Heute in den Feuilletons

Denn Ahnenkult ist der wichtigste Kult

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2009. Ahmadinedschad (oder irgend so einer) hat Twitter gekapert. Techcrunch legt eine Nachtschicht ein und analysiert. Was ist, wenn Google auf die Idee kommt, sein Telefon zu verschenken?, fragt Gizmodo. Ilja Braun erklärt in irights.info, wie und warum die VG Wort im Netz eigentlich nicht so richtig funktioniert, außer für die Verlage. Die SZ lässt sich von einem wächsernen Pesttoten in Neapel über die Gegenwart informieren.

Aus den Blogs, 18.12.2009

Matt Buchanan entwickelt in Gizmodo eine ziemlich unheimliche Vision: Google könnte auf die Idee kommen, sein für Januar erwartetes Google Phone Nexus One zum Selbstkostenpreis zu verkaufen oder sogar zu verschenken: "They want you online a lot. So, that doesn't quite explain why Google would want people to have a Nexus one that badly. Until you look at stuff like Morgan Stanley's 424-page tome, 'The Mobile Internet Report,' which says things. Things like mobile internet will be "at least 2x size of Desktop Internet" and that smartphones will beat out notebook and netbook shipments next year. And remember that by purchasing AdMob, Google became the biggest mobile advertiser on the planet... Bottom line: More people using smartphones, especially theirs, going on the internet, makes Google money not just immediately, but long term, since you're not going to go back to a dumbphone."

Und das passierte jedem, der heute morgen auf Twitter ging:



By Techcrunch arbeitet man auch um elf Uhr abends Silicon-Valley-Zeit. Und dort zitierte man den Text der Twitter-kapernden Iranian Cyber Army. Es handelt sich sozusagen um eine Botschaft Achmadinedschads: "U.S.A. Think They Controlling And Managing Internet By Their Access, But They Don?t, We Control And Manage Internet By Our Power, So Do Not Try To Stimulation Iranian Peoples To..." Techcrunch erzählt in mehreren Updates die Episoden des Twitter-Hackings.

Ilja Braun erklärt in irights.info, wie die VG Wort im Netz funktioniert und wie es kommt, dass Verlage für nicht autorisierte Zweitvewertungen von Texten freier Autoren Geld bekommen - und die Autoren leer ausgehen: "Der Autor einer solchen Veröffentlichung wird also doppelt übergangen: Nicht nur hat er für die ungenehmigte Online-Nutzung seines Textes kein Honorar erhalten, sondern er muss auch noch hinnehmen, dass die VG Wort einen Teil der Vergütung, die ihm für private Kopien gesetzlich zusteht, an einen Rechtsverletzer ausschüttet."

(Via 3 quarks daily) Pascal Bruckner denkt in Open über die neue Angst nach, zu wenig Sex zu haben. Und in Salon feiert Laura Miller den besten Comic des Jahres. Es geht ausgerechnet um analytische Philosophie: "Logicomix: An Epic Search for Truth" von Apostolos Doxiadis und Christos H. Papadimitriou (illustriert von Alecos Papadatos und Annie Di Donna).

Das Internet zermanscht das Hirn gar nicht, meint Ibrahim Evsan in Carta: "Es ist zu einfach, der digitalen Welt oder gar den digitalen Supermächten die Schuld daran zu geben, dass wir mit Informationen überflutet werden. Das ist nur die halbe Wahrheit, denn wir sind schließlich keine Subjekte, mit denen etwas 'gemacht wird', wir sind immer noch Menschen, die sich durch alle Zeiten hindurch ständig an neue Herausforderungen anpassen mussten."

Perlentaucher, 18.12.2009

War Godard Antisemit?, fragte gestern die FAZ (unser Resümee)? Wer ein bisschen googlet, findet schnell heraus, dass das gar keine Frage ist. Wir übersetzen einen Text Godards aus dem Jahr 1977: "Es muss wirklich der Geist des Bösen gewesen sein, der dem Gedächtnis von sechs Millionen toten Juden das Gedächtnis des Hasses auf den anderen einimpfte, aber auf denjenigen, der für die Juden 'der andere' ist, in diesem Fall, denn dreißig Jahre danach trifft das jüdische Volk auf seinesgleichen, ein anderes jüdisches Volk, auf einem ganz bestimmten Territorium, nicht in Nacht und Nebel diesmal, sondern eher in der Sonne, und das ihm sagt: Ich gleiche dir, ich bin Palästinenser." Und verlinken auf die Überblendung von Hitler und Golda-Meir-Fotos in Godards Film "Ici et ailleurs".

