Heute in den Feuilletons

Öde Langeweile im Paradies

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2009. Etwas ist faul im Staatstheater, das sich von der Krise nicht berühren lässt, ruft der Tagesspiegel. Die Berliner Zeitung würdigt die verantwortungsvolle Tätigkeit der Landesmedienanstalten. Die Zeit mobilisiert ihre letzten Kräfte, um über das Zeitungssterben Auskunft zu geben. Die Verleger sollen sich nicht so haben, meint Blogger Markus Beckdahl: 13 Prozent Rendite können sich doch sehen lassen.

Tagesspiegel, 26.11.2009

"Etwas ist faul im Staatstheater!", ruft Rüdiger Schaper und benennt ein Missbehagen an den jüngsten Produktionen in Berlin: "Der Betrieb läuft rund - und er läuft leer. Kulturpolitisch mag es gefährlich sein, gerade jetzt Künstler und Kunst zu attackieren; in Wuppertal, in Oberhausen bangen Theater um ihre Existenz. Doch kann man die öde Langeweile im Paradies weder ertragen noch verschweigen. Es ist, als hätten sich unsere signifikanten Bühnen von der Realität abgekoppelt. Sie drohen ihre Erzählkraft zu verlieren. Sie haben ihre eigene Krise, die sich auch darin äußert, dass sie mit der Krise nichts zu tun haben."

Berliner Zeitung, 26.11.2009

Michael G. Meier würdigt die verantwortungsvolle Tätigkeit der zahlreichen Landesmedienanstalten in Deutschland, deren Jahresetat bei insgesamt 160 Millionen Euro liegt: "Entschieden wird neben wichtigen Fragen auch schon mal die Zulassung von Kleinst-Spartensendern wie 'Yacht-TV' oder 'Wein-TV'. Dann wird allen Ernstes auch schon mal die medienpolitische Unbedenklichkeit dieser Mini-Programme geprüft und ob einer dieser Sender eine marktbeherrschende Stellung einnehmen könnte."

Freitag, 26.11.2009

Der Fall der südafrikanischen Sportlerin Caster Semenya, die kein Mann und keine Frau ist und darum auch nicht als Frau laufen soll, führt die "kritische Geschlechtertheorie" in ein schweres Dilemma, schreibt Andrea Reodig: "Wenn sie die körperliche Differenz ernst nehmen will, ist der Widerspruch nicht lösbar. Im Sportsystem eine dritte Kategorie zwischen Mann und Frau einzuführen, verschöbe das Problem nur und wäre, da Intersex so oft nun nicht vorkommt, wenig praktikabel. Bleiben wir beim Entweder-Oder von zwei Geschlechtern, verfügt Semenya, hart formuliert, nicht über die körperlichen Voraussetzungen, am Wettbewerb teilzunehmen. Pech gehabt."

Außerdem: Magnus Klaue ist nicht zufrieden mit den Protesten der Studenten: "Sie fordern, was in wenigen Jahren ohnehin der Fall sein wird."

FR, 26.11.2009

Heute wird nun nach langen Querelen der Hessische Kulturpreis an die Interreligiösen Navid Kermani, Salomon Korn, Karl Kardinal Lehmann und Peter Steinacker verliehen, Joachim Frank und Christian Schlüter dröseln das ganze Hin und Her von Anerkennung und Aberkennung noch einmal auf. In Times mager sorgt sich Sylvia Staude um unsere Aufnahmekapazitäten. Auf der Medienseite unterhält sich Tilman Gangloff mit der Fernsehfil-Chefin des Bayerischen Rundfunks, Bettina Reitz, über Qualität, Quoten und Komprosmisse.

