Heute in den Feuilletons

Vom Text des Korans besessen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2009. Das Stadtschloss kann gebaut werden. Die Welt ist froh, denn der Entwurf ist gut. Arianna Huffington attackiert in einer langen Rede Rupert Murdoch. Wie macht man aus Buchstabensuppe eine Deutsche Digitale Bibliothek?, fragt die SZ. In der NZZ fragt Hamed Abdel-Samad, warum der Islam nicht zur Moderne findet. Die Zeit rettet die Welt, wird aber ganz grün dabei.

Welt, 03.12.2009

Nun kann das Stadtschloss also gebaut werden. Rainer Haubrich ist froh, dass das Oberlandesgericht Düsseldorf den Weg zur Realisierung von Franco Stellas Entwurf freigemacht hat. Die Debatten um den Entwurf fand er ohnehin unfair: "Dabei war in den Hintergrund gerückt, dass es sich bei Franco Stella um einen Wettbewerbssieger handelt, den die pluralistisch zusammengesetzte Jury aufgrund seines anonymen Entwurfs mit dem ersten Preis ausgezeichnet hatte - mit deutlichem Abstand zu den Nächstplatzierten. Es war in der Tat ein starker Entwurf, dem selbst Gegner des Wiederaufbaus Qualitäten zuerkannten."

Elisalex Henkel unterhält sich mit der Schweizer Feministin Julia Onken, die für das Minarettverbot gestimmt hat: "Das Minarett ist ein politisches Symbol für eine Rechtsordnung, in der Frauenrechte nicht vorkommen, und somit ein Zeichen für staatliche Akzeptanz der Unterdrückung der Frau."

Weitere Artikel: Uta Baier ruft die österreichische Künstlerin Elke Krystufek zur Einkehr auf - sie hat einen Ausstellung in der Hannoverschen Kestnergesellschaft abgesagt, weil sie eine totale Kontrolle über die Katalogtexte wollte.

Besprochen werden die Ausstellung "Wandel der Arbeitswelt" nach 1945 und Filme, darunter Woody Allens "Whatever Works".

Im Forum wendet sich der Meteorologe Hans von Storch kurz vor dem Kopenhagener Klimagipfel sowohl gegen Klima-Alarmisten als auch gegen Skeptiker: "In gewisser Weise sind beide Gruppen, die Alarmisten und die Skeptiker, geistesverwandt. Sie haben beide eine festgelegte Weltsicht, und sie haben beide keine Hemmungen, Wissenschaft als Handlanger einer 'guten Politik' zu instrumentalisieren. Beide Gruppen beschädigen die Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Einrichtung 'Wissenschaft', und beide beschädigen den demokratischen Willensbildungsprozess."

Perlentaucher, 03.12.2009

Thierry Chervel wendet sich gegen Willi Winklers versuchte halbe Ehrenrettung Dieter Kunzelmanns in der gestrigen SZ - trotz des gescheiterten Bombenanschlags im jüdischen Gemeindehaus von Berlin am 9. November 1969, als dessen Anstifter Kunzelmann gilt: "'Dass Kunzelmanns Untat antisemitisch war', will Winkler wie gesagt gar nicht bestreiten. Es ist ihm nur nicht so wichtig. Winkler scheint in der Tat einen fehlgeleiteten Akt mit an sich richtiger Intention zu sehen. Er ordnet sie in eine Tradition des Surrealismus und Situationismus ein, deren Legitimität für ihn bis heute nicht in Zweifel steht."

NZZ, 03.12.2009

Der in München lehrende Historiker Hamed Abdel-Samad, auch Autor des Buchs "Mein Abschied vom Himmel", geht der Frage nach, wieso der Islam nicht zur Moderne findet: "Die Unantastbarkeit der Religion stand den Reformern immer im Weg und ließ ihre Bemühungen im Sande verlaufen. Kommt hinzu, dass sie wie die religiösen Fundamentalisten selbst vom Text des Korans besessen sind. Während die Terroristen darin Rechtfertigung für Gewalt suchen und finden, stöbern Liberale nach friedfertigen Passagen, die das Zusammenleben ermöglichen. Beide stärken damit die Autorität eines Buches, das für die Bedürfnisse einer vormodernen Gemeinde im 7. Jahrhundert entstanden war und im 21. Jahrhundert historisiert gehört. Den Reformern fehlen die letzte Konsequenz und der Mut, dafür zu plädieren, den Koran politisch zu neutralisieren und aus dem politischen Diskurs zu verbannen."

