Heute in den Feuilletons

Wir sind eure Hauptstadt, ihr Bauern!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.01.2010. Die taz hyperventiliert: Sie musste feststellen, dass Feminismus rechts ist. Die NZZ bringt ein Gespräch über das Schweizer Unbehagen am deutschen Professor, der einfach ein bisschen präpotent ist. Warum hat Hertha keine Fans?, fragt Wolf Lepenies in der Welt.  Die New York Times wird demnächst zahlbar, melden Blogs und andere Medien. Verlinken ist ein Menschenrecht, ruft Jeff Jarvis an die Adresse Rupert Murdochs im Guardian. In der SZ schreibt Richard Fleming aus Haiti über die Rolle der sozialen Medien bei der Bewältigung der Erdbebenfolgen.

Berliner Zeitung, 18.01.2010

Hans Richard Edinger, Bildredakteur der Berliner Zeitung, schreibt über die Fotos, die ihn aus Haiti erreichen und die zum Schlimmsten gehören, was er je gesehen hat: "Funktioniert so die Dramaturgie einer karibischen Apokalypse? Deren Höhepunkt sich etwa in einem Foto von einem Mann widerspiegelt, der breitbeinig auf einem dieser Leichenberge stand und dessen rechte Hand den Knöchel eines kleinen Kindes umfasste? Leblos, kopfüber, einer Puppe gleich, hing dieser so zerbrechliche Körper daran. Wie ein Lamm auf der Schlachtbank einer erbarmungslosen Nachrichtenwelt."
Stichwörter: Apokalypse, Haiti, Puppen

TAZ, 18.01.2010

Feminismus kann auch Rassismus sein, zumindest wenn es darum geht, muslimische Frauen zu befreien, behauptet die Psychologieprofessorin Birgit Rommelspacher und rückt Necla Kelek und Seyran Ates, die von ihr ausdrücklich genannt werden, in die Nähe der Nazis: "Wer jedoch zögert, die Machtanmaßungen des Kolonialismus mit Feminismus zusammen zu denken, der sollte wissen, dass auch im Nationalsozialismus Frauen ihre 'rassische' Überlegenheit mit ihrem Einsatz für die Gleichstellung von Mann und Frauen begründeten."

Im Kulturteil berichtet Julian Weber über die Pop-Veranstaltung "Life is Live" im Berliner Hebbel am Ufer. Außerdem erzählt Weber über den geschickten Umgang der Rapperin MIA mit dem Internet.

Besprochen werden Sebastian Nüblings Inszenierung von Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" in den Münchner Kammerspielen und die ersten zwei Bände der Ror-Wolf-Werkausgabe (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 18.01.2010

Schade, dass die Berliner Hertha BSC nicht genug unterstützen, klagt Wolf Lepenies auf der Forumsseite. Nur 12.500 Dauerkarten wurden letzte Saison verkauft (die Fans von Borussia Dortmund kauften 48.500!), so kann sich eine Verein nicht finanzieren. Sollte Hertha "wider alle Hoffnung doch in die Zweite Liga absteigen, wird Berlin die deutsche Hauptstadt bleiben. Daran erinnern schon jetzt die Fans des 1. FC Union, der sich noch Chancen auf den Aufstieg in die Erste Bundesliga ausrechnet. Wenn im Stadion an der Alten Försterei in der Wuhlheide die Gastmannschaft auf den Rasen läuft, schallt es ihr aus Tausenden von Kehlen der Fans von 'Eisern Union' entgegen: 'Wir sind eure Hauptstadt, ihr Bauern!'"

Im Feuilleton betrachtet Manuel Brug die pompöse Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt Istanbul, ein Titel, den die Stadt seiner Ansicht nach gar nicht braucht: "Dieses Kulturjahr wird in jedem Fall die Türkei näher an Europa rücken, egal was die Politiker in Brüssel tun. Denn diese nun Kulturhauptstadt gewordene urbane Legende, diese in historischen Relikten schockierend radikal sich häutende Zivilgesellschaft, die ungebrochen lebensvoll voranprescht, ist an sich schon so sehr Kulturstadt, dass auch dieser Titel nur ein Zacken mehr in einer schönen Krone aus Minaretten und Glockentürmen, sieben Hügeln und Meerbuchten, Hochhäusern und illegalen Armenvierteln sein wird."

