Heute in den Feuilletons

Er sprach gut platonisch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2009. FAZ und SZ retten heute die Öffentlich-Rechtlichen: Die FAZ sieht einen Staatsjournalismus aufziehen. Die SZ würdigt die Arbeit der Degeto, die es schafft für 400 Millionen Euro jährlich fast ausschließlich Schmonzetten zu produzieren. Die NZZ interviewt einen Überlebenden des nordkoreanischen Gulag. Im Perlentaucher erwidert Ilja Braun auf den Vorschlag des Heidelberger Juristen Burkhard Hess, Google immer weiter zu verklagen und die Bibliotheken gleich mit.

NZZ, 23.11.2009

Auf einer ganzen Seite unterhält sich Hoo Nam Seelamn mit dem Nordkoreaner Jung Guang Il, der drei Jahre in einem Arbeitlsager interniert war und schließlich über China nach Südkorea entkam. Ihm wurde Spionage und Systemkritik vorgeworfen. Neun Monate lang wurde er verhört und gefoltert: "Die schlimmste war die sogenannte 'Tauben-Folter'. Die Hände werden nach hinten mit einer Handschelle zusammengebunden, die man an einem niedrigen Eisengitter des Fensters befestigt. Man kann in dieser Haltung weder sitzen noch stehen, so dass sich der ganze Körper bald wie gelähmt anfühlt und der Schmerz kaum zu ertragen ist. Man darf nicht einmal die Toilette aufsuchen. Das Essen dort kann man kaum als solches bezeichnen. Es schien aus undefinierbarem Grünzeug und irgendwelchen Resten zu bestehen. Als ich verhaftet wurde, wog ich 75 Kilo, nach der ganzen Tortur nur 38 Kilo. Man ließ mich wissen, dass ich da nur herauskäme, wenn ich gestehen würde. Mein Tod schien gleichgültig zu sein. Vor Hunger, Kälte und Schmerz hielt ich es nicht mehr aus und gab alles zu, was man von mir hören wollte."

Daniel Ender berichtet vom Festival Wien Modern. Besprochen werden die Ausstellung "Wir Kleinbürger!" von Sigmar Polkes politischer Kunst der siebziger Jahre in der Hamburger Kunsthalle und die Choreografie "Theatrical Arsenal II", in der die Forsythe Company Frankfurts Showbiz aufs Korn nimmt.

Perlentaucher, 23.11.2009

Ilja Braun erwidert auf einen FAZ-Artikel des Heidelberger Juristen und Appellierenden Burkhard Hess, der Google nun ganz am einscannen von Büchern hindern und die deutschen Bibliotheken, die mit Google kooperieren, gleich mit verklagen will: "Fragt sich nur, wer denn jetzt die Sammelklage im Namen 'aller ausländischen Autoren' in den USA einreichen soll. Auch da hat Hess eine tolle Idee: 'Hier sind die Autorenverbände und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gefragt.' Na, immer noch besser als die VG Wort. Die hat schon genug von dem Geld, das sie eigentlich treuhänderisch für ihre Autoren verwalten soll, für ihren Abwehrkampf gegen das Google Settlement verpulvert."

Welt, 23.11.2009

Eckhard Fuhr kritisiert den Solidaritätsring um den Chefredakteur des ZDF Nikolaus Brender. Brenders Vertragsverlängerung war von Roland Koch mit Verweis auf die mangelnde Qualität der politischen Informationssendungen in Frage gestellt worden. Ulrich Wickert hatte kürzlich in der FAZ ähnliche Kritik geäußert: "Dem 'Mister Tagesthemen' von einst nimmt man seine Kritik ab. Dürfen nur Journalisten über Journalismus räsonieren? (...) Die Idee, dass die Freiheit dort besonders kräftig blühe, wo die demokratischen Parteien nicht sind, kleidet sich heute gern in den lässigen Schick der 'Zivilgesellschaft'. Doch in diesem Mantel hängt eine Menge alter Mief, der vom Ressentiment gegen die Parteiendemokratie erzählt. Das ist kein Erbe, auf das man stolz sein kann."

Weitere Artikel: Hannes Stein möchte Dimitri Nabokovs Veröffentlichung des "Laura"-Fragments ans "Ressort für Skandale und Sauwirtschaft" abgeben. Matthias Heine erinnert an den vor 150 Jahren geborenen Billy the Kid. Günter Agde berichtet über eine Reihe mit Filmen aus den Archiven der Stasi im Berliner Zeughauskino. Manuel Brug schreibt zum Tod der Sopranistin Elisabeth Söderström. Paul Badde erzählt, wie der Papst 260 Künstler in die Sixtinische Kapelle einlud, um ihnen einen Vortrag über den Weg der Schönheit zu halten. Stefan Grund berichtet über die brillanten Antworten seines Chefs Mathias Döpfner bei der Zeit-Matinee mit Michael Naumann und Josef Joffe.