Besprochen werden Andrea Arnolds Milieustudie "Fish Tank", eine Retrospektive zu Tim Burton in New York, Ferdinand Bruckners Drama "Krankheit der Jugend" in London, die Veranstaltungsreihe "Zukunft und Risiko" in Zürich und Radka Denemarkovas Roman "Ein herrlicher Flecken Erde" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 03.12.2009

Arianna Huffington hat eine lange Rede über die Zukunft des Journalismus (mal wieder!) gehalten. Sie demontiert Rupbert Murdochs Idee, Google von seinen Inhalten auszuschließen - und malt eine Welt aus, in der man nicht zitieren darf: "Thinking that removing your content from Google will somehow keep it 'exclusive' shows a fundamental lack of understanding of the web and how it works. As an experiment, google the key terms from any interesting story currently kept behind a paywall, on the Wall Street Journal, for instance. And imagine no News Corp. source being included in the search results. You'd still get dozens and dozens of links to other sources -- including many of the biggest news sites -- writing about the story, riffing on it, quoting from it, and commenting on the key facts in it. So what are you going to do, try to make the case that no one should be able to talk about or write about or comment on or report on the stories you make them pay for? It's a ridiculous notion."

TAZ, 03.12.2009

Cristina Nord unterhält sich mit der Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan über die filmische Erinnerung an den Holocaust, das Thema eines heute beginnenden Symposiums an der Berliner Humboldt-Universität. Unter anderem geht es auch um die Frage der Legitimität von Filmen wie "Inglourious Basterds" oder "Schindlers Liste". Dardan findet es "wichtig, die Tat und den Täter zu zeigen. Aber auch diese Bilder vermitteln nicht die Tatsachenwirklichkeit des Holocaust. Der Holocaust hat keine Narration. Es ist eine Vernichtung. Alles, was wir narrativ darüber stülpen, ist eine Vereinfachung. Andererseits: Das macht nichts. Wir können den Gegenstand in seiner Komplexität nicht greifen. Die Filme vereinfachen, aber sie geben uns wenigstens die Möglichkeit, in Ansätzen zu verstehen."

Isolde Charim sieht sich nach dem Schweizer Volksentscheid als aufgeklärte Demokratin man wieder einmal zwischen den Stühlen sitzen: "Angesichts der Irrationalität des Fremdenhasses muss man die Religion, deren Irrationalität man früher bekämpft hatte, nunmehr verteidigen. Wo ist da noch eine durchsetzungsfähige Instanz der Vernunft?"

Weiteres: Andre Bosse porträtiert Steve Beckett und sein vor zwanzig Jahren gegründeten Londoner Label Warp. Und auf den Tagesthemenseiten beklagt Steffen Grimberg schlechte Zeiten für gute Chefredakteure: Der WAZ-Konzern hat Sergej Lochthofen, Chefredakteur der ersten ostdeutschen Reformzeitung Thüringer Allgemeine, geschasst.

Besprochen werden John Waters' Komödie "Hairspray", die am Wochenende als Musical in Köln anläuft, und Sergey Dvortsevoys Spielfilm "Tulpan", der in der kasachischen Steppe spielt .

Und Tom.

Freitag, 03.12.2009

In einem Schwerpunkt zu den Öffentlich-Rechtlichen reitet Walter van Rossum eine Attacke gegen die Tagesschau: "Wer sich die Qual antut, einige hundert Ausgaben etwa der Tagesschau anzusehen, ringt bald mit Lähmungserscheinungen. Hundertfach sehen wir ihren Karossen entsteigende Politiker, gestelltes Händeschütteln, durch und durch vorhersehbare Ansprachen von mobilen Kanzeln aller Art und Experten, die vor Bücherregalen nachdenklich in Schriften blättern. Die Tagesschau stellt das Reale still, friert sie in Ereignissen ein, in denen die Wirklichkeit Audienz gewährt. Sendungen wie die Tagesschau sorgen dafür, dass die Welt so aussieht, als schließe sie unmittelbar an die Tagesschau von gestern an und als sei dies der tiefste Sinn des Laufs der Dinge. In Wahrheit ist die Welt wild, widersprüchlich, durchgeknallt und eben auch hinreißend."

Im Interview mit Julian Heißler macht sich der Journalistik-Professor Siegfried Weischenberg für Stiftungsmodelle zur Rettung des Journalismus stark: "So könnte man möglichst staatsfern, aber gesellschaftlich kontrolliert gesellschaftlichen Willen organisieren... Vielleicht muss man einen ähnlichen Ansatz für öffentlich-rechtliche Sender wählen. Die aktuelle Entwicklung zeigt ja, dass der Markt Medienvielfalt und Unabhängigkeit nicht sicherstellen kann - und der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann es offenbar auch nicht. Deshalb müssen wir über dritte Lösungen nachdenken, die natürlich auch immer schwierig sind."

