Heute in den Feuilletons

Lügen wie aus früheren Zeiten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2009. Im Freitag äußert sich Claude Lanzmann bestürzt über das Desinteresse  an antisemitischen Ausschreitungen gegen seinen Film "Warum Israel". Im Tagesspiegel spricht sich der ehemalige DLR-Intendant Ernst Elitz für eine Haushaltsgebühr statt GEZ aus. In der Zeit befasst sich Jürgen Habermas mit Michael Tomasellos "Ursprüngen der menschlichen Kommunikation". In der FR wird Nicholson Baker vor lauter Google ganz blümerant. FAZ und SZ berichten von einer Diskussion rumäniendeutscher Autoren über die Securitate - einer outete sich als Spitzel.

Freitag, 10.12.2009

Claude Lanzmanns Film "Warum Israel" konnte vor einigen Wochen wegen eines antisemitischen Aufmarschs von Hamburger Autonomen nicht gespielt werden - der Fall wurde anfangs kaum beachtet. Im Interview mit Max Dax äußert sich der Regisseur schockiert - besonders über das Desinteresse der Medien: "Besucher des Films wurden von angeblichen Linken als 'Schweinejuden' und 'Nazis' beschimpft - es ist ebenso grotesk wie absurd! Mich aber beunruhigt die Reaktion der Medien. Es darf nicht passieren, dass sich die Deutschen wieder wie Aristokraten aufspielen und naserümpfend sagen: Die sind nicht von uns, das sind linksextremistische Spinner... Dabei ist das Gegenteil der Fall: Nichts ist unwichtig. Auch Hitler ist man damals mit einer solchen aristokratischen Hochnäsigkeit begegnet."

Im "Wochenthema" bietet der Kölner Politologe Christoph Butterwegge eine revolutionäre Erklärung für das westliche Problem mit dem Islam: "Die globale Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise dürfte in nächster Zeit zu größeren sozialen Verwerfungen führen. Für eine Jagd nach Sündenböcken bieten sich die Muslime geradezu an." Butterwegge möchte die Bedenken der Bevölkerung aber auch ernst nehmen: Es gibt Vorbehalte gegenüber Muslimen im Hinblick auf die Unterdrückung der Frau." Im gleichen Dossier unterhält Eren Güvercin mit dem Forscher Jonathan Bloom über die Kulturgeschichte des Minaretts. Und die Bloggerin Katharina Körting fürchtet, eine Rechte zu sein, da sie Vorbehalte gegen den Islam hat.

FR, 10.12.2009

Zwiespältig wie wir alle schreibt Nicholson Baker über Google. Er hat viel gelernt über den Konzern in Ken Aulettas Buch "Googled - The End of the World as We Know it". Baker ist begeistert über die Explosion an Innovationen, die der Konzern über uns zündet, und verzagt am Ende doch: "Vielleicht wird hier zu viel auf einem Gelände produziert; vielleicht werden die Leute es bald leid, dass überall 'Google' draufsteht. Googles berühmter Slogan 'Don't be evil' klingt mehr und mehr wie eine düstere Prophezeiung." (Hier eine New York Times-Diskussion mit Auletta, und hier Bakers Originalartikel, ebenfalls aus der NY Times.)

Weitere Artikel: Arno Widmann sinniert in Times mager über den Unterschied zwischen Entdecken und Wissen und wünscht sich am Ende ein Tänzchen mit Herta Müller in Stockholm. Markus Schwering berichtet von der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an den Kommunitaristen Amitai Etzioni. Auf der Medienseite berichtet Daniel Bouhs, dass der Springer Verlag seine Hoffnungen in zahlbare Apps fürs Iphone setzt.

Besprochen werden der Disney-Zeichentrickfilm (jawohl) "Küss den Frosch", Ruben Fleischers Film "Zombieland" und Joe Wrights Film "Der Solist" mit Jamie Foxx.

Welt, 10.12.2009

Manuel Brug resümiert noch einmal das versuchte "Massaker" am DSO: es sei von Bernd Neumann, Klaus Wowereit und Willi Steul gleichermaßen gewollt worden - auch RSB-Dirigent Janowski saß "mit im Intrigenboot" - nur die "schmutzigen Hände, die hat sich jetzt der in dieser Hinsicht diskredietierte Steul geholt". Alle anderen konnten rechtzeitig einen Rückzieher machen.

Weitere Artikel: Der Historiker und Birthler-Mitarbeiter Georg Herbstritt erzählt, wie Herta Müller vom MfS bespitzelt wurde. 2009 war ein Erfolgsjahr für das Goethe-Institut, meldet Eckhard Fuhr.

