Heute in den Feuilletons

Eine Art Mauseloch der Angst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2010. Die Karikatur Kurt Westergaards ist so plump, dass sie die Verteidigung nicht lohnt, meint die SZ. Anders sieht es Henryk Broder in Spiegel Online: Bei Rushdie gab es noch einige Verteidiger, heute obsiegt die Kapitulation. Wolfgang Benz zieht in der SZ außerdem eine Parallele zwischen Islamkritik und Antisemitismus. Alle Zeitungen erinnern an Albert Camus, der vor fünfzig Jahren gestorben ist: "Es sind die Einzelnen, denen die Gesellschaften zu danken haben. Nicht umgekehrt", lernt  Arno Widmann in der FR von Camus.

Aus den Blogs, 04.01.2010

Der Blogger BlackSun hat die CNN-Berichterstattung zum Mordanschlag auf Kurt Westergaard verfolgt: "As the camera followed Westergaard around his home, it passed a framed image on the wall of his studio of the now infamous cartoons. Damn if they didn't blur the image! That single act speaks volumes about our collective cowardice in the face of a threat we neither fully understand nor have the courage to confront."

Diana West von der in Kopenhagen residierenden International Free Press Society begleitete Kurt Westergaard im Septermber auf einer USA-Reise, wo er über die Karikaturenaffäre sprach. Und "Surprise, surprise, the Westergaard cartoon didn't see media light of day during Kurt?s entire trip. American media disgraced themselves by covering Westergaard, his cartoon, the threats to his life, the barbarous Islamic reaction from the highest reaches of the Islamic diplomatic world to the Islamic street protests that resulted in loss of life, Kurt's principles, free speech - all without ever showing readers and viewers the cartoon itself."

Telepolis
meldet, dass in Irland ein Blasphemie-Gesetz verabschiedet wurde, das Gotteslästerung mit Strafen von bis zu 25.000 Euro sanktioniert und verweist auf das Blog blasphemy.ie, wo Michael Nugent gleich 25 blaspehmische Zitate online gestellt hat: Zitiert wird (neben Jesus, Benedikt XVI., Christopher Hitchens und anderen) die Schauspielerin Amanda Donohoe, die in einem Film von Ken Russell auf Jesus spucken musste: "Spitting on Christ was a great deal of fun. I can?t embrace a male god who has persecuted female sexuality throughout the ages, and that persecution still goes on today all over the world."

Wochenlang fragte sich Stefan Niggemeier, ob der Typ, der unter dem Namen Konstantin Neven-Dumont seine Kommentarspalten vollschreibt, wirklich der Jungverleger gleichen Namens ist. "Ungefähr, als er ankündigte, demnächst ein Musikvideo seiner Band hier einzustellen ('Singen ist nämlich meine Leidenschaft'), beschloss ich, dass es sich um ein Fake handeln müsse - auch die E-Mail- und IP-Adresse deuteten nicht darauf hin, dass es sich um den "echten? Neven DuMont handelte. Ich löschte daraufhin einige seiner Kommentare und ließ neue nicht mehr automatisch erscheinen. Dann bekam ich erst eine Facebook-Nachricht von ihm mit dem Betreff 'Zensur auf Ihrer Seite!' Und dann eine E-Mail seiner Sekretärin, die um Rückruf bat."

Nach den fetten Tagen: Hier eine kleine Übung. Aber bitte langsam und akkurat ausführen.




(Via Glaserei) Wurde Ihnen ein digitaler Bilderrahmen geschenkt? Er könnte Ihrer Gesundheit schaden. Robin King hat ein Jahr an diesem Video gearbeitet.



Ten Thousand Pictures of You from Robin King on Vimeo.

