Heute in den Feuilletons

Allein machen sie dich ein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2010. Der dänische Karikaturist Kurt Westergaard ist nur knapp einem Mordanschlag entkommen, meldet der Tagesspiegel. In der Welt überlegt Ulla Unseld-Berkewicz, wo man heute als Qualitätsverlag vorne steht. In der FAZ überlegt Geert Lovink, wo man heute im Internet vorne steht. Die SZ portätiert den palästinensischen Wanderer Raja Shehadeh. In der FR demonstriert Ulrich Beck wie man etwas und dann sein Gegenteil behaupten und am Ende trotzdem Recht behalten kann. Der Perlentaucher wünscht seinen Lesern ein frohes und gesundes Neues Jahr!

Tagesspiegel, 02.01.2010

Der dänische Karikaturist Kurt Westergaard, Zeichner der bekanntesten "Mohammed-Karikatur" konnte sich einem Mordversuch mit knapper Not entziehen, meldet der Tagesspiegel mit AFP: Ein 28-jähriger, der Terrorgruppe Al Kaida nahestehender Somalier sei mit einer Axt in das Haus des Zeichners eingedrungen. Westergaard konnte sich in Zimmer seiner Wohnung flüchten und die Polizei alarmieren. Die dänische Polizei überwältigte den Somalier mit Schüssen in die Beine. Den aktuellen Stand der Informationen verfolgt man am besten auf Twitter unter dem Suchwort Westergaard. Aktuelle Reaktionen bei der Google Blogsearch.

Weitere Medien, 02.01.2010

"This attack will force the Danish secret service Pet to review whether their protection is adequate", meint Malcolm Brabant in BBC News zum Mordanschlag auf Kurt Westergaard, "Mr Westergaard's house was supposed to have been turned into a fortress. The windows were supposed to be blast proof." Die BBC hat inzwischen auch einen Videobericht ins Netz gestellt. Hier der erste Bericht der New York Times. Hier Julian Isherwoods englischsprachiger Bericht auf der Website der dänischen Zeitung Politiken. Hier die Berichterstattung der Jyllands Posten, wo die Karikaturen zuerst erschienen - bislang leider nur auf dänisch. Aktualisiert um 14 Uhr: Lesenswert Yassin Musharbashs Hintergrundartikel in Spiegel Online.

Welt, 02.01.2010

Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz überlegt in der Literarischen Welt, wo man heute als Qualitätsverlag vorne steht, angesichts der Konkurrenz der großen Konglomerate und der Digitalisierung. Sie beschwört ein "Bündnis der Nonkonformisten" aus Autoren, Verlagen und Lesern: "Die Profitrate steigt nicht, aber die Werte werden vernichtet. Und trotzdem fallen die Bedrohten unter Autoren und Verlegern nicht aus der Buchwelt, sondern finden sich plötzlich viel näher bei denen, die in den Flurbereinigungskampagnen zu bloßem Kanonenfutter erniedrigt werden sollen: den Lesern. Diese erkennen, da man ihnen die letzten Anlaufstellen für nicht per Marktforschung konzipierte Texte wegnehmen will, dass Eigensinn und Solidaritätsbereitschaft mehr denn je zusammengehören, wo geschrieben und gelesen wird, und dass der Volksmund wahr spricht, wenn er sagt: 'Allein machen sie dich ein.'"

Außerdem: Niall Ferguson verkündet "das Ende von fünfhundert Jahren westlicher Vorherrschaft". Walter Laqueur überlegt - nicht sehr hoffnungsfroh - was das Neue Jahr bringen mag. Marko Martin trifft den israelischen Schriftsteller Nir Baram, dessen Buch "Der Wiederträumer" (Leseprobe) gerade erschienen ist. Wolf Lepenies feiert Jean-Michel Palmiers Studie über Walter Benjamin (Leseprobe) als "das seltene Beispiel einer kritischen Hagiografie". Besprochen werden weiter Alissa Walsers Roman "Am Anfang war die Nacht Musik", Rudolf Kreis' Autobiografie "Die Toten sind immer die anderen", die von Martin Sabrow herausgegebenen "Erinnerungsorte der DDR" und neue skandinavische Krimis.

Philippe Decoufle hat das französische Crazy Horse mit neuen Choreografien modernisiert, berichtet Thomas Hahn im Feuilleton: "Damit treibt er auf die Spitze, was zurzeit den Jet Set wie den Underground gleichermaßen fasziniert: die Wiederkehr des Burlesque-Striptease, die Verbindung von Kunst, Ironie und Sinnlichkeit." Eine Meldung informiert uns, dass Franco Stella für den Bau des Berliner Stadtschlosses jetzt einen neuen Vertrag erhalten hat.

Besprochen wird die große Edward-Burne-Jones-Retrospektive in der Stuttgarter Staatsgalerie.

