Heute in den Feuilletons

Etwas zum Herumhüpfen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2009. Die Welt ist entsetzt über die späten Enthüllungen zur Vergangenheit des Musikwissenschaftlers Hans Heinrich Eggebrecht. Die taz hat ein wunderbares Last-Minute-Weihnachtsgeschenk gefunden: Reportagen aus 2.500 Jahren. Aus Anlass des Demjanjuk-Prozesses erinnert der Tagesspiegel an den Aufstand von Sobibor. Ein Gutes hat das Scheitern des Klimagipfels doch, meint die Achse des Guten: Der Sudan bekommt keine Entschädigung für Maßnahmen gegen den Klimawandel. Die FAZ hört Bach. Ach, und Peter Sloterdijk fordert nach Kopenhagen ein konstruktiv diabolisches Denken.

Welt, 21.12.2009

Eine Katastrophe nennt Kai Luehrs-Kaiser die Enthüllungen des Historikers Boris von Haken, dass der einflussreiche Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht an der Ermordung von 14.000 sowjetischen Juden beteiligt war. Er nennt sie für die Musikwissenschaft insgesamt eine Katastrophe: "Sie nährt den Verdacht, dass sich Eggebrechts deutsche Karriere nicht so unbehelligt hätte runden können, hätte nicht die ganze Zunft ihre Vergangenheit verdrängt. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Germanistik ebenso wie die Philosophie haben sich längst zum Teil systematisch mit der Aufarbeitung ihrer Zeit während des NS beschäftigt. (In Zuge dessen kam etwa die Parteimitgliedschaft von Walter Jens ans Licht.) Provokativ gesagt: In der Musikwissenschaft endet der Antisemitismus noch immer mit Richard Wagner."

Weitere: Berthold Seewald sieht nach diesem Gedenkjahr und den Debatten um Varus und Troja die Archäologie zur neuen "Leitwissenschaft" aufgestiegen. In der Randglosse widmet sich Hendrik Werner der Heimholung Karls Jaspers nach Oldenburg, im bibliothekarischen Sinne.

Besprochen werden das von Simone Eisenring und Milo Rau die Bühne zusammengefasste Gerichtsverfahren gegen das Ehepaar Ceausescu, eine Amsterdamer Aufführung von Puccinis Pferdeoper "Mädchen aus dem Goldenen Westen" mit Eva-Maria Westbroek, das Adventskonzert von Rammstein in Berlin und die Doku "Am Anfang war das Feuer" auf DVD.

TAZ, 21.12.2009

Ein Weihnachtsgeschenk in letzter Sekunde? Der neue Galiani-Verlag startet mit einem Projekt, das Uwe Rada fulminant findet, einem Reader mit Reportagen aus 2.500 Jahren, zusammengestellt vom ehemaligen Du-Chefredakteur Georg Brunold. Rada beginnt seine Lektüre ganz vorne: "Herodot, lernten wir weiland in der Schule, sei der Vater der Geschichtsschreibung. Doch in seinem Text 'Die weitaus gelehrtesten Menschen' betätigt er sich als Ägypten-Reisender und Ethnologe, der davon berichtet, wie man am Nil Krokodile fängt (mit einem Schweinerücken als Köder) und wie die Ägypter urinieren (er im Sitzen, sie im Stehen). Das Erstaunlichste ist aber die Erzählhaltung. Ganz moderner Schreiber, hält er die Balance zwischen Distanz und Empathie."

Weitere Artikel: Christian Werthschulte stellt neueste Mutationen des Musikgenres Dubstep vor, das, wie wir erst heute erfahren, die nuller Jahre prägte. Uh-Young Kim stellt anhand einiger neuer CDs fest, dass HipHop seine Mitte verloren hat, während sich die House und Techno-Szene, so Tim Caspar Boehme, wieder an großen Vorbildern der Vorzeit orientiert.

Und Tom.