Besprochen werden die Hamburger Klangwerktage auf Kampnagel, Hans Van den Broecks Tanzstück "We Was Them", Kutlug Atamans Videoinstallationen aus Küba und Paradise im Museum Ludwig, die oscar-prämierte japanische Tragikomödie "Nokan - Die Kunst des Ausklang", der zweite Teil von Stephenie Meyers Vampir-Saga "Biss zu Mittagsstunde", der Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger und Henning Rischbieters Erinnerungen "Schreiben, Knappwurst, abends Gäste" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 26.11.2009

Der arg schuldenbelastete MGM-Filmkonzern steht mal wieder zum Verkauf, berichtet Hanns-Georg Rodek. Chefredakteur Thomas Schmid ist nicht zufrieden mit dem Vorschlag, den EU-Politiker Hans-Gerd Pöttering in der Konrad-Adenauer-Stiftung ein Gnadenbrot zu geben und schlägt dagegen mit Joachim Gauck eine glamourösere Person vor, die die Stidtung auch mal ins Gespräch bringen könnte. Michael Pilz gratuliert Tina Turner zum Siebzigsten. Elke Heidenreich wirbt im Gespräch mit Uwe Wittstock für eine von ihr edierte Buchreihe, in der es ausschließlich um Musik gehen wird. Alexander Kluy lotet die kulturellen Aspekte des "Jahrs der Naturfasern" aus.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Sport in der DDR in Leipzig und Filme, darunter der japanische, mit dem Auslandsoscar prämierten Film "Nokan - die Kunst des Abschieds" (mehr hier).

Auf der Forumsseite findet sich eine Rede Henryk Broders über Deutschland, die er auf einer Berliner Diskussionsveranstaltung hielt.

NZZ, 26.11.2009

Maria Becker empfiehlt im Feuilletonaufmacher eine Ausstellung über Giovanni Giacometti im Kunstmuseum Bern. Michael Mayer resümiert ein Berliner Symposion über "Musealisierung als Zivilisationsstrategie".

Besprochen werden des weiteren eine Ausstellung über Fellini in Paris, die Ausstellung "Karl der Kühne - Glanz und Untergang des letzten Herzogs von Burgund" in Wien und Bücher, darunter Patrick Hofmanns Roman "Die letzte Sau" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 26.11.2009

Markus Beckdahl von Netzpolitik ruft die Verleger in einem Beitrag für Carta zur Ordnung: "Verglichen mit den meisten Wirtschaftszweigen geht es den Medienhäusern in der sog. Wirtschaftskrise gut - nicht zuletzt Springer, die besonders laut tönen - 13 Prozent Rendite laut 3. Quartalsbericht sind kein Grund zum Weinen. Auf diesem Niveau zu jammern, ist eher unverschämt."
Stichwörter: Netzpolitik

TAZ, 26.11.2009

"Bollywood versteht Terrorismus nicht", kommentiert der indische Regisseur Prakash Jha auf den Tagesthemenseiten einen Film über die Anschläge auf Bombay vor einem Jahr. Und erklärt im Interview, warum der Terror Indien kaum in die Knie zwingen konnten. "Indien ist ein sehr tolerantes Land. Wir tolerieren Korruption, Armut, Hunger. Wir tolerieren die Ineffizienz unseres politischen Systems. Auch '26/11' war nicht groß genug, um uns zum Handeln zu zwingen."

Im Kulturteil beschreibt Tilman Baumgärtel das Nicht-Filmland Kambodscha, dessen bis 1975 durchaus blühende Filmindustrie sich vom "Steinzeitkommunismus" der Khmer Rouge, deren Terror sich dezidiert gegen das Moderne und gegen die Kultur richtete, nie erholte. Sabine Leucht berichtet über das Spielart-Festival München, das mit Theater aus Argentinien begann. Nina Apin resümiert das Symposium "Musealisierung als Zivilisationsstrategie" in der Temporären Kunsthalle Berlin, das der Wuppertaler Ästhetikprofessor Bazon Brock als "Trainingslager der Demokratie" begriff.

Besprochen werden der effektvolle Thriller "Die Tür" von Anno Saul, die DVD von Charlie Kaufmans Regiedebüt "Synecdoche, New York" und das Buch "System Error. Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt", in dem der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann strukturellen Schutz vor der Maßlosigkeit des großen Geldes fordert. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und Tom.

Zeit, 26.11.2009

In einem Dossier gehen Anita Blasberg und Götz Hamann der Frage nach, was nach diesem Jahr, in dem die Werbeerlöse um 20 Prozent gesunken sind, von der Presse übrig bleibt. Ihre Geschichte beginnt in Anklam, wo gerade in einer Stadtratssitzung der Bürgermeister nach Korruptionsvorwürfen rausgeworfen werden soll und der Reporter vom Nordkurier allein da sitzt: "Im Gemeindesaal ergreift der Fraktionschef der NPD das Wort: 'Ich erwarte lückenlose Aufklärung, meine Damen und Herren!' Ein junger tätowierter Parteifreund neben ihm nickt. Die NPD ist hier so stark wie die SPD. Die stärkste Fraktion aber ist eine Partei lokaler Unternehmer, die auch den Bürgermeister stellt. Das ist 17389 Anklam, ein Ort am äußersten Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns. Am Rande der Demokratie. Der Nordkurier aus dem Neubrandenburger Kurierverlag ist in Anklam die letzte unabhängige Nachrichtenquelle vor Ort. Die Konkurrenz, die Ostseezeitung, hat vor vier Jahren ihr Büro geschlossen - weil es dem Ostseezeitung-Verlag zu teuer wurde. Nur der Anklamer Bote ist auf Wachstumskurs. Inzwischen gibt es auch den Greifwalder Boten, den Boten für Usedom, den Stralsunder Boten. Wie der Anklamer Bote alles Gratisblätter einer NPD-nahen Initiative."

Im Feuilleton verabschiedet Ijoma Mangold den Suhrkamp Verlag, der für seinen Umzug von Frankfurt nach Berlin schon die Kisten packt: "Der Bruch mit der Vergangenheit könnte radikaler nicht sein. Für ein Haus von dieser Tradition und einer solchen soziokulturellen Verwurzelung kommen diese Veränderungen einer Neuerfindung gleich. Es hat etwas von Befreiungsschlag, von Tabula rasa. Als habe sich Ulla Berkewicz von allen Lasten der Geschichte lösen wollen, um in der Stadt einen Neustart hinzulegen, die sich am wenigsten um Herkunft kümmert."

Im Gespräch mit Gero van Randow erklärt der französische Philosoph und Kommunist Alain Badiou, warum er die Demokratie als Staatsform verabscheut: "Alle Staatsformen sind konservativ, dienen der Erhaltung der Staatsmacht, das gilt für Despotien nicht anders als für Demokratie. Der Wechsel zwischen Mehrheit und Minderheit, rechts und links verleiht der Demokratie nur mehr Geschmeidigkeit. Sie passt deshalb besser zum liberalen Kapitalismus als jede andere Staatsform und sichert ihn."

Weiteres: Adam Soboczynski geißelt die Bologna-Reformen, die den deutschen Studenten kaputt machen: "Das Bummeln war, modisch gesprochen, sein Alleinstellungsmerkmal." Katja Nicodemus plaudert in einem weiteren, unterhaltsamen Gespräch mit Regisseur John Waters. Zum Beispiel über seinen Film "Pink Flamingos", in dem der Transvestit Divine Hundescheiße frisst: "Die Szene hat mehr provoziert als jeder Hardcore Sex. Die Staatsanwälte drehten durch." Gerhard Jörder Besucht die beiden Intendanten Barbara Frey in Zürich und Lars-Ole Walburg in Hannover. Alexander Camman feiert den sechzigsten geburtstag der Literaturzeitschrift Sinn und Form. Gerhart Baum schreibt über den Film "Die Anwälte". Sven Behrisch war mit 250 Künstler zur Audienz in der Sixtinischen Kapelle. Hanno Rauterberg besucht die Ausstellung "Taswir - Islamische Bildwelten und Moderne" im Berliner Gropiusbau.

Außerdem gibt es heute eine Literaturbeilage. Im Aufmacher erklärt Alexander Cammann, warum die DDR-Literatur so viel besser war als die aus dem Westen. Recherchen der Zeit zum hundertsten Geburtstag ihrer einstigen Herausgeberin Marion Döhnhoff haben außerdem ergeben: Sie war eine Jahrhundertfrau.

FAZ, 26.11.2009

Joachim Müller-Jung hält den hysterischen Umgang der Öffentlichkeit mit der Schweinegrippe wie auch der Impfung für gefährlich und rät nüchtern, sich einfach impfen zu lassen. In der Glosse erregt sich Gerhard Stadelmaier sehr über die Theaterberichterstattung, die er in der 3sat-Sendung "Foyer" erleben musste. Andreas Kilb begutachtet die neue Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität. Andreas Rossmann informiert über - nicht zuletzt durch die Vereinheitlichungswünsche der EU entstehende - Probleme der Denkmalschutzorganisatoren. Joseph Croitoru liest in osteuropäischen Zeitschriften Aufsätze zur (Nicht-)Aufarbeitung der kommunistischen Ära nach 1989 in Rumänien und Polen. Gina Thomas schreibt zum Tod des Musikwissenschaftlers H. C. Robbins Landon. Auf der Kinoseite macht Andreas Kilb auf die Filmreihe "Kino der Geheimdienste" im Berliner Zeughaus aufmerksam. Hans-Jörg Rother berichtet vom Filmfestival in Cottbus (Website).

Besprochen werden Stephane Braunschweigs Inszenierungen von Ibsens "Rosmersholm" und "Nora" zu seinem Einstand in Paris, eine Marianne-Hoppe-Ausstellung im Deutschen Theatermuseum in München, ein Natalie-Merchant-Konzert in Berlin, neue CDs mit Vocalrecitals von Vivaldi bis Händel, der rasend erfolgreiche Kriegsspiel-Egoshooter "Call of Duty: Modern Warfare 2" (hier ein Trailer), Michael Glawoggers Verfilmung von Josef Haslingers Roman "Das Vaterspiel" und Bücher, darunter Philip K. Dicks Nicht-Science-Fiction-Roman "Unterwegs in einem kleinen Land" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 26.11.2009

Ein Jahr nach den Anschlägen in Mumbai hat der Schriftsteller Kiran Nagarkar die Nase voll von inkompetenten und korrupten Behörden: "Es wütet ein richtiger 'Bandenkrieg' innerhalb des Polizeiwesens von Mumbai. Loyalität gilt nicht der Truppe, sondern den einzelnen rivalisierenden Beamten, der eigenen Kaste und Gemeinschaft. (...) Wann werden die Inder damit aufhören, sich gegenüber der endlosen Schikanen, Manipulations- und Betrugsaffären ihrer Politiker tolerant zu zeigen. Wann war es das letzte Mal, dass ein für seine Korruptionsaffären berüchtigter Staatsmann, Polizeipräsident oder Hoher Beamter zur Rechenschaft gezogen wurde?"

Weitere Artikel: Der Supreme Court in Großbritannien ist aufgefordert zu überprüfen, wann es rassistisch sei zu sagen, jemand sei ein Jude bzw. kein Jude, berichtet Andreas Zielcke (hier ein Bericht aus dem Guardian von Ende Oktober). Der Hintergrund: Eine jüdisch-orthodoxe Schule wurde erfolgreich wegen "rassischer Diskriminierung" verklagt, weil einem Schüler die Aufnahme aus dem einen Grund verweigert wurde, dass er nicht von einer jüdischen Mutter abstamme. Alexander Menden schüttelt den Kopf über die Talentshow "School of Saatchi" der BBC, bei der angehende Künstler um ein Saatchi-Stipendium ringen. Gottfried Knapp meldet, dass der Internationale Rat für Denkmalpflege den vor dem Radikalumbau stehenden Stuttgarter Hauptbahnhof listigerweise in seiner noch existierenden Form zur Aufnahme in die Unesco-Welterbeliste vorschlägt. Von einem Berliner Vortrag Nikolaus Bachlers, des Intendanten der Bayerischen Staatsoper, berichtet Wolfgang Schreiber. Auf der Filmseite unterhält sich Frank Arnold mit dem Schauspieler Mads Mikkelsen über seine Rolle in Anno Sauls - daneben auch besprochenem - Horrorfilm "Die Tür". Auf der Medienseite schildert Hans Leyendecker noch einmal die längst in Skandalnähe gerückte Debatte um die höchst wahrscheinliche Nichtwiederwahl des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender.

Besprochen werden Rafael Sanchez' Theaterversion von Lubitschs "Sein oder Nichtsein" am Deutschen Theater in Berlin, die Ausstellung "Der deutsche Impressionismus" in Bielefeld, neue Filme, darunter Michael Glawoggers Haslinger-Verfilmung "Das Vaterspiel", der japanische Auslandsoscar-Gewinner "Nokan" und Sandra Nettelbecks in Hollywood entstandener Film "Helen" und Bücher, darunter Eyal Weizmans Studie "Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).