Besprochen werden die Ausstellung "Ex oriente lux" im Oldenburger Landesmuseum Natur und Mensch, Alvis Hernanis Inszenierung zweier Erzählungen von Isaac B. Singer in München und einige Filme, darunter der Disney-Film "Küss den Frosch" (den Ronald Bluhm als Screwball-Romanze mit "schwungvollen Gesangseinlagen" lobt) und Sven Taddickens Störtebeker-Film "12 Meter ohne Kopf".

Die Forumsseite veröffentlicht einen Auszug aus Andrea Nahles' Buch "Frau, gläubig, links": Nahles wünscht nicht, dass der Staat immer stärker ihren Alltag reglementiert: zum Beispiel durch immer ausuferndere Anti-Rauchergesetze oder aufdringliche Warnungen vor den Gefahren fetter Margarine. "Paradox ist diese Entwicklung vor allem deshalb, weil die Regelungswut des Staates in Kleinigkeiten einem ungeheuren Machtverlust des Nationalstaats in den großen Fragen gegenübersteht: Je weniger Einfluss der Staat etwa auf die Gestaltung globaler Wirtschaftsprozesse hat, desto emsiger regelt er das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger."

Tagesspiegel, 10.12.2009

Im Interview mit Joachim Huber spricht sich der ehemalige Intendant des Deutschlandradios, Ernst Elitz, für eine Haushaltsgebühr statt der bisherigen GEZ-Gebühr aus: "Es gibt zwar noch eine Minderheit, die weder Handy noch PC hat. Aber wer die neue Kommunikationstechnik im Haus hat, wird damit auch Radio- und Fernsehprogramme, deren Internetangebote und die Portale der Zeitungen nutzen, also das volle Programm." (Nun ist also nur noch die Frage, nach welchem Schlüssel Zeitungen und Internetmedien an den Gebühren beteiligt werden!)
Stichwörter: GEZ, Internetmedien, Zeitungen

Zeit, 10.12.2009

Im Aufmacher annonciert Jürgen Habermas, oberste Autorität in Sachen Kommunikation, ein offenbar bahnbrechendes Buch des Evolutionsanthropologen Michael Tomasello über "Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation". Tomasello weist nach, wie Habermas sich bemüht uns zu erklären, dass Kleinkinder mit Gesten nicht nur Aufmerksamkeit erregen wollen, sondern sie auch zur sozialen Interaktion einsetzen: "Hingegen scheinen Schimpansen nicht aus den Schranken ihrer selbstbezogenen, von jeweils eigenen Interessen gesteuerten Sicht ausbrechen zu können. Sie sind zwar außergewöhnlich intelligent und können intentional handeln... Aber sie können keine interpersonale Beziehung mit einem anderen eingehen. Aus sozialpragmatischer Sicht besteht die entscheidende evolutionäre Errungenschaft in der komplexen Fähigkeit, sich auf einen Artgenossen so einzustellen, dass beide in der gestenvermittelten Bezugnahme auf objektive Gegebenheiten dieselben Ziele verfolgen, also kooperieren können."

Der Dichter Durs Grünbein versucht zu ergründen, woher die provokative Kraft des Bildhauers Markus Lüpertz rührt, dem die Bonner Bundeskunsthalle gerade eine Retropektive widmet. Grünbein glaubt an eine tief sitzende Triebhemmung beim Publikum: "Hat es damit zu tun, dass seine Skulpturen alle etwas von großen Schwestern haben? Es sind Wesen, deren größte Schwäche ihre Fruchtbarkeit ist, ein Lebensüberschuss, der etwas aufreizend Hingebendes und Gewaltanziehendes hat. Kein Mucks gegen das Stahlskelett in der Fußgängerzone, aber verbitterte Proteste auf dem Marktplatz von Augsburg gegen die mollige Außerirdische."

Weiteres: Auf zwei Seiten geht es um Märchen, ihr revolutionäres Potenzial und ihre meist französische Herkunft: Anlass für den Text ist Wilhelm Grimms 150. Todestag. In der Reihe "Klassenkampf von oben" verteidigt heute der Soziologe Hauke Brunkhorst das Gleichheitsprinzip. Thomas Assheuer berichtet vom Kongress zur Gesellschaftstheorie. Hanno Rauterberg schreibt den Nachruf auf den Bildhauer Alfred Hrdlicka.