FR, 02.01.2010

In Ulrich Becks allmonatlichen "Weltinnenpolitik"-Betrachtungen geht es um den von Deutschland in Afghanistan geführten Krieg oder Nichtkrieg: "Wir haben es in Afghanistan mit dem neuen, weltinnenpolitischen Typus des 'virtuellen Krieges', genauer: mit der sozial konstruierten, selektiven Virtualität des Krieges über Grenzen hinweg zu tun. Mit Baudrillard kann man provokativ sagen, der Afghanistan-Krieg finde gar nicht statt. Die Schwäche seiner These liegt darin, dass der Krieg stattfindet. Die Pointe aber ist: Beide Aussagen sind richtig! Der Krieg fand bis vor kurzem für Andere statt, aber nicht in und für Deutschland. Gleichzeitig existieren nebeneinander 'gefühlter Friede' und "geführter Krieg'... (Es ist übrigens der westliche Blick, der sich in Baudrillards Zuspitzung artikuliert, der Blick, der blind ist für die Opfer der anderen.)"

Weitere Artikel: Harry Nutt blickt voraus aufs Kulturhauptstadtjahr Ruhr.2010. Katrin Hillgruber erinnert an den Schriftsteller Ulrich Becher, der heute seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Werner Girgert referiert die ernüchternden Ergebnisse einer europaweiten Studie zur Mobilität der "Kreativen Klasse". Marcia Pally hat in ihrer US-Kolumne ein paar Uralt-Neuigkeiten, die auch 2010 weiter gelten. Jürgen Otten porträtiert das russische Borodin Quartett. Die Glosse "Times Mager" besteht heute aus der Ballade "Das Trauerspiel von Afghanistan" von Theodor Fontane (erste Strophe: "Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,/Ein Reiter vor Dschellalabad hält,/"Wer da!" - "Ein britischer Reitersmann, /Bringe Botschaft aus Afghanistan.").

Besprochen werden Bücher, darunter Viola Roggenkamps Roman "Die Frau im Turm" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 02.01.2010

Die Schweizer feiern Berchtoldstag, darum gibt es heute keine NZZ.

TAZ, 02.01.2010

Ulrich Gutmair unterhält sich mit der Soziologin Eva Illouz über westliche Gesellschaften im psychosozialen Umbruch und ihre Leitfiguren, wie etwa Oprah Winfrey oder, im Bereich der Fiktion, Tony Soprano: "Tony Soprano ist das, was Soziologen und Anthropologen eine Übergangsfigur nennen, also eine Figur, die verschiedene Welten miteinander verbindet. Tony Sopranos Krise verbindet die alte und die neue Männlichkeit, aber auch die traditionelle Ehe und die neue Form der Ehe. Letztere gründet auf den individuellen Gefühlen und Wünschen der Leute, die sich zusammengefunden haben, weil sie dadurch Befriedigung erfahren. Soprano steht für die Vermittlung zwischen einer hierarchischen und einer demokratischen Ordnung."

Weitere Artikel: Rene Martens besucht einen Stammtisch der Piratenpartei und setzt sich freundlich-kritisch mit der Kulturpolitik der Partei auseinander. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne fragt Doris Akrap, wie der Nachfolger von Hardt/Negris "Multitude" als Polit-Theorie-Bestseller der Zehner-Jahre aussehen müsste. In der sonntaz führt Martin Reichert ein langes Gespräch mit Reinhold Messner.

Besprochen werden Luke Haines' neue CD "21st Century Man", und Bücher, darunter Helmut Kraussers neuer Roman "Einsamkeit und Sex und Mitleid" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 02.01.2010

Bedauerlich findet der niederländische Medientheoretiker und Aktivist Geert Lovink in Bilder und Zeiten die Richtung, die das Internet genommen hat. Das gilt vor allem für den "Traum, im Internet ein anderer sein zu können", der durch die Datensammelei von Unternehmen und Regierungen zerstoben ist. Und doch glaubt er immer noch, dass auch Einzelne im Internet noch Weichen stellen können: "Das große Beispiel dafür ist die freie Software. Die Ideen der Freie-Software-Bewegung sind ausgewuchert in andere Bereiche, ins Musikgeschäft, in die Wissenschaft. Langsam ist das eine ganz breite kulturelle Bewegung. Sie hinterfragt grundlegend Machtstrukturen und ist nicht mehr marginal. Das hätte man vor fünf oder zehn Jahren noch sagen können."

