Heute in den Feuilletons

Die Subjektivitäten selbst werden subsumiert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2009. Laut Tagesspiegel fordert Bernd Neumann ein amerikanisches Gesetz gegen Google Books. In der Welt kritisiert Tariq Ramadan das Schweizer Minarettverbot, aber auch das schüchterne Auftreten der Schweizer Muslime. Die FAZ bringt eine Liebeserklärung an Peter Doherty, auch wenn er über das Deutschlandlied nicht richtig informiert war. Und die SZ scheint versuchten Mord an Juden schon viel weniger befremdlich zu finden, wenn er surrealistisch gemeint ist.

TAZ, 02.12.2009

Antonio Negri erklärt im Interview, warum die parlamentarische Linke versagt hat: "Weil diese Parteien die Veränderungen der Arbeit und die neuen Regime der Kommunikation nicht verstanden haben. Reichtum wird längst nicht mehr allein in der Fabrik produziert, sondern in den Universitäten, im Alltag, im Zusammenleben etc. Es ist nicht mehr nur die Arbeitskraft, die ausgebeutet wird, sondern die Kommunikation, die Kooperationen und die Subjektivitäten selbst werden subsumiert und ausgebeutet. Ausbeutung heute beruht darauf, sich selbst zum Subjekt der Ausbeutung zu machen."

Weiteres: Heute wird vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht über das Vergabeverfahren zum Berliner Stadtschloss verhandelt, berichtet Rolf Lautenschläger und skizziert die Folgen möglicher Entscheidungen. Besprochen werden Woody Allens Filmkomödie "Whatever Works" und ein Konzert der Techno-Rapper Deichkind in Berlin.

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 02.12.2009

Ein Vergleich reicht Kulturstaatsminister Bernd Neumann bei Google Books nicht aus - er fordert die amerikanische Regierung jetzt auf, ein Gesetz zu erlassen, um "eine demokratisch legitimierte Entscheidung" über die Digitalisierung von Büchern zu treffen, meldet der Tagesspiegel auf den Wirtschaftsseiten unter Bezug auf ein leider nicht online stehendes Interview im Handelsblatt. "Grundsätzlich begrüßte Neumann, dass das Gros der deutschsprachigen Bücher nun nicht digitalisiert werden dürften. 'Dennoch gibt es nicht wenige Werke, die beim amerikanischen Copyright-Register registriert und damit weiterhin betroffen sind', sagte er." (Und vielleicht könnte man Larry Page und Sergey Brin noch für fünfzig Jahre nach Alcatraz bringen?)

Im Kulturteil liest Christiane Peitz die Erinnerungen Michael Schindhelms an seine Kulturfunktionärszeit im Scheichtum Dubai, das seine Zukunft ja schon wieder hinter sich hat ("Zum Glück war Schindhelm so eitel, über sein Abenteuer als Luxusmigrant unter Luxusmigranten Tagebuch zu führen", schreibt Peitz).

Welt, 02.12.2009

Der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan will für das Minarettverbot nicht allein den Populismus verantwortlich machen: "Das Versagen ist ein größeres, ein Mangel an Courage, ein erschreckender und kleingeistiger Mangel an Vertrauen in die neuen muslimischen Mitbürger." Aber auch die Muslime selbst waren seiner Meinung nach zu zögerlich: "In der Schweiz haben sich die Muslime in den zurückliegenden Monaten bemüht, im Verborgenen zu bleiben, um eine Konfrontation zu vermeiden. Es wäre sinnvoller gewesen, neue Allianzen mit all jenen Schweizer Organisationen und Parteien zu schmieden, die gegen die Initiative waren. Die Muslime in der Schweiz tragen also einen Teil der Verantwortung, doch muss man hinzufügen, dass sich die politischen Parteien in Europa wie in der Schweiz haben einschüchtern lassen und vor einer couragierten Politik zugunsten eines religiösen und kulturellen Pluralismus zurückscheuen."