Besprochen werden James Camerons 3D-SciFi-Autorenfilm "Avatar" ("Es ist, als hätte Cameron die Schöpfungsgeschichte noch einmal auf LSD geschrieben", frohlockt Katja Nicodemus), die Mailänder "Carmen" und Bücher, darunter der abschließende Band von Richard Evans' Großwerk über "Das Dritte Reich", Dieter Wellershoff Roman "Der Himmel ist kein Ort" und eine Neuübersetzung von Tolstois "Anna Karenina" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 10.12.2009

(Via BoingBoing) Gestern konnte man lesen, dass Google-Chef Eric Schmidt die Bedeutung von Privatsphäre irgendwie überschätzt findet. Heute erinnert JWZ daran, dass Schmidt die Webseite CNET 2005/2006 ein Jahr lang auf eine schwarze Liste gesetzt hatte (kein Google-Mitarbeiter durfte mehr mit CNet sprechen), weil CNet Privatinformationen über Schmidt gegoogelt und veröffentlicht hatte.

Der EU-Parlamentsabgeordnete Christian Engström von der Piratenpartei ruft dazu auf, bei der Forulierung einer "Internet Bill of Rights" mitzuwirken. Cory Doctorow trägt seine Ideen bei: "1. Fundamental rights. The European Convention on Human Rights should be respected on the net as well, including Article 8 (the right to privacy) and Article 10 (information freedom)."

Das Blog Carta brachte neulich die Geschichte über die geplante Gebührenerhöhung für Computer. Nun berichtet Robin Meyer-Lucht, wie Qualitätsjournalismus mit der Meldung umging. Der Kölner Stadtanzeiger griff die Meldung auf: "Ksta.de verweist im Artikel auch brav und nett auf die Quelle. Danke dafür. Zugleich hat der Verlag auch eine Pressemitteilung verschickt, um sich mit dem Thema in der Zitiermaschinerie der Agenturen zu platzieren. In der Mitteilung fehlt allerdings jeglicher Hinweis auf die Primärquelle Carta. Das ist wohl kein Zufall, sondern eher die tägliche Praxis des gegenseitigen Umgangs im Qualitätsjournalismus. Im Radio läuft nun: 'Wie der Kölner Stadt-Anzeiger berichtet...' Am Ende des Jahres wird sich der Kölner Stadt-Anzeiger rühmen, zu den 20 meistzitierten Medien des Landes zu gehören."

Perlentaucher, 10.12.2009

Das Problem der Securitate ist keineswegs erledigt, erklärt Mircea Cartarescu im Interview mit der Filmzeitschrift Cargo, das der Perlentaucher übernimmt. "Nur ein Teil (der Securitate-Agenten) beschäftigte sich mit Dissidenten und legte Akten über die Leute an. Viele Mitglieder der Securitate waren geschäftlich tätig, die ganze Wirtschaft war in deren Händen, vor allem der Außenhandel der Staatsfirmen. Überall, wo es Geld gab, waren Leute von der Securitate. Es handelte sich also nicht einfach um eine Gruppe, die überwachte und Dissidenten verhaftete. Die meisten waren Buchhalter des Staates, zudem gab es eine Armee von Informanten... Jetzt gibt es Institutionen zur Dekonspiration, aber diese Institutionen funktionieren nicht, sie stehen unter politischem Einfluss und werden manipuliert, bzw. sie manipulieren selbst das politische Leben."

NZZ, 10.12.2009

In einem "Schauplatz Irak" berichtet Mona Naggar über die Misere der irakischen Universitäten, an denen die politischen und religiösen Auseinandersetzungen auch mittels Todesdrohungen, Bomben- und Mordanschlägen geführt werden: "Nach Angaben des irakischen Erziehungsministeriums sind zwischen 2003 und 2008 259 Hochschullehrer ermordet worden."

Auf der Kinoseite erzählt Susanne Ostwald, wie der Disney-Zeichner Andreas Deja, der auch an der Produktion "The Princess and the Frog" beteiligt war, zehn Jahre lang im Duisburger Zoo geübt hat. Bettina Spoerri hat sich Philippe Liorets Flüchtlingsfilm "Welcome" angesehen.

Besprochen werden die Ausstellung "Kampf um die Stadt" im Wien Museum, Vera Nemirovas "Macbeth"-Inszenierung in Wien und eine Textsammlung zur Geschichte der Stoa (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 10.12.2009

Alex Rühle berichtet von einer Münchner Tagung, bei der deutsche Schriftsteller aus Rumänien über die Securitate sprachen. Über ihre Vergangenheit - aber auch ihre Gegenwart: "Schon die Tatsache, dass der frühere stellvertretende Securitate-Chef von Temesvar nach der Verleihung des Nobelpreises an Herta Müller in einem Interview Lügen wie aus früheren Zeiten über diese verbreiten konnte, zeigt, wie ungebrochen die Macht vieler ehemaliger Repräsentanten dieses Apparates bis heute ist... Der Mann leitet heute die Temesvarer Filiale des Versicherungskonzerns Asirom. Er ist keine Ausnahme, sondern bestätigt die Regel: Große Teile des Securitate-Netzwerks sind einfach in die neuen Wirtschafts- und Medienkartelle diffundiert, die meisten rumänischen Milliardäre haben eine Securitate-Vergangenheit..."