Spiegel Online, 04.01.2010

Im Fall von Salman Rushdie hat die westliche Öffentlichkeit noch gegen die Fatwa protestiert. Bei den dänischen Karikaturen war es aus damit. Henryk M. Broder zeichnet die Geschichte einer schleichenden Kapitulation: "Wären die Mohammed-Karikaturen flächendeckend in der deutschen Presse nachgedruckt worden, hätten die Zeitungsleser sich selbst ein Bild machen können, wie exzessiv harmlos die zwölf Zeichnungen waren und wie bizarr und gegenstandslos die ganze Debatte, statt die Beurteilung 'Experten' zu überlassen, die jede Kritik am Papst und der Kirche, jede blasphemische Kunstaktion im Namen der Meinungsfreiheit verteidigen, im Falle der Mohammed-Karikaturen allerdings plötzlich der Ansicht waren, man müsse auf religiöse Gefühle anderer Menschen Rücksicht nehmen. Das freilich war nur eine Ausrede, eine Art Mauseloch der Angst."

Stellvertretend für mehrere Leserkommentare zu Broders Artikel hier ein Kommentar von von maykl (15): "Guter Artikel. Nur leider macht der Spiegel insgesamt immer noch das Gleiche. Ich vermisse in der aktuellen Fotostrecke zum Thema die strittigen Karrikaturen. Stattdessen gibt es nur ganz hinten, quasi verschaemt ein Foto mit Zeitungsausschnitten auf denen zumindest die eine Karrikatur zu sehen ist."

FR, 04.01.2010

Arno Widmann läutet das Gedenken an Albert Camus ein, der vor fünfzig Jahren gestorben ist, der dem "Verrat der Intellektuellen" (gegenüber dem Kommunismus) widerstand und dem Einzelnen immer dem Vorrang vor der Gesellschaft gegeben hat: "Die Abschaffung der Sklaverei und die Gleichberechtigung der Frau begannen an den Teetischen von Damen der besseren Londoner Gesellschaft. Für Völkermord haben wir ein Wort, weil ein polnischer Jude sich für den an den Armeniern interessierte, noch bevor seine Familie dem der Nazis zum Opfer fiel. Es sind die Einzelnen, denen die Gesellschaften zu danken haben. Nicht umgekehrt. Das kann man lernen von Albert Camus, und ebenso gut kann man lernen von ihm, dass wer immer den Vorrang der Gesellschaft einklagt, seinen eigenen, den seiner Clique im Auge hat. Gesellschaft ist der Ort, an dem die vielen Einzelnen um ihren Platz kämpfen. In diesem Kampf entscheidet es sich, ob wir nicht nur Einzelne sind, sondern es auch - ohne Zyniker oder Selbstmörder zu werden - sein dürfen."

Weiteres: Hans-Klaus Jungheinrich unterhält sich mit dem designierten Chef der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira, über die Kunst teurer Opernproduktionen. Der Naturschützer Michael Müller drängt in Klimafragen noch einmal zu Eile. Besprochen werden Eva Menasses Erzählungen "Lässliche Todsünden".

Auf der Medienseite stellt Ernst Elitz zwölf Thesen zur Verbesserung des Journalismus auf (online steht der Artikel bei der Berliner Zeitung).

Auf der Meinungsseite kommentiert Arnd Festerling den Anschlag auf den Karikaturisten Kurt Westergaard. Auf den Islam könnten sich solche Fanatiker nicht berufen, meint er: "Dabei könnten sie Gott nicht ferner sein mit ihrer Angst vor anderen Religionen, vor toleranten Weltbildern, vor dem Verlust der eigenen Macht, vor der anderen Meinung."

NZZ, 04.01.2010

Roman Bucheli bilanziert die digitale Revolution der Nuller Jahre, deren befreiende Wirkung er nicht sehr hoch veranschlägt, und vergibt einen klaren Punktsieg an die Kulturpessimisten (wobei ihm nur George Steiner als Gewährsmann dient): "Sie mögen Spielverderber sein und etwas lächerliche, da wirkungslose Bremser. Doch ihre Einwürfe sind die Widerhaken kritischen Denkens. Und sie sind allemal und auch in ihren Irrtümern interessanter, herausfordernder als die digitalen Himmelsstürmer, denen nichts unmöglich und alles Denkbare auch erstrebenswert scheint."