Besprochen werden eine Forsythe-Choreografie in Frankfurt, Dieter Dorns Inszenierung von Eurpides' "Alkestis" und einige CDs.

Aus den Blogs, 23.11.2009

Robin Meyer-Lucht weitet in Carta den Blick auf die Öffentlich-Rechtlichen: die Krise ist eine des Systems: "Die Krise der Rundfunkfreiheit ist dabei zugleich auch eine Krise der Idee der 'Binnenpluralität'. Die Rundfunkfreiheit ist ideengeschichtlich in Epoche der Frequenzknappheit verwurzelt. Sie ist bestrebt, Meinungsvielfalt im Mediensystem durch programminterne Vielfalt und interne Gremienkontrolle sicherzustellen. Mit dem Internet aber explodiert die 'Außenpluralität': Es gibt eine rasch wachsende Zahl von Angeboten und Menschen, unabhängig publizieren und so für einen Diskurs zwischen den Publikationen sorgen. Vielfalt muss nicht mehr in einer Anstalt hergestellt werden."

Via BoinBoing: Die Financial Times meldet, dass Microsoft Rupert Murdochs News Corp dafür bezahlen will, seine Inhalte nicht mehr von Google indexieren zu lassen.

TAZ, 23.11.2009

Jörg Magenau vergleicht die Schreibansätze von Botho Strauß und Rainald Goetz und findet Ähnlichkeiten: "Ziel und Resultat sind merkwürdigerweise bei beiden identisch: die heftige, affektive Abwehr der Gesellschaft in ihrem gegenwärtigen Zustand und der Versuch, sie hinter sich zu lassen. Goetz will sie vorwärts überholen, will das Neueste entdecken und erproben. Strauß hält sich dagegen lieber an 'das Vertraute', das dem 'jeweils Neuen', und an 'das Eigene', das dem 'Terror des öffentlich gewordenen Privaten' vorzuziehen sei."

Weitere Artikel: Damian Zimmermann berichtet über die Messe Paris Photo, die ihren besonderen Schwerpunkt diesmal auf iranischen und arabischen Fotografien hatte. Elias Kreuzmair, Praktikant der taz-Kultur, macht Vorschläge, wie es mit den Studentenprotesten weitergehen könnte. Suhrkamp verwandelt sich gerade in einen ganz normalen Verlag, meint Dirk Knipphals.

Auf den vorderen Seiten erklärt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit sehr kurzen Antworten, wie sie es mit Online-Überwachung, Datenspeicherung und dem Datenschutz hält.

Und Tom.

FR, 23.11.2009

Natalie Soondrum ist auf Einladung des Maharadschas Gaj Singh II. von Jodhpur nach Rajasthan gereist, wo seine Hoheit alljährlich ein Folklore-Festival ausrichtet, das die demnächst startende Zirkus-Revue "India" inspririert hat. Rudolf Walther berichtet von den Römerberg-Gesprächen zur "Krise des Überblicks". In Times mager beschäftigt sich Harry Nutt den Wettskandalen im europäischen Fußball.

Auf der Medienseite klickt sich Daniel Bouhs lustlos durch das eMag der Welt am Sonntag, mit dem Springer die Zukunft bezahlter Online-Inhalte einläuten möchte. Gemeldet wird, dass das ZDF bis 2012 mehr Geld für seinen neuen Sender ZDFneo ausgeben will, dafür weniger für 3sat."

Besprochen werden William Forysthes neue in Frankfurt uraufgeführte Choreografie "Theatrical Arsenal" und Christian Pades Inszenierung der "Fledermaus" an der Berliner Staatsoper.

FAZ, 23.11.2009

Mit reichlich Tremolo kommentiert Michael Hanfeld auf Seite 1 den bei Telemedicus dokumentierten Aufruf von 35 Staatsrechtlern, die Politik verstoße mit der geplanten Absetzung des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender gegen die Verfassung: "Der Skandal aber ist längst da, die Krise des Senders selbstredend auch. Es ist eine Krise der Rundfunkfreiheit, des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der zum Staatsfunk wird. Die Politiker streben dabei nicht nur einen Staatsrundfunk an, sondern - da die Sender mit Bild, Ton und Wort ins Internet ausgreifen - einen Staatsjournalismus."