Jungle World, 18.12.2009

Ivo Bozic schöpft neue Hoffnung, dass die Klickschinderei ein Ende finden könnte, wo sich ja online eh kein Geld verdienen lässt. "Allein dadurch, dass in diesem Artikel hier nun im Folgenden der Satz 'Sex mit Britney dank CIA-Routenplaner: Porno-Lesben mit Schweinegrip­pe kastrieren blutjunge Hitler-Aliens in Tokio Hotel' untergebracht worden ist, wird die Anzahl der Google- und Yahoo-Treffer in die Höhe schießen."
Stichwörter: Geld, Porno, Tokio, Yahoo

Welt, 18.12.2009

London-Korrespondent Thomas Kielinger kommentiert einen britischen Gerichtsentscheid, der eine jüdische Schule zwingt, ein Kind aufzunehmen, das nach ihren Kriterien nicht jüdisch ist. Manuel Brug besucht die Residenz Schönhausen in Berlin, die einst den DDR-Oberen als Gästehaus diente und nunmehr restauriert ist. Berthold Seewald kommentiert den nach langen Verhandlungen gefundenen Kompromiss im Tarifstreit bei deutschen Orchestern. Hanns-Georg Rodek schreibt den Nachruf auf den Disney-Erben und Retter Roy E. Disney.

Besprochen werden eine CD von Charlotte Gainsbourg und Nicolas Stemanns Brecht-"Johanna" am Deutschen Theater Berlin.

Auf der Magazinseite erinnert Günther Lachmann in der Reihe "Deutsche Orte" an den ausländerfeindlichen Anschlag von Solingen, der 1993 eine Familie auslöschte. Und Maxeiner & Miersch mokieren sich in ihrer Kolumne über die Idee der Beweislastumkehr bei der Eintreibung von GEZ-Gebühren: "Wie beweist man, keinen Fernseher zu besitzen? Durch eine notariell beglaubigte Fotodokumentation seiner Wohnung? Ständige öffentliche Begehbarkeit der eigenen vier Wände? Oder eine Überwachungskamera mit Standleitung in die GEZ-Zentrale?"

TAZ, 18.12.2009

In tazzwei unterhält sich Arno Frank mit der Schauspielerin und Sängerin Charlotte Gainsbourg über schmuddelige Hotels, ihre Schüchternheit und den Schatten ihres Vaters Serge. In Los Angeles, wo sie zusammen mit Beck ihr jüngstes Album aufgenommen hat, litt sie nach eigenem Bekunden sehr: "Die Stadt breitet sich einfach zu weit aus, wie eine Wüste aus Beton. Und diese Hässlichkeit an allen Ecken und Enden. Ich habe Häuser gesehen, die wirkten wie eine extrem deprimierende Mischung aus Sowjet-Architektur, Disneyland und diesen Autohäusern, wie wir sie in Europa aus unseren Vorstädten kennen. Gesichtslos, herzlos, irgendwie krank."

Ebenfalls in tazzwei hat Jan Feddersen eine Auseinandersetzung mit einer Lifestylelinken. Im Kulturteil werden die taz-Popcharts 2009 vorgestellt. Besprochen werden Inszenierungen von "Berlin Alexanderplatz" an der Schaubühne und "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" am Deutschen Theater in Berlin.

Und Tom.

FR, 18.12.2009

Die Politologin Naika Foroutan fährt eine ganze Reihe von Umfragen auf, um zu beweisen, dass die gescheiterte Integration muslimischer Zuwanderer in Deutschland nur eine gefühlte Wahrheit vor allem "lauter deutscher Männer", aber keine empirische sei: "Mehr als zwei Drittel der 'Türken' zeigen laut einer Sinus-Studie ein modernes, individualisiertes Leistungsethos. 63 Prozent der Befragten sind der Meinung: Jeder, der sich anstrengt, kann sich hocharbeiten. In der Gesamtbevölkerung stimmen dem nur 57 Prozent zu. Warum kontrastiert das so stark mit der gefühlten Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft?"

Weiteres: In Times mager huldigt Christian Thomas dem BVB. Auf der Medienseite verarbeitet Ulrike Simon den Wechsel in der Welt-Chefredaktion.

Besprochen werden Bernhard Mikeskas Nitribitt-Theater "Remake :: Rosemarie" natürlich in Frankfurt, Dagmar Leupolds Roman "Die Helligkeit der Nacht", die neuen Alben von Mary J. Blige und Alicia Keys, der Trumm zu Stanley Kubricks nie gedrehten Napoleon-Film "The Greatest Movie Never Made" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 18.12.2009

Ho Nam Seelmann schildert, wie die zunehmende Einwanderung Südkorea dazu zwingt, sein Selbstbild zu überprüfen: "Vom kulturellen Selbstverständnis her fühlen sich die Koreaner als ethnisch homogen, eine Einstellung, die weit in die Geschichte zurückreicht. Vom Konfuzianismus geprägt, beachtet ein Koreaner heute noch, von welcher Ahnenlinie jemand stammt. Denn Ahnenkult ist der wichtigste Kult in Korea; er achtet auf die Blutlinie und bringt den eigenen Ahnen eine gottähnliche Huldigung entgegen."

Außerdem: Marion Löhndorf beschreibt am Beispiel des Victoria and Albert Museums, wie sich die britischen Museen mit freiem Eintritt, aufwendigen Umbauten und offensivem Marketing neu aufstellen.