Weiteres: Mona Sarkis meldet den neuen Trend in Arabiens digitaler Boheme, beim Chatten und Texten Arabisch in lateinischer Umschrift zu benutzen. Arabisi heißt das Ganze, zusammengesetzt aus den Wörtern "Arab" und "easy". Auf einer ganzen Seite berichtet Markus M. Haefliger vom neuen Archiv, das Südafrikas Regierung dem malischen Timbuktu zur Aufbewahrung seiner zum Teil siebenhundert Jahre alten Handschriften geschenkt hat. Besprochen wird eine Ausstellung des belgischen Künstlers James Ensor im Pariser Musee d'Orsay.

TAZ, 04.01.2010

Reinhard Wolff findet in einem kleinen Kommentar zum Mordanschlag auf Kurt Westergaard klare Worte: "Der Schutz vor Kräften, welche die Meinungs- und Pressefreiheit mit Terror und Gewalt ausschalten wollen, ist lebenswichtig für eine demokratische Gesellschaft - egal, was man nun von Westergaards famoser Mohammed-Karikatur halten mag."

Im Feuilleton liest Michael Rutschky Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" in der neuen Mann-Gesamtausgabe. Dirk Hagen fragt, was die Stadt Essen mit ihrem Kulturhauptstadtjahr erreichen will. Und ebenso fragt Jürgen Gottschlich im Falles Istanbuls. Und Brigitte Werneburg stellt den Münchner Künstler Rudolf Herz vor, der mit entsorgten Lenin-Statuen auf Tournee geht.

Und Tom.

Welt, 04.01.2010

Heute wird in Dubai das höchste Gebäude der Welt eröffnet: der Burj Dubai. Michael Schindhelm, von 2007 bis 2009 Kulturmanager Dubais, beschreibt den Bau als Emanzipationsgeschichte: "Wenn heute Menschen und Kapital aus dem Westen in Dubai arbeiten, dann, weil sie von den Emiraties eingeladen worden sind, nicht, weil das der Westen so will. Wo Dubai heute aussieht wie eine Imitation unserer eigenen Kultur, sollte man sich nicht täuschen lassen. Nachahmung wird von den Strategen am Golf nicht als Ziel, sondern als eine Durchgangsstation der eigenen Entwicklung gesehen. Einst, so heißt es in Dubai, wollen wir dem Westen auf Augenhöhe begegnen."

Weitere Artikel: Wolf Lepenies schreibt zum 50. Todestag von Albert Camus. In der Leitglosse fordert Eckhard Fuhr ein Einheitsdenkmal für das ganze Deutschland und nicht für Ostdeutschland. 2010 ist das Jubiläumsjahr der großen Komponisten, informiert uns Volker Tarnow. Hannes Stein schickt einen Brief aus Brooklyn über seine nicht ganz problemlose Rückkehr nach New York. Kai Luehrs-Kaiser schreibt zum 300. Geburstag des italienischen Komponisten Giovanni Pergolesi.

Besprochen werden Franz Wittenbrinks Liederabend "Lobbyisten" am Sächsischen Staatsschauspiel Dresden und eine Porträtausstellung in Wolfsburg.

Auf der Forumsseite zieht der Soziologe Gerhard Amendt eine scharfe Trennlinie zwischen Feminismus und Frauenbewegung: "Die Frauenbewegung stand für zweierlei: die Selbstermächtigung der Frau, die Amerikaner sprachen von Empowerment, und für die streitbare Veränderung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Der Feminismus steht für das Gegenteil: Er ordnet alle Frauen irgendeiner Haupt- oder Unterkategorie von Opfern zu. Macht wird ihnen abgesprochen. Die Männer hingegen werden letztlich einer kollektiven Henkerkategorie zugerechnet."

FAZ, 04.01.2010

Matthias Hannemann schildert die dänischen Reaktionen auf den Anschlag gegen den Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard. Julia Voss betrachtet den "Twilight"-Saga-Film "New Moon" und James Camerons "Avatar" im Gender-Vergleich. In der Glosse hat Jan Wiele ein Dichtmilch-Erlebnis. In Paris trifft Joseph Hanimann Alfred Döblins Sohn Stephan, der einmal der Finanzchef von Renault war und die Werke des Vaters nur in französischer Übersetzung lesen kann. In deutschen Zeitschriften liest Ingeborg Harms unter anderem Aufsätze zu Fernsehserien, Baudrillard und Effi Briest. Camilla Blechen porträtiert den neuen Dresdener Museumsleiter Bernhard Maaz. Geburstagsglückwünsche gehen an den Literaturnobelpreisträger Gao Xinjiang (70) und den Architekten Helmut Jahn (70).