Weitere Artikel: Eine Stiftung soll die Restaurierung des Kölner Stadtarchivs finanzieren, berichtet Hannelore Crolly, doch weiß noch niemand, wo das Geld dafür herkommen soll. Garbriela Walde freut sich über die Rückkehr von "Kottan" auf die Leinwand. In der Leitglosse erinnert Ulrich Clauß der Umgang Gregor Gysis mit dem unbequemen Dietmar Bartsch an die menschenverachtenden Tschekisten. Hannes Stein schickt einen Brief aus Los Angeles. Meryl Streep plaudert im Interview über Ehe, Kinder und Schauspielerei.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Dea Lohers Theaterstück "Diebe" am Deutschen Theater Berlin und Katharina Wagners Inszenierung von Puccinis "Butterfly" in Mainz.

NZZ, 18.01.2010

Über die neuerdings angefeindeten deutschen Professoren an Schweizer Unis unterhalten sich die Schweizer Staatsrechtlerin Christine Kaufmann und der deutsche Historiker Bernd Roeck. Während Kaufmann glaubt, dass es zwar Unbehagen gebe, aber kein Problem, meint Roeck: "Man muss auch sagen, dass es große Mentalitätsunterschiede gibt, das ist ja kaum zu bestreiten. Die Deutschen reden schneller, sie sind oft präpotent in ihrem Auftreten und eignen sich eben ganz gut als Feindbild, das ist leider der Fall. Sie erfüllen die Bedingungen, die man braucht, um Stereotypen zu konstruieren."

Weiteres: Bei einem Blick auf Chinas neue Städte konstatiert Matthias Daum, dass zwar die Kopien europäischer Städte wie Thames Town oder Anting gefloppt seien, nicht aber der echt innovative Massensiedlungsbau. Joachim Güntner schreibt zum Tod der Autorin Katharina Rutschky. Besprochen wird Richard Wherlocks Ballett "Carmen" im Theater Basel.

Aus den Blogs, 18.01.2010

Die New York Times wird im Netz demnächst zahlbar, meldet Robin Meyer-Lucht auf Carta unter Bezug auf einen Artikel des New York Magazines. Das Modell ist originell: "Demnach soll in Zukunft die Zahl der monatlich pro Nutzer frei abrufbaren Seiten auf Nytimes.com begrenzt werden. Häufige Nutzer sollen zahlende Online-Abonnenten werden."
Stichwörter: New York, New York Times, Zukunft

Weitere Medien, 18.01.2010

Murdoch hat in seinem Krieg gegen das Netz einem britischen News-Aggregator verboten, auf seine Zeitungen zu verlinken. Jeff Jarvis kommentiert im Guardian: "Linking is more than merely a function and feature of the internet. Linking is a right. The link enables fair comment. It powers the link economy that will sustain media. It is a tool for accountability. It is the keystone to free speech online."

Google dementiert alles, will doch in China bleiben und sucht das Gespräch mit der Regierung, melden die Agenturen heute - hier der Tickerverschnitt aus dem Standard.
Stichwörter: China, Jarvis, Jeff, Zeitungen, Tool

FR, 18.01.2010

Harry Nutt rät den Vertriebenenverbänden, weniger auf kleine politische Siege und mehr auf gesellschaftliche Akzeptanz zu zielen. Hans-Jürgen Linke kommt beim Gedanken an den Schnee und seine Spuren auch unvermeidlich auf Vico Toriani.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Dea Lohars neuem Stück "Diebe" am Deutschen Theater in Berlin ("Es ist ein unsicheres Stück, vielleicht ein Aufbruch", meint Tobi Müller), die Ausstellung "Schöne Madonnen am Rhein" im Landesmuseum Bonn, Katharina Wagners Aufführung von Puccinis "Madame Butterfly", Klaus Schumachers Inszenierung von "Romeo und Julia" im Hamburger Schauspielhaus und Jürgen Ottens Buch "Die großen Pianisten".

FAZ, 18.01.2010

Der Politologe James Davis und die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel erklären, warum Barack Obama so viel dem Internet verdankt - und warum das jetzt zum Problem für ihn wird: "Aus dem politischen Resonanzraum, der einst politische Öffentlichkeit hieß, ist eine Ansammlung von zielgruppenspezifischen 'Echo-Kammern' geworden. [Der Harvard-Professor Cass] Sunstein beobachtet, dass Menschen im Internet nur noch mit solchen Menschen sprechen oder ihnen zuhören, die sie für Gleichgesinnte halten, und sieht