Marie Luise Knott erzählt, wie sie bei ihrer editorischen Arbeit am Briefwechsel von Hannah Arendt und Gershom Scholem in Israel auf ein Gedicht stieß, das der damals siebenjährige Walter Benjamin für seine Tante Clara Stern geschrieben hatte. Wie aber hat es die Zeit überdauert? In einem Fass! "Günther Stern alias Günther Anders, der von 1929 bis 1937 mit Hannah Arendt verheiratet war, hält im März 1948 ('Seit gestern in der Unterwelt!') in seinen 'Tagesnotizen' fest, wie eines Tages drei 'Riesen', zwei davon Farbige, vor der Tür seiner kleinen New Yorker Dachmansarde stehen und sieben überdimensionale Fässer auf seinen Fußboden 'krachen' lassen. Nur zu gerne hätte Stern das Ansinnen zurückgewiesen, doch der Frachtbrief, ausgefüllt in der Handschrift seines verstorbenen Vaters, machte ihm deutlich: Diese Sendung konnte er nicht ausschlagen."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay unterhält sich mit dem Büchner-Preisträger Walter Kappacher über dessen Fotoarbeiten. Marie Katharina Wagner hat einen Ortstermin mit Rocko Schamoni im Hamburger Gängeviertel.

Im Feuilleton stellt Detlef Borchers die zehn Prognosen vor, die der IBM-Programmierer Theo Lutz 1987 für das Jahr 2010 aufgestellt hat. Nur Prognose 9 hat sich nicht erfüllt: "Datenschutz wird als Bürgerrecht akzeptiert und respektiert sein." Albrecht Müller bittet "um einen neuen Willy Brandt". In der Glosse erzählt Karen Krüger, dass die Türken Neujahr immer öfter mit einem Weihnachtsbaum und Geschenken feiern. Jürgen Dollase isst in Klaus Erforts "Gästehaus" in Saarbrücken. Oliver Jungen schreibt zum Tod des Philologen Gero von Wilpert. Auf der letzten Seite beschreiben Verena Lüken, Rainer Hank und Christian Eichler Fall und Wiederauferstehung dreier Männer: Mickey Rourke, ein Investmentbanker und Jupp Heynckes.

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um den Country-Musiker Jim Lauderdale (hier), die polnische Sopranistin und Komponistin Agata Zubel, CDs von Brendan Benson, Vampire Weekend und Patty Moon sowie neue Diabelli-Variationen von Franz Hummel.

Besprochen werden außerdem Bücher, darunter Amos Oz' "Geschichten aus Tel Ilan" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Michael Lentz ein Gedicht von Helga M. Novak vor:

"der Pilzfreund
wie Morgenröte flach über die Sandwege schlendert
und die Ränder vergoldet
wie der Specht in die Borke haut
wie der Pilzfreund von der vereinbarten Route abweicht
..."

SZ, 02.01.2010

Thorsten Schmitz portätiert den palästinensischen Wanderer Raja Shehadeh, der nun auch ein Buch über seine Wanderungen geschrieben hat: "Seit fast dreißig Jahren macht er jeden Freitag das, was kein Palästinenser macht: Er wandert. Geht spazieren. Läuft. Schlendert. Marschiert. Bergauf und bergab, über Steine hinweg und durch Ginsterbüsche hindurch, an Schafherden und Oreganobüschen vorbei. Das Wandern ist Shehadehs Lebenselixier und Überlebensstrategie in einem Gebiet, in dem Israel darüber entscheidet, welcher Palästinenser wohin darf."

Weitere Artikel: Richard Fleming macht uns mit den Künstlern der Grand Rue von Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, bekannt, die in diesem Herbst ihr eigenes Festival "Ghetto Biennale" veranstalten. Andrian Kreye kommentiert den Schweizer Streit um deutsche "Gastakademiker", die von der SVP öffentlichkeitswirksam als "ausländische Ellenbögler" beschimpft worden sind. Georg Diez liest Internet-Spam als "Gegenwartsroman".

Im Aufmacher der SZ am Wochenende deutet Gerhard Matzig den "Burj Dubai", seines Zeichens höchstes Haus der Welt, als Symbol einer vergangenen Zeit. Arne Perras erzählt die gut ausgegangene Geschichte des afrikanischen Flüchtlingsjungen Nadschibu. Von einem Besuch beim Dichter Ror Wolf berichtet Hilmar Klute. Der Regisseur Leander Haußmann erinnert sich unterm Titel "Call of Duty" an die Gegenwart. Auf der Historien-Seite geht es um den Luftkrieg gegen Deutschland. Vorabgedruckt wird unter der Überschrift "Die Näherin von Soreni" ein Auszug aus Michela Murgias Debütoman "Accabadora". Maxi Leinkauf unterhält sich mit der Autorin Catherine Millet über "Eifersucht".

Besprochen werden Christoph Marthalers Baseler Inszenierung von Jacques Offenbachs "Großherzogin aus Gerolstein", ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann mit Mendelssohn und Wagner, eine Ausstellung mit Fotografien des Bernd-Becher-Schülers Boris Becker in Köln, Jeff Nichols' Film "Shotgun Stories", die in Frankreich erstmals erschienene gesamte Korrespondenz von Louis-Ferdinand Celine und weitere Bücher, darunter Annegret Helds Geheimdienstroman "Fliegende Koffer" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).