Besprochen werden die erste Retrospektive des Comickünstlers Ralf König "Der Eros der Nasen" in Oberhausen, die Ausstellung "Bauhausstadt" in Dessau und Bücher, darunter Norbert Bolz' polemischer "Diskurs über die Ungleichheit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 04.01.2010

Nach dem Mordanschlag Kurt Westergaard stellt sich für Chef der SZ-Feuilletons (das die Karikaturen nicht abdruckte) Andrian Kreye ernstlich die Frage: "Was zählt mehr? Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit? Oder der Respekt für religiöse Gefühle?" Eine Frage, die er dann aber besonders im Falle der Karikatur Westergaards für hinfällig erklärt, denn anders als Rushdies Roman "Satanische Verse" ist die Zeichnung Westergaards für Kreye sowieso nicht zu verteidigen: "Schon der Vergleich zwischen Karikatur und Roman hinkt. Man kann ein Werk der Weltliteratur, in dem sich einer der klügsten Schriftsteller unserer Zeit auf kulturgeschichtlich höchstem Niveau mit den religiösen Spannungen seines Heimatlandes Indien auseinandersetzt nicht mit der plumpen Witzelei eines dänischen Karikaturisten vergleichen." (Mit der Behauptung der Dummheit der Karikaturen, die sie ihre Leser niemals überprüfen ließ, entlastet das Feuilleton der SZ sein schlechtes Gewissen über die eigene Feigheit nicht zum ersten Mal, mehr dazu hier: "Wie albern waren die Mohammed-Karikaturen?").

Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz parallelisiert in einem Essay für Seite 2 Islamkritik und Antisemitismus: "Wer sich, zu Recht, über die Borniertheit der Judenfeinde entrüstet, muss aber auch das Feindbild Islam kritisch betrachten (das sich zuweilen eines aggressiven, aufgesetzten Philosemitismus bedient). Es ist ein Gebot der Wissenschaft, die Erkenntnisse, die aus der Analyse des antisemitischen Ressentiments gewonnen wurden, paradigmatisch zu nutzen... Derzeit wird der Islam gedanklich mit Extremismus und Terror verbunden, wodurch alle Angehörigen der islamischen Religion und Kultur mit einem Feindbild belegt und diskriminiert werden sollen."

Weitere Artikel: Gustav Seibt begleitet den Suhrkamp Verlag durch seine ersten Berliner Tage. Johannes Boie besuchte das Jahrestreffen des Chaos Computer Clubs. In den "Nachrichten aus dem Netz" portätiert Tobias Moorstedt den pensionierten US-Computerwissenschaftler Gordon Bell, der im Auftrag von Microsoft sein gesamtes Leben auf Festplatte dokumentiert. Sebastian Schoepp porträtiert den Rapper und Tangosänger Fernando Santullo aus Uruguay. Gottfried Knapp gratuliert dem Architekten Helmut Jahn zum Siebzigsten. Rinhard J. Brembeck erinnert an den Komponisten Giovanni Battista Pergolesi, der vor 300 Jahren geboren wurde. Sebastian Neidhart erinnert an den koreanischen Nationalhelden Ahn Jung-geun, der vor hundert Jahren den japanischen Prinz Hirobumi Ito ermordete und dessen Kalligrafien zur Zeit im Kalligraphie-Museum in Seoul gezeigt werden. Johannes Willms schreibt zum 50. Todestag Albert Camus'. Hans-Peter Kunisch gratuliert dem chinesischen Literaturnobelpreisträger Gao Xingjiang zum Siebzigsten. Thomas Steinfeld erinnert daran, wie Wie Karen Blixen vor fünfzig Jahren den Nobelpreis nicht bekam.

Besprochen werden einige DVDs, und die Ausstellung "The Lost World of Old Europe - The Danube Valley, 5000-3500 BC" in New York.