Zeit, 03.12.2009

Die Zeit kommt heute in nordkoreanischer Anmutung daher: Wie ABC-Schützen haben sich beseelt in die Zukunft blickende RedakteuerInnen vor gemüsebunter Kulisse für die Seite Eins aufstellen lassen, um eine grüne Kampagne zu starten: "Ab heute retten wir die Welt". Man weiß gar nicht, wo man hingucken soll.

Im Feuilleton malt sich die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood eine Zukunft ohne Öl aus. Und der Klimawandelforscher Harald Welzer bekennt sein fetischistisches Verhältnis zu Autos.

Weitere Themen: Hanno Rauterberg beklagt die Finanznot der Hamburger Museen. Vorabgedruckt wird der demnächst erscheinende Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard ("Ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gehabt haben"). Alexander Cammann geht noch einmal auf die Angelegenheit Jakob Augstein ein, der sich als Sohn Martin Walsers geoutet hat, und wälzt sie einfach platt. Frank Sawatzki porträtiert den Fotokünstler Devendra Banhart.

Besprochen werden eine David-Lynch-Ausstellung im Max Ernst Museum in Brühl, Sergey Dvortsevoys kasachischer Film "Tulpan" und Bücher, darunter Al Gores neues Klimabuch "Wir haben die Wahl", David Peace' Krimi "Tokio im Jahr Null" und Maxim Billers "Der gebrauchte Jude" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 03.12.2009

Ziviler Ungehorsam ist auch beim Klimagipfel in Kopenhagen Pflicht für Globalisierungsgegner. Aber diesmal sollen auch konkrete Lösungen vorgeschlagen werden, erklärt Naomi Klein in einem aus The Nation übernommenen Artikel: "Einige der Lösungsansätze, die aus dem Lager der Aktivisten kommen, sind dieselben, die seit Jahren auf der Agenda der Globalisierungsgegner stehen: lokale, nachhaltige Landwirtschaft; kleinere, dezentralisierte Energieprojekte; Respektierung der Landrechte der Einheimischen; Belassung der fossilen Brennstoffe im Boden; Lockerung des geistigen Urheberrechtes für Umwelttechnologie; die Finanzierung dieser Maßnahmen durch Besteuerung von Geldgeschäften und Erlassung von Auslandsschulden. Einige Lösungen sind auch neu, wie die verstärkt auftretende Forderung, dass reiche Länder den ärmeren eine Entschädigung für ihre 'Klimaschulden' zahlen sollen. Das ist viel verlangt, aber wir haben ja gesehen, wozu unsere Regierungen in der Lage sind, wenn es darum geht, die Elite vor dem Ruin zu retten."

Weitere Artikel: Christian Thomas denkt über die Bedeutung des Minaretts nach und hätte dazu gern eine Umfrage unter deutschen Muslimen. Außerdem kommentiert er in Times mager das Urteil des Düsseldorfer Oberlandesgerichts zum Berliner Stadtschloss. Judith von Sternburg berichtet kurz über die Frankfurter Poetikvorlesung von Durs Grünbein. Tobi Müller annonciert ein Konzert von Musee Mecanique in und Laura Gibson in Frankfurter. Auf der Medienseite fürchtet Ulrike Simon nach der Absetzung des Chefredakteurs Sergej Lochthofen um die journalistische Unabhängigkeit der Thüringer Allgemeinen.

Besprochen werden zwei Baseler Ausstellungen: zu den Werken von Jenny Holzer in der Fondation Beyeler und zu Robert Rauschenberg im Museum Tinguely, Sergei Dvortsevoys Film "Tulpan", der Dokumentarfilm über NS-Mediziner "Wenn Ärzte töten", Michael Quasts Version von Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" in Frankfurt, ein Auftritt der Batsheva Dance Company mit einer Choreografie von Ohad Naharin in Frankfurt und Jakob Arjounis Roman "Der heilige Eddy" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 03.12.2009