Besprochen werden Alain Gsponers Verfilmung von Martin Suters Erfolgsroman "Lila, Lila", das Blaxploitation-Album "Can You Dig it?" und Osamu Tezuka Horror-Manga "Kirihito" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 18.12.2009

Raphael Gross erklärt mit Hans Kelsen und Pilatus, warum eine undemokratische Entscheidung wie das Schweizer Minarett-Verbot noch lange nicht das Ende der Demokratie bedeutet: "In einer solchen Situation ist es entscheidend, dass man die Grundlagen demokratischer Entscheidungen - nämlich den Relativismus - auch nach einem tragischen Fehler im Auge behält. Nur wer Demokratie vor dem Hintergrund einer relativistischen Weltanschauung begreift, wird auch die Meinung der diesmal unterlegenen Minderheit als potentiell trotzdem richtig akzeptieren. Gegen die Verfechter absoluter Wahrheiten in der Politik, seien sie religiös oder völkisch, hilft einzig das tragische Eingeständnis der Relativität demokratischer Entscheidungen."

Weitere Artikel: Wenngleich im Hamburger Gängeviertel die bürgerschaftliche Vernunft gesiegt hat, sieht Peter Richter auch nach dem Rückzug der Investoren eine gründlich gentrifizierte Zukunft des Viertels voraus. Michael Hanfeld fordert eine "Selbstprüfung des Bundestags" in Sachen Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Patrick Bahners war bei der Verleihung des Hegelpreises an den Forscher Michael Tomasello zugegen. Andreas Kilb begutachtet das nach Restaurierung neu eröffnete Schloss Schönhausen, einst Sitz des DDR-Staatspräsidenten. Lorenz Jäger nimmt in der Leitglosse die Enthüllungen der Zeit über die Beteiligung des Musikwissenschaftlers Hans Heinrich Eggebrecht an Nazi-Verbrechen zur Kenntnis. Andreas Platthaus hat Uwe Tellkamp aus eigenen Werken, dabei auch erstmals aus der entstehenden "Turm"-Fortsetzung "Reise zur blauen Stadt" lesen, ja, "rezitieren" hören.

Besprochen werden ein Kölner Konzert von William Fitzsimmons, Nicolas Stemanns Inszenierung von Brechts "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" am Deutschen Theater in Berlin, ein Film und ein Buch zur "malenden Putzfrau" Seraphine Louis sowie weitere Bücher, darunter Martin Meyers Essays "Piranesis Zukunft" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 18.12.2009

Nicola Spinosa, langjähriger Chef der Kunstbehörde der Stadt Neapel, verabschiedet sich mit einer Reihe von Ausstellungen zum Thema "Rückkehr zum Barock" aus seinem Amt. Kia Vahland hat sich alle angesehen und findet, dass sie leider nur zu gut zu einer Stadt passen, die im Kampf gegen die Camorra die Waffen gestreckt hat: "Im Museo Duca di Martina steht die Wachsbüste einer verwesten Pesttoten aus dem 17. Jahrhundert: Der Mund öffnet sich noch zum Schrei, aber aus der Brust kriechen schon Würmer. Eskapismus kann man dieser Epoche nicht vorhalten. Die Meditation mit Totenschädel ist eines der beliebtesten Bildthemen und hier so präsent, dass noch Roni Horn in ihrer Installation im zeitgenössischen Museum Madre damit spielt. Totenkult gehört zu der Stadt wie die alte Dame, die in der Kirche Il Gesu Nuovo murmelnd den Sarg eines angeblichen Wunderheilers küsst. Gestorben wird in Neapel einfach zu viel, als dass man es vergessen könnte."

Weitere Artikel: Desiree Waibel berichtet von einem Minarett aus Pappe, das ein Geschäftsmann in der Schweizer Stadt Bussigny errichtet hat. Jonathan Fischer unternimmt es, an die Geschichte des Soul zu erinnern, nun da viele seiner bedeutendsten MusikerInnen ihren 70. Geburtstag feiern. Michael Stallknecht erklärt, warum Jürgen Habermas tatsächlich der richtige Laudator bei der Verleihung des Hegelpreises an den Naturwissenschaftler Michael Tomasello war. Anlässlich einer Inszenierung von Martin Crimps "Menschenfeind"-Adaption mit Keira Knightley am Londoner Comedy Theatre denkt Alexander Menden über die Anziehungskraft des Theaters für Filmstars nach. Jürgen Paul Schwindt erzählt, wie im Jahr 1809 August Böckh schon vor der Reform der Universitäten die Philologie neu erfand. Christoph Launer gratuliert dem Kinder- und Jugendbuchautor Willi Fährmann zum Achtzigsten.

Besprochen werden Nicolas Stemanns Inszenierung von Brechts "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" am Deutschen Theater Berlin ("ebenso amüsant wie analytisch", lobt Christopher Schmidt) und Bücher, darunter Amir Hassan Cheheltans Roman "Teheran Revolutionsstraße" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).