Weitere Artikel: Der Papst rief in die Sixtinische Kapelle, die Künstler - von Daniel Libeskind bis Terence Hill - kamen und sahen und durften nichts sagen. Thomas Jansen berichtet im Feuilleton: "Es redete also nur der Papst. Er sprach gut platonisch über die Schönheit, die zum Wahren und Guten und so schließlich auch zum Glauben an Gott führen kann." Ingeborg Harms berichtet von der Verleihung des Kleist-Preises an den Schriftsteller Arnold Stadler (seine Dankesrede ebenso wie die Laudatio von Peter Esterhazy gibt es online bei der FAZ). In der Glosse schildert Dirk Schümer, wie die norditalienische Gemeinde Coccaglio vor Weihnachten Migranten loszuwerden versucht. Thorsten Gräbe berichtet von den gut, aber vor allem von älteren Menschen besuchten Römerberggesprächen, die unter dem Motto "Krise des Überblicks" standen. Nicht recht glücklich wurde Jochen Hieber mit vielen der Preis-Entscheidungen beim Fernsehfilm-Festival in Baden-Baden. Jürgen Kesting schreibt zum Tod der schwedischen Sopranistin Elisabeth Söderström. Die Geburtstagsglückwünsche für die Woche gehen an die Intendantin und Regisseurin Christine Mielitz (60), die Rockmusikerin Tina Turner (70), den Ideengeschichtler Edmund Leites (70), den Filmemacher Peter Lilienthal (80) und den Literaturwissenschaftler Frank Kermode (90).

Besprochen werden die Frankfurter Uraufführung von William Forsythes Choreografie "Theatrical Arsenal II", Dieter Dorns Münchner Inszenierung von Raoul Schrotts "Alkestis (nach Euripides)", Christian Pades' "Fledermaus"-Inszenierung an der Staatsoper Unter den Linden, ein Klavierkonzert mit Murray Perahia und der Academy of St. Martin-in-the-Fields in Frankfurt, F. Gary Grays Film "Das Gesetz der Rache" und Bücher, darunter Thomas Kramers Studie "Der Orient-Komplex" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 23.11.2009

Auf Seite 3 porträtiert Nicolas Richter den Fernsehmann Hans-Wolfgang Jurgan, der für 400 Millionen Euro jährlich im Namen der ARD-Produktionsgesellschaft Degeto Schmonzetten fabriziert: "Wohlfühlfernsehen ist noch immer die Vorgabe der Intendanten und Programmchefs. Jurgans Co-Geschäftsführer Jörn Klamroth sagte einmal: 'Nicht nur dem Fernsehen, auch der Bundesrepublik insgesamt fallen die Zähne aus. Es sind die älteren Damen, die bei uns den Ton angeben.' Jurgan sagt: Was die Hierarchen entscheiden, 'exekutieren wir'." Ebenfalls auf Seite 3 erzählt Willi Winkler, wie unglaublich schwer es ist, Interviewtermine mit Leuten wie Tom Buhrow und Claus Kleber zu bekommen.

Im Feuilletonaufmacher kritisiert China-Korrespondent Henrik Bork scharf die Schließung des deutschen Lesesaals in Pjöngjang, die offenbar von den Amerikanern erwirkt und von "konservativen Medien" wie der FAZ gewünscht wurde. Johannes Boie greift in den "Nachrichten aus dem Netz" einen an die die Netzöffentlichkeit gespielten Brief eines Anwalts auf, der erklärt, wie das Geschäft mit dem Abmahnen funktioniert (mehr dazu hier und hier). Anne Linsel teilt den jüngsten Stand bei den Schließungsvorbereitungen für das Theater Wuppertal mit. Alexander Kissler stellt den "Arbeitskreis engagierter Katholiken" (AEK) in der CDU vor, der seine Schwierigkeiten mit der Protestantin Merkel hat. Johannes Willms erläutert Nicolas Sarkozys Plan, die Gebeine von Albert Camus zu dessen fünfzigsten Todestag am 4. Januar 2010 ins Pantheon überführen zu lassen.

Besprochen werden Dieter Dorns "Alkestis"-Inszenierung am Münchner Residenztheater, eine große CD-Box mit Miles Davis' Gesamtwerk auf siebzig CDs, die Uraufführung von William Forsythes "Theatrical Arsenal II" in Frankfurt, eine Ausstellung über die Kulturgeschichte des T-Shirts in Bielefeld, neue DVDs und Bücher, darunter Stephan Enters Roman "Spiel" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).