Was das Urteil des Düsseldorfer Oberlandesgerichts für den Berliner Schlossbau und den Architekten Franco Stella bedeutet, erläutert Andreas Kilb. Patrick Bahners war im Publikum, als der Dichter Durs Grünbein an der Frankfurter Uni zur Poetikvorlesung antrat. In der Glosse stellt Michael Martens fest, dass die Türkei noch lange nicht das "demokratische Niveau" erreicht hat, auf dem sie Fehler wie die gegen Minarette stimmende Schweiz begehen kann. Von einer Tagung über die Folgen (bzw. die Folgenlosigkeit) der Finanzkrise berichtet Gerd Roellecke. Hubert Spiegel setzt die Berichterstattung vom Demjanjuk-Prozess fort. Mark Siemons stellt die Rangliste der reichsten chinesischen Schriftsteller vor. Michael Martens schreibt zum Tod des serbischen Autors Milorad Pavic. Auf der Medienseite findet der Vorsitzende der Landesmedienanstalten Thomas Langheinrich, dass auch die Privatsender in der Pflicht stehen, "publizistischen Mehrwert" zu erbringen.

Besprochen werden die Aufführung von Christoph Willibald Glucks "Iphigenie en Aulide" und "Iphigenie en Tauride" an einem Abend in Brüssel, Alvis Hermanis' Inszenierung von Theaterfassungen der Isaac-B.-Singer-Erzählungen "Späte Nachbarn" und "Seance" an den Münchner Kammerspielen, die Karl-Wilhelm-Diefenbach-Ausstellung in der Münchner Villa Stuck, Julian Rosefeldts in Bonn zu sehende neue Videoarbeit "American Night", die fünf bei Bear Family erschienenen CDs "Sweet Soul Music 1966-1970" und Bücher, darunter Jürg Amanns Roman "Die kalabrische Hochzeit" und die deutsche Kurzfassung von Lucien Brauns Werk "Bilder der Philosophie" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 03.12.2009

Alex Rühle ist mit dem walisischen Krimiautor Matt Beynon Rees in Bethlehem unterwegs, wo auch seine Krimis spielen. Die beiden stehen vor einem Gebäude, in dem früher der Griechisch-Orthodoxe Club ansässig war, ein Restaurant, das von einem palästinensischen Christen geführt wurde. "In und vor diesem Gebäude hat alles begonnen, im doppelten Sinne. Hier in der Nähe sah Rees während der Intifada, wie die muslimischen 'Märtyrerbrigaden' nachts auf die Häuser der Christen stiegen, um von dort aus so lange in Richtung Jerusalem zu schießen, bis die Israelis das Feuer erwiderten. Die Brigaden zogen ab und ließen die Israelis für sich die Drecksarbeit machen: aufräumen mit den unliebsamen Christen. Und in diesem Gebäude beginnt auch 'Der Verräter von Bethlehem', Rees' erster Krimi um den Geschichtslehrer Omar Jussuf, der hier an einem Winterabend einen seiner Lieblingsschüler zum Essen trifft."

Weitere Artikel: Klaus Kreiser erläutert aus historischer Sicht, warum nicht unbedingt ein Minarett an eine Moschee gehört. Ein vernichtendes Urteil zu Theorie wie Praxis der Bologna-Reformen fällt der Organisationssoziologe Stefan Kühl. Gottfried Knapp kommentiert das Gerichtsurteil, das trotz juristischer Vorbehalte nach Vertragsnachbesserung den Berliner Schlossbau erlaubt. Johan Schloemann gratuliert dem Gräzisten Hellmuth Flaschar zum Achtzigsten. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Filmforschers Günter Peter Straschek.

Besprochen werden David Böschs Inszenierung von Donizettis "L'elisir d'amore" in München, Jette Steckels "Othello"-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin, neu anlaufende Filme, darunter Sergei Dvortseyevs Spielfilmdebüt "Tulpan" (mehr) und Bela Tarrs Simenon-Verfilmung "The Man From London" (mehr), die DVD-Veröffentlichung von Jean-Luc Godards "Histoire(s) du Cinema" und Bücher, darunter eine Neuausgabe von Joseph Breitbachs "Bericht über Bruno" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Online kommentiert Bernd Graff die von Bernd Neumann annoncierte "Digitale Bibliothek", in der deutsche Bibliotheksbestände vernetzt werden sollen - ein Gegenprojekt zu Google Books: "Vorgesehen ist nun, dass die Bibliothek nun digitale Kopien von Büchern, Bildern, Archivalien, Skulpturen, Noten, Musik und Filmen herstellt und öffentlich zur Verfügung stellt. Angesichts des oft mühsamen föderalistischen Miteinanders von Bund, Ländern und Kommunen ist dies eine Aufgabe, die ähnlich herkulisch ausfallen dürfte wie die, aus Buchstabensuppe eine Enzyklopädie zusammenzustellen." Darum will man auch erst 2011 damit anfangen!