZZ, 18.11.2009

Joachim Güntner erläutert die revidierte Fassung des Google Book Settlement. Beatrix Langner flaniert durch das Weltdorf Bayreuth. Bernadette Conrad gratuliert der großen Margaret Atwood zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung der Avantgardistin Sophie Taeuber im Museo Picasso Malaga, die Schau "Taswir - Islamische Bildwelten und Moderne" im Berliner Martin-Gropius-Bau, Salvatore Bonos Geschichte der "Piraten und Korsaren im Mittelmeer", Uwe Wolffs Biografie des Theologen Walter Nigg und Nick Caves Roman "Der Tod des Bunny Munro" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 18.11.2009

Wenig Fortschritt - gerade aus deutscher Sicht - erkennt Hannes Hintermeier in den neuen Entwicklungen beim Google-Books-Vergleichsverfahren. Niklas Maak stellt Überlegungen dazu an, wie das mit dem Neubau einer Kunsthalle in Berlin funktionieren könnte. Judith Leister war dabei, als das Münchner Literaturhaus das Zehnjährige seiner "Textwerk"-Schreibworkshops feierte. Nichts als "Dummheit" sieht Jürgen Kaube im Beschluss der Mitglieder der dem Literaturarchiv institutionell vorgesetzten Marbacher Deutschen Schillergesellschaft, die alle Empfehlungen für eine Satzungsänderungen in den Wind schlugen. Anlässlich eines Kölner Symposions fragt Andreas Rossmann, wann an Ruhr und Rhein die Sechziger-Jahre-Architektur wieder modern wird. Jordan Mejias teilt mit, dass die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle der Kritik bei einem New Yorker Konzert ein wenig laut vorkamen. In der Glosse ärgert sich Dirk Schümer, dass die Deutschen, "porca miseria", italienische Salatnamen nicht korrekt aussprechen können. Andreas Tönnesmann schreibt den kurzen Nachruf auf die Kunsthistorikerin Tamara Hufschmidt.

Besprochen werden die Moskauer Erstaufführung von Arvo Pärts dem einsitzenden Ex-Oligarchen Michail Chodorkowskij gewidmeter Vierte Sinfonie, Klaus Hemmerles deutsche Erstinszenierung von Michael Frayns "Reinhardt"-Stück in Salzburg, ein Bela-B.-Konzert in Köln, die Ausstellung "Fellini, la Grande Parade" im Pariser Jeu de Paume, und Bücher, darunter Friedrich Kittlers zweiter Teil "Eros" seiner Griechenland-Mythe "Musik und Mathematik"(mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).