Weitere Artikel: Peter Strohschneider, der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, resümiert aktuelle Studienreformdiskussionen, kennt auch keine Patentlösungen und fordert vor allem weitere gesellschaftliche Debatten. Helmut Mauro (Pro) und Reinhard J. Brembeck (Kontra) diskutieren darüber, ob Abonnentensysteme für Konzert und Oper noch zeitgemäß sind. Von einer Begegnung mit dem schizophrenen Straßenmusiker, dessen Geschichte im heute anlaufenden Film "Der Solist" (mehr) erzählt wird, berichtet Roland Huschke. Gottfried Knapp schreibt den Nachruf auf den im Alter von 101 Jahren verstorbenen Maler Rupprecht Geiger (Bilder).

Besprochen werden Florian Fiedlers Inszenierung der zum neueren Theaterklassiker avancierten Filmadaption "Das Fest" in Hannover, neue Filme, darunter Max Mayer Autismus-Drama "Adam" (dazu gibt es auch ein Gespräch mit dem Regisseur) und Zoltan Pauls Komödie "Unter Strom" sowie Bücher, darunter Klaus Kreiser historischer Stadtführer für "Istanbul" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 10.12.2009

Auch Hubert Spiegel war bei der Tagung in München, auf der deutsche Autoren aus Rumänien wie Franz Hodjak und Richard Wagner (Herta Müller ließ sich, weil gerade in Stockholm, entschuldigen) zur Diskussion über ihre Securitate-Akten zusammenkamen. Mit dabei auch Werner Söllner (mehr), der in einem Statement bekannte, dass er ein Securitate-Spitzel war (für seine Opfer offenbar keine Neuigkeit). Spiegel staunt über die gar nicht unfreundlichen Reaktionen und hat selbst doch einige Fragen: "Niemand verurteilt Söllner. Und niemand spricht offen aus, was für die Betroffenen am schwersten wiegen dürfte: Söllner hat die Gedichte und Prosatexte seiner Freunde und Kollegen für die Securitate gedeutet. Der Germanist, der sein Studium mit einer Arbeit über das Frühwerk Paul Celans abschloss, hat seinen Führungsoffizieren Interpretationshilfe gegeben und ihnen erklärt, was die Verse wirklich zu bedeuten hatten, worauf sie sich bezogen, welche Anspielungen in ihnen verborgen waren. Wie hätte man ihn dazu zwingen sollen?"

Weitere Artikel: Sehr empören muss sich Gerhard Stadelmaier in der Glosse über "durchgeknallte Politiker" und "durchgeknallte Bahn-Profitmacher", die den schönen Stuttgarter Kopfbahnhof kaputtmachen wollen. Mark Siemons meldet, dass mit der MercedesBenz-Arena in Shanghai erstmals eine "Kultur- und Sportbühne" in China nach einem kapitalistischen Sponsor benannt wird. Auf der Medienseite liest man nicht ohne Erstaunen, was Spiegel-Geschäftsführer Ove Saffe mitzuteilen hat: "Perspektivisch ist es möglich, in Zukunft einen Spiegel ohne Anzeigen zu machen."

Besprochen werden ein Moneybrother-Konzert in Köln, Christoph Fricks Münchner Inszenierung von Albert Camus' Stück "Der Belagerungszustand", John Neumeiers "Orpheus"-Choreografie in Hamburg, die Romy-Schneider-Ausstellung in der Deutschen Kinemathek in Berlin, die Juergen-Teller-Ausstellung "Logisch!" in Nürnberg, die Ausstellung "Sowjetische Fotografien 1918-1941" in Köln, die David-Chipperfield-Ausstellung "Form Matters" in London, eine CD mit Händels "Alexander's Feast", dirigiert von Rolf Beck, das neue Album mit "Coloraturas", gesungen von Diana Damrau, der neue Disney-Film "Küss den Frosch" (Andreas Platthaus ist hin und weg) und Bücher, darunter Helmut Marrats Romandebüt "Das Ende der Schlaflosigkeit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).