Heute in den Feuilletons

Komm zur Ruh

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2010. Die amerikanischen Blogs diskutieren über eine Äußerung des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg, der meint, dass Internetnutzer immer weniger Privatsphäre wollen. Das Blog Bewegliche Lettern ist auf eine Diskrepanz gestoßen: Der Bund will 5 Millionen Euro für die Digitalisierung von Kulturgütern ausgeben. In Frankreich liegt die Summe bei 750 Millionen Euro.  Die New York Post meldet, dass das Metropolitan Museum in New York ab sofort keine Mohammed-Bilder mehr zeigt.  Die Welt veröffentlicht ein Manifest der grünen Bewegung im Iran, und Abdolkarim Soroush erklärt, warum der Aufstand eine Theorie braucht. Die FAZ erklärt ihre Bereitschaft zum Selbstopfer für das Recht aufs islamische Kopftuch.

Aus den Blogs, 11.01.2010

Ehemals private Daten wie Freundeslisten sind nach Änderungen der Standardeinstellungen bei Facebook öffentlich. Facebookgründer Mark Zuckerberg hat diese Änderungen im Interview mit dem Blog Techcrunch verteidigt. Marshall Kirkpatrick kommentiert im ReadWriteweb: "I don't buy Zuckerberg's argument that Facebook is now only reflecting the changes that society is undergoing. I think Facebook itself is a major agent of social change and by acting otherwise Zuckerberg is being arrogant and condescending. Perhaps the new privacy controls will prove sufficient. Perhaps Facebook's pushing our culture away from privacy will end up being a good thing. The way the company is going about it makes me very uncomfortable, though..."

Wenig freundlich äußert sich auch Foster Kamer in Gawker zu Zuckerbergs Äußerungen: "Is it someone's choice to be on Facebook? Absolutely. But were users who were insured privacy after investing all that information into it violated when that information of theirs-used to build a company on-went from being unmolested to fully exposed? Yeah, they pretty much were."

Ilja Braun schreibt in Carta zur "Vergütungsregel", die die Journalistengewerkschaften mit Zeitungsverlegern als Honorarordnung für freie Journalisten ausgehandelt haben. Wie verbindlich ist sie eigentlich? "Der Alleinvertretungsanspruch von djv und dju ist .. ausgesprochen problematisch. Insofern eine 'gemeinsame Vergütungsregel' nach §36 Urheberrechtsgesetz per definitionem für alle freien Journalisten an Tageszeitungen gilt, ob sie nun Gewerkschaftsmitglieder sind oder nicht, wäre es durchaus naheliegend, wenn die Gewerkschaften eine Abstimmung unter allen Betroffenen über eine solche Vereinbarung ermöglichen würden."

Eine gewisse Diskrepanz stellt Thomas Rohde in den Beweglichen Lettern bei der Verteidigung nationalen Kulturguts in Deutschland und Frankreich fest: "Mit rhetorischem Pomp hat die Bundesregierung Anfang Dezember die Einrichtung der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) angekündigt. Aus dem Konjunkturprogramm II lässt die Regierung dafür ab 2011 eine Anschubfinanzierung von 5 Mio Euro springen, danach sollen Bund und Länder jährlich 2,6 Mio aufbringen. Jetzt legt Frankreich Zahlen für seine Digitalisierungsoffensive vor: Wie "The Bookseller? berichtet, sollen 750 Mio Euro für die Digitalisierung von Kulturgut zur Verfügung gestellt werden, davon allein 150 Euro Mio für die Bibliotheque nationale de France (BnF)."

Welt, 11.01.2010

Auf der Meinungsseite ist ein "grünes Manifest" abgedruckt, dass den "Anführern" der iranischen Opposition eine Art Leitfaden für die Zeit nach der Revolution an die Hand geben soll. Verfasst haben es fünf Exiliraner, darunter der Philosoph Abdolkarim Soroush. Letzterer erklärt im Interview seine Beweggründe für das Manifest: "Es wird die Ziele und Absichten verdeutlichen, besser definieren und artikulieren. In diesem Stadium brauchen wir das. Ich sage seit Jahren, dass die Revolution theorielos war. Es war eine Revolution gegen den Schah - keine positive, sondern eine negative Theorie. Ich habe darauf bestanden, dass, so es zu einer neuen Bewegung kommt, diese eine Theorie haben muss. Die Menschen sollten wissen, was sie wollen, nicht nur, was sie nicht wollen. Deshalb versuchen wir - in bescheidenem Umfang -, eine Theorie für diese Bewegung auf den Weg zu bringen."