Weitere Artikel: Mit Grauen berichtet Michael Pilz vom Fund unveröffentlichter Falco-Aufnahmen, die am Freitag veröffentlicht werden sollen: "Klingt wie ein Witz auf Falcos Kosten. Man möchte es gar nicht anfassen." Peter Dittmar meldet nach Sichtung des World Wealth Report einen leichten Rückgang bei den "Investitionen in Leidenschaft" - Yachten, Jets und Schmuck; der Kunstmarkt bleibt aber weiter stabil. Hendrik Werner verzeichnet dagegen rückläufige Leidenschaft für das Web 2.0. mit seinen zum Teil recht bizarren Wucherungen. Gerhard Gnauck widmet sich den von den Nazis geraubten Kirchenglocken aus Polen.

Besprochen werden Katharina Thalbachs Inszeneriung des "Barbier von Sevilla" an der Deutschen Oper in Berlin und die Ausstellung "Kosher und Co" im Jüdischen Museum Berlin.

FR, 02.12.2009

Über die Schweizer Minarettentscheidung muss man sich nicht wundern. "Denn die Schweiz befindet sich seit über einem halben Jahrhundert in einer Art vertracktem Kulturkampf mit allen möglichen Ausländern", meint der Schriftsteller Martin R. Dean. Nicht nur mit Muslimen, sondern auch mit Italienern oder Deutschen. Anders sei Schweizer Identität schwer festzulegen. "Die Liste der Verdächtigungen, mit denen die Ausländergruppen im Laufe der Jahrzehnte belegt wurde, versammelt so ziemlich alle Eigenschaften, die hierzulande als 'unschweizerisch' gelten. Ein Problem mag darin liegen, dass die positive Auflistung urschweizerischer Eigenschaften in Krisenzeiten zwar dringend nötig wäre, aber übers Klischees hinaus nicht mehr zu haben ist. Die Schweiz ist längst normaler, als es ihre Landes-Verteidiger glauben wollen. Und hat damit ihren Sonderstatus und ihre Vorbildfunktion in Europa eingebüßt."

Abgedruckt ist eine Erklärung des iranischen Schriftstellerverbandes, der "die täglich brutaler werdenden und besorgniserregenden physischen Übergriffe, die Festnahmen, Inhaftierungen, Folterungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen" im Iran "auf das Schärfste" verurteilt.

Weitere Artikel: Peter Michalzik besucht das Impulse-Festival des Freien Theaters. In Times Mager erzählt Natalie Soondrum eine Geschichte über das Zurückschlagen mit den Waffen des anderen. Auf der Medienseite berichtet Daniel Bouhs über die sechs! Digitalkanäle der Öffentlich-Rechtlichen. (Alle Kanäle findet man hier aufgelistet.) Und Gerd Höhler meldet, dass der Türkei wegen der Sperrung zahlreicher Internetseiten ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg droht.

Besprochen werden Woody Allens Film "Whatever works" ("altersmildes 'My Fair Lady' ohne Gesang", meint Katja Lüthges recht gerührt) und Katharina Thalbachs Inszenierung von Rossinis "Barbier von Sevilla" an der Deutschen Oper Berlin ("nur Nonsense", ärgert sich Jürgen Otten).

NZZ, 02.12.2009

"Jede Zeit hat den Horror, den sie verdient", schließt Andrea Köhler ihre Kulturgeschichte des Vampir-Mythos: "Die jüngsten Vampire sehen aus wie die Fashion-Models in den Männerparfum-Reklamen." Andrea Eschbach besucht das Westschweizer Design-Kollektiv Atelier Oi in ihrem neuen Domizil in La Neuveville am Bielersee. Peter Hagmann trifft den Intendanten der Komischen Oper Andreas Homoki, der demnächst an das Opernhaus Zürich wechseln wird. Ilma Rakusa schreibt zum Tod des serbischen Schriftstellers Milorad Pavic.

Besprochen werden drei neue Abraham-Lincoln-Biografien und Kinderbücher, darunter Siobhan Dowds Roman "Anfang und Ende allen Kummers ist dieser Ort" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 02.12.2009

Willi Winkler möchte dem "Großkasperl" Dieter Kunzelmann, über den jetzt eine wissenschaftliche Biografie vorliegt, seine Sympathie nicht versagen. Zwar hätte die "im Auftrag Kunzelmanns" zum 9. November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus von Berlin platzierte Bombe viele Tote produzieren können. "Dass Kunzelmanns Untat antisemitisch war, wird heute nicht einmal er selber bestreiten. 1969 mag es für ihn der ultimative surrealistische Akt gewesen sein, die Berliner Gedenkfeier in ihrem selbstzufriedenen Philosemitismus zu erschüttern. So grauenhaft und wenig verzeihlich das ist, so wenig sollte einem die Zerstörungslust fremd sein, die der Avantgarde seit je zugehört. Die Avantgarde war nie nett zu ihrem Publikum."