Tagesspiegel, 21.12.2009

Thomas Lackmann erinnert an den Lageraufstand in Sobibor 1943, bei dem zwölf SS-Leute getötet wurden. "Claude Lanzmanns Film 'Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr' (2001) dokumentiert den Aufstand. 'Nein, ich hatte noch niemanden getötet, ich hatte keiner Fliege etwas zu Leide getan,' sagt Yehuda Lerner dort im Interview. 'Wir erkannten, dass niemand aus Sobibor lebend herauskommen würde. Wir beschlossen, dass man an diesem Ort keine Zeit verlieren durfte.' Zimmerleute organisieren Äxte, SS-Männer bestellt man zur Besprechung in Werkstätten, kurz vor vier wird der Strom abgeschaltet. Die Deutschen sind superpünktlich. Lerner wartet mit der Axt unterm Mantel. 'Ich empfand es wirklich als Ehre, dass sie mich wählten, einen Deutschen zu töten', sagt er. 'Wir hatten keine Wahl, wir würden umkommen, aber wir wollten wie Menschen sterben. Ich kann behaupten, dass ich ihm den Schädel spaltete, als hätte ich im Leben nichts anderes getan.'"

Außerdem: Der israelische Architekt Zvi Hecker überlegt, wie man dem Stadtraum zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten "eine klare Fassung" geben könnte. Der so geschaffene neue Platz, den Hecker "Platz der Wiedervereinigung" nennen möchte, "kann noch eine weitere wichtige Funktion erfüllen - als deutsches Freiheits- und Einheitsdenkmal". Und Sven Lager erzählt, wie die Xhosafrau Pinky das Weihnachtsfest feiert.

Aus den Blogs, 21.12.2009

Falls die Klimakonferenz daran gescheitert ist, dass Regimen wie dem Sudan keine Entschädigung in Millardenhöhe für Maßnahmen gegen den Kilimawandel gezahlt werden, war das Scheitern nicht nur bedauerlich, meint Rainer Bonhorst in der Achse des Guten. Der sudanesische Delegierte erfrechte sich in Kopenhagen gar, den Staaten des Nordens wegen ausbleibender Entschädigung Völkermord vorzuwerfen, berichtet Bonhorst: "Der Völkermord ist eine Fertigkeit, in der die sudanesische Führung keinerlei Unterstützung von uns Europäern benötigt. Wir haben da zwar auch unsere Erfahrungen. Was aber die letzten zehn, zwanzig Jahre angeht, da hat der Sudan in Sachen Völkermord zweifellos eine Sitzenposition errungen. Ob der islamische Norden den tieferen Süden drangsaliert, oder -aktueller - den Westen: Das Leben in weiten Teilen des Sudan ist keinen Pfifferling wert. Und das Jahr 2009 gehörte, folgt man den Ärzten ohne Grenzen, zu den blutigsten. Tausende Ermordete, hundertausende Vertriebene und Flüchtlinge." Mehr dazu auch hier. Dazu passt auch eine Äußerung Robert Mugabes, der den westlichen Ländern in Kopenhagen "Fundamentalismus der Menschenrechte" vorwarf, mehr hier.

Wie jede Woche lesenswert: Ulrike Langers "Medienlinks zum Wochenstart" auf Carta.

FR, 21.12.2009

Nix online heute morgen in der FR.

Daniel Kothenschulte berichtet über den total überflüssigen, von Fatih Akin auf die Spitze getriebenen Rechtsstreit um dessen Film "Soul Kitchen". Harry Nutt erzählt vom Herta-Müller-Fest in Berlin. (Auch Sabine Vogel berichtet darüber in der Berliner Zeitung, kann man hier lesen.)

Besprochen werden die Aufführung von Theresa Walsers Kaufhauskomödie "Herrenbestatter" in Mannheim, eine "radikal desillustionierende Dekonstruktion" von Bachs Weihnachtsoratorium durch die Künstlergruppe Novoflot im Berliner Radialsystem und die achtbändige "Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 21.12.2009

Manuel Gogos besucht die Klöster auf dem Berg Athos, deren Erhabenheit durch die Immobiliengeschäften ihrer Heiligkeiten kleine Kratzer erlitten haben: "Die Mönche des Klosters Vatopedi hatten den Vistonida-See im Norden des Landes, der dem Kloster nach Selbstaussage vor fast 1000 Jahren von byzantinischen Kaisern vermacht worden war, gegen Ländereien bei Athen eingetauscht, die sich gerade touristisch stark entwickeln. Die Mönche hätten damit 'dem Staat Wasser, Luft und brachliegendes Land verkauft' und dafür 'wertvolle Büros, Grundstücke und Gebäude' bekommen, meint fast einhellig die Athener Presse, und dabei üppige Gewinne in Höhe von mehr als 100 Millionen Euro gemacht."