Im Feuilleton freut sich Eckhard Fuhr über die Feierlichkeiten zur Eröffnung des Kulturhauptstadtjahrs 2010 im Ruhrgebiet, staunt über die phantastischen Kopfbedeckungen anwesender Politiker und wird auf die Erde zurückgeholt von Herbert Grönemeyer: "Und plötzlich war alles an seinem Platz wie eh und je. Es ist ja kein Zufall dass 'Komm zur Ruhr' klingt wie 'Komm zur Ruh'." Frank Maier-Solgk stellt zwei spektakuläre Museumsneubauten in Bochum (Deutsches Bergbau-Museum) und Essen (Ruhrmuseum) vor. Ground Zero bleibt bis auf weiteres Baugrube, berichtet Hannes Stein aus New York. Das Sammlerehepaar Ulla und Heiner Pietzsch will Teile seiner Surrealisten-Kollektion der Neuen Nationalgalerie schenken, meldet Gabriela Walde. Michael Brand, Direktor des Getty Museums in Los Angeles, hat ohne Angabe von Gründen gekündigt, berichtet Uta Baier. Der Text auf einer im Elah-Tal bei Jerusalem gefundenen 3.000 Jahre alten Tonscherbe wurde entziffert, erzählt Norbert Jessen: Er ist erstens auf Hebräisch geschrieben und handelt zweitens laut Übersetzer Gershon Galil von den sozial Schwachen und deren Anspruch auf königliche Hilfe.

Besprochen werden Jan Klatas Inszenierung von Mark Ravenhills Kurzdramenzyklus "Shoot / Get Treasure / Repeat" am Düsseldorfer Schauspielhaus (Klata "hat es zuwege gebracht, dem Text jegliche Brisanz zu nehmen", ärgert sich Ulrich Weinzierl), eine Ausstellung über den Alpinsportfilmer, Filmregisseur und Entdecker Leni Riefenstahls Arnold Fanck im Alpinen Museum in München und einige CDs.

Weitere Medien, 11.01.2010

(Via Achgut) "Is the Met afraid of Mohammed?", fragt die New York Post (ja, die Post) und teilt mit: "The Metropolitan Museum of Art quietly pulled images of the Prophet Mohammed from its Islamic collection and may not include them in a renovated exhibition area slated to open in 2011, The Post has learned. The museum said the controversial images -- objected to by conservative Muslims who say their religion forbids images of their holy founder -- were 'under review'."

TAZ, 11.01.2010

Wilfried Wenke und Robert Schröpfer würdigen die Kunstsammlerin und -historikerin Rosa Schapire, der die Kunstsammlungen Chemnitz viele Brücke-Bilder verdanken. Andreas Wyputta fragt, was der Titel der Kulturhauptstadt letztlich für das Ruhrgebiet bedeuten wird. Jörg Sundermeier verfolgte eine Diskussion zwischen Cetin Güzelhan, Sevgi Özdamar und Cem Özdemir zum Thema "Urbane Ungleichzeitigkeiten" in der Berliner Akademie der Künste. Und Nadja Geer hörte einer Tagung zum gegenwärtigen Stadt der Poptheorie zu.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Fotografien Boris Beckers (eine zufällige Namensgleichheit) in Köln.

Schließlich Tom.

NZZ, 11.01.2010

Der in Frankfurt lebende russische Autor Oleg Jurjew erzählt die fiktive, aber möglicherweise wahre Geschichte des Mischa Generalow, eines regimetreuen Schriftstellers, der immer oben schwamm, sich liberal und kritisch gab, aber dabei stets darauf achtete, "das Leben zu bejahen": "Mischa Generalow ist mir als Mensch immer noch sympathisch. Aber ich bin sicher, dass er und seine ganze Schicht, die alte sowjetische hochgestellte Intelligenzschicht, mit ihrem angeborenen 'Vollwertigkeitskomplex' der Hemmschuh für die Entwicklung einer neuen, von politischen und anderen Zwängen freien russischen Kultur sind. Und ohne eine solche Kultur kann man ein neues, besseres Russland nicht bauen."

Bernard Imhasly erklärt die komplizierte Rivalität zwischen Indien und China, bei der Indien meist den Kürzeren zieht: "Delhi hat im Grund nur eine Waffe, um die zahlreichen Sticheleien von jenseits des Himalaja mit der gleichen Münze heimzuzahlen - die Unterstützung, die es dem Dalai Lama gewährt."

Besprochen werden Kleists Lustspiel "Der zerbrochne Krug" am Luzerner Theater und Konzerte des ungarischen Komponist Marton Illes in Basel.

SZ, 11.01.2010

Johan Schloemann berichtet von der Eröffnung des Kulturhauptstadtjahrs in Essen. Dirk Graalmann fragt in einem beistehenden Artikel, "welche nachhaltig politischen Wirkungen der Titel der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 für das Revier entfalten kann", und erinnert daran, dass das Ruhrgebiet trotz entsprechender Ideen verwaltungstechnisch bis heute keine Einheit ist. Jens-Christian Rabe lässt die HipHop-Neuerscheinungen des Vorjahrs Revue passieren und möchte nicht in die Abgesänge des New Yorker (hier) und des Guardian (hier) auf das Genre einstimmen. Laura Weißmüller fürchtet um das historische Hotel Silber (so heißt umgangssprachlich die ehemalige Gestapo-Zentrale der Stadt) in Stuttgart, das abgerissen werden soll. Gottfried Knapp schreibt zum Tod des Münchner Architekten Walter Betz. Jean-Michel Berg stellt ein Slow-Media-Manifest vor, das erschrocken auf Frank Schirrmachers Klage reagiert, er verliere durch das Netz die Kontrolle, und verweist in aller Eile auf weitere Initiativen (zum Beispiel hier) zur Verlangsamung und Nachhaltigkeit im Internet.

Besprochen werden Karin Beiers Theaterversion von Ettore Scolas Film "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" in Köln (Vasco Boenisch teilt in seiner Kritik zugleich den neuesten Stand der Diskussionen um den Kölner Theaterneubau mit), neue DVDs, eine große Ausstellung mit Fotografien von Lillian Bassman und Paul Himmel in Hamburg und Bücher, darunter eine Edition mit den Gefängnisbriefen Helmuth James von Moltkes (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 11.01.2010

Arno Widmann lässt sich vom Philosophen Axel Honneth erklären, warum Jugendliche in Schlabberhosen verdammt nochmal den Respekt verdienen, den sie ja auch immer schon herbeirappen: "Ohne Liebe und auch ohne Wertschätzung fehlt den Gesellschaftsmitgliedern eine wesentliche Dimension des Einbezogenseins. Bei der Wertschätzung geht es ja darum, einem Anderen über die Anerkennung als ein anderes autonomes Subjekt hinaus einen Mehrwert zu geben, aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Leistungen, die er anderen voraushat."

Weiteres: Renate Klett stellt das politische Theater Hans-Werner Krösingers vor, dessen Stück "Capital Politics" derzeit im Berliner HAU zu sehen ist. Stefan Keim fasst mit reichlich Hauruck-Humor die Eröffnung des Essener Kulturhauptstadtjahrs zusammen. In Times mager sinniert Christian Schlüter über die Kanzlerin, die Macht und das Glück. Auf der Medienseite berichtet Andreas Förster von der späten Erkenntnis der taz, mit kruden Aids-Theorien KGB und Stasi aufgesessen zu sein.

FAZ, 11.01.2010

Joseph Croitoru schildert angesichts der jüngsten Anschläge, dass Al-Qaida offenbar Fortschritte in moderner Explosionschemie gemacht hat und diese nun auch zur Propaganda nützt: "Die nachträgliche Videoinszenierung des Anschlags auf Prinz Naif enthält ein Novum. Sie zeigt den Attentäter al-Assiri zusammen mit einigen Anführern hinter einem Tisch, auf dem wie in einem Chemielabor zahlreiche Glasgefäße stehen: Der Terrorist in der Pose des Alchemisten."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann war dabei, als in Essen unter dann doch nicht ganz so widrige Wetterbedingungen das Kulturhauptstadtjahr "Ruhr 2010" eröffnet wurde. In der Glosse freut sich Paul Ingendaay über einen Etappensieg für das alte Städtchen El Cabanyal, das von der Planierung bedroht ist, weil es Valencias direktem Zugang zum Meer im Weg steht. Aus dem Amtsgericht in Berlin-Moabit berichtet Klaus Ungerer von einem Prozess, bei dem es um die "Misshandlung von Schutzbefohlenen" geht. Jürg Altwegg liest beim Blick in Schweizer Zeitschriften über den Niedergang der Kulturberichterstattung im Land und das Ansehen von Schweizer Schriftstellern in Deutschland. Tilmann Spreckelsen konstatiert flächendeckende Verkaufserfolge für Kinder- und Jugendbücher. Felicitas von Lovenberg liest neue Vampir-Romane.

Besprochen werden die Ausstellung "Ritorno al Barocco" in gleich sechs Museen in Neapel, Mark Neveldines und Brian Taylors Actionfilm "Gamer" (mehr) und Bücher, darunter Andre Dubus III 9/11-Roman "Der Garten der letzten Tage" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der Sonntags-FAZ macht Claudius Seidl in einem Artikel gegen Henryk Broder einen originellen Vorschlag. Obwohl es ihm modisch nicht zusagt, erklärt er sich zum Selbstopfer für das Recht aufs islamische Kopftuch bereit: "Ich mag Ihr Kopftuch nicht. Aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sich kleiden dürfen, wie Sie wollen."