Eine ganze Seite ist dem Schweizer Minarettverbott gewidmet: "Die plötzlich so offensichtliche Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz trägt fundamentalistische Züge", meint Thomas Steinfeld. Es geht nicht um Bauten, aber die Bauten machen es sichtbar, schreibt Gerhard Matzig in einem zweiten Artikel zum Thema. Kai Strittmatter schildert den problematischen Umgang der Türken mit ihrer christlichen Minderheit - aber auf das Schweizer Minarettverbot sei auffällig differenziert reagiert worden. Und Stephan Speicher unterhält sich mit dem Staatsrechtler Sebastian Heselhaus über die verfassungsrechtlichen Aspekte der Entscheidung.

Außerdem meldet Gottfried Knapp, dass Potsdam auf Anraten der Unesco eine Schutzzone für sein Weltkulturerbe einrichten soll. Und Johannes Boie berichtet, dass Cormac McCarthy die Schreibmaschine, auf der er die meisten seiner Romane geschreiben hat, versteigert.

Auf der Medienseite zeigt Christopher Keil am Beispiel von N 24 "wie Finanzinvestoren Medienbetriebe von gesellschaftlicher Verantwortung abkoppeln": "Finanzinvestoren kaufen und verkaufen. Der Verkaufspreis sollte höher als der Einkaufspreis sein, zwischendurch, in einem Prozess, der selten länger als drei Jahre dauert, werden Kosten reduziert und Gewinne gesteigert."

Besprochen werden Woody Allens neuer Film "Whatever Works" mit Larry David (Allens Spätwerk stelle die Frage, "ob man nicht auch ein fröhliches Gemenge von Künstlichkeit, Pappkameraden und Plattitüden zu einer neuen, alternativen Form der Wahrheit verdichten kann", schreibt Tobias Kniebe), ein Auftritt des traditionellen Suzhou Kunqu Ensemble aus China in München und Alvis Hermanis' Dramatisierung zweier Erzählungen Isaac B. Singers, ebenfalls in München.

FAZ, 02.12.2009

In Köln hat Eric Pfeil einen Pete Doherty erlebt, der zwar nicht wie in München die erste Strophe des Deutschlandlieds sang, dafür aber sein absolutes Ausnahmetalent unter Beweis stellte: "Doherty geht in die Ecken und verborgenen Nischen dieser Lieder und stöbert nach kleinen Melodien, nach Bassläufen, nach Riffs, nach verborgenen Reizen; sein Publikum ergänzt die Versionen mit lautem Gesang zur Hymne... Er könnte diese akkordreichen, wilden, hemmungslos mäandernden, aber stets Pathos und Massenumarmung suchenden Lieder, in denen Motive von The Clash, den Beatles und den Smiths durcheinanderpoltern, auch rotzbesoffen intonieren - sie blieben immer noch größer als alles andere, was Dohertys Epigonen und der Großteil der britischen Independent-Musiker im vergangenen Jahrzehnt abgeliefert haben."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus war dabei, als von der Deutschen Bank ihres ehemaligen Vorsitzenden Alfred Herrhausen zu dessen zwanzigstem Todestag mehr oder weniger gedacht wurde. In der Glosse hat Dirk Schümer Neuigkeiten aus Venedig, das wegen sinkender Einwohnerzahl von der Stadt zur Gemeinde degradiert zu werden droht. Kerstin Holm hat das Musikfestival "Moskauer Herbst" besucht. Hannes Hintermeier berichtet, wie sich das hessische Bad Vilbel mit einer Mediathek auf der Brücke eine neue Mitte geben will.

Besprochen werden die Erfurter Aufführung von Jeffrey Chings Oper "Das Waisenkind", die Ausstellung "Georges Seurat, Figur im Raum" im Kunsthaus Zürich, Woody Allens neuer Film "Whatever Works" und Bücher, darunter Christoph Antweiler ethnologische Studie "Heimat Mensch. Was uns alle verbindet" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).