Joachim Güntner erzählt noch einmal vom Wunder des Hamburger Gängeviertel, bei dem die "Bewegungsgesetze der Gentrifizierung" umgekehrt wurden und die Künstler die Investoren vertrieben. Barbara Villiger Heilig hat sich Leonhard Koppelmanns Zürcher Inszenierung des Jelinek-Stücks "Rechnitz" angesehen und erkennt auf einen klaren Sieg des Textes über die Regie.

SZ, 21.12.2009

Der in diesen Tagen unvermeidliche Peter Sloterdijk macht wunden Seelen nach dem Scheitern in Kopenhagen Mut: "Man muss jetzt mehr denn je konstruktiv diabolisch denken und sich sagen, dieses Scheitern war das Beste, was uns passieren konnte. Immerhin weiß man ab heute besser denn je, was von UN-Spektakeln dieser Art zu halten ist, man weiß zudem, dass für eine effektive Weltsteuerung andere Organe erfunden werden müssen, und man weiß, dass die Zeit abläuft, in der die Bürger mit ihren Regierungen Geduld hatten." Es wird jetzt höchstwahrscheinlich eine Revolution geben. Gegen wen sie gerichtet ist, und wie sie ausgeht, erfahren Sie für für bloß 1,90 Euro am Kiosk!

Weitere Artikel: Johan Schloemann beobachtet angesichts der Finanzkrise eine Renaissance des Stoizismus - von Werkausgaben bis zu Managerratgebern. Jens-Christian Rabe untersucht die Frage, "was die neuen Musik-Computerspiele aus dem Pop machen". Johannes Boie stellt in den "Nachrichten aus dem Netz" die neue soziale Plattform formspring.me vor, der er ein Potenzial wie Twitter oder Facebook bescheinigt. Javier Caceres berichtet über Verwirrung und Trübsal in Spanien, nachdem man die Gebeine Garcia Lorcas nicht am vermuteten Ort gefunden hat.

Besprochen werden neue DVDs, Georg Kaisers Drama "Von morgens bis mitternachts" in der Regie von Tina Lanik am Residenztheater München, darunter Miriam Gebhardts in diesen Tagen hochaktuelle Studie "Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen".

FAZ, 21.12.2009

Eleonore Büning empfiehlt Johann Sebastian Bach zu Weihnachten und stellt die besten Einspielungen von Bach-Werken auf der ersten Feuilleton-Seite vor. Besonders lohnend findet sie den Vergleich der beiden Einspielungen der sechs Partiten der "Clavierübung 1", gleichermassen brillant, aber sehr unterschiedlich interpretiert von Andras Schiff und Murray Perahia: Perahia zeige den gleichmäßigeren Atem. "Bei Schiff dagegen steckt mehr Unruhe, mehr Unordnung und infolgedessen auch mehr Leben in der Musik: Körbeweise bringt er bei der Wiederholung Verzierungen unter, gräbt überraschende Pointen aus und erinnert uns immer wieder daran, dass all diese längst untanzbar gewordenen, stilisierten Gigues und Sarabanden und Passepieds in ihrem früheren Leben mal etwas zum Herumhüpfen gewesen waren."

Weitere Artikel: Kerstin Holm porträtiert in der Glosse Iosif, den Schutzheiligen der russischen Geschäftsleute. Hannes Hintermeier kommentiert CSU-Katastrophen mit Verweis auf Sophokles. Von einem Berliner Fest für Herta Müller berichtet Andreas Kilb. Christian Wildhagen ist begeistert über den Ankauf von Beethovens Diabelli-Handschrift durch das Bonner Beethoven-Haus. Jakob Dettmar turnt mit der Spielekonsole Wii Fit Plus. Jürg Altwegg meldet, dass Google in Frankreich jetzt das Scannen urheberrechtlich geschützter Bücher untersagt wurde.

In der Sonntags-FAZ versucht Frank Schirrmacher, sich auf Google zu konzentrieren.

Besprochen werden Burkhard C. Kosminskis Mannheimer Inszenierung von Theresia Walsers Stück "Herrenbestatter", Alexander Nerlichs Inszenierung von Dejan Dukovskis Drama "Leere Stadt" im Münchner Marstall, eine Jubiläumsausstellung zu fünfzig Jahren "Blechtrommel" im Lübecker Günter-Grass-Haus, Alain Gsponers Martin-Suter-Verfilmung "Lila, Lila" (mehr) und Bücher, darunter Jerzy Bieleckis Memoiren "Wer ein Leben rettet... Die Geschichte einer Liebe in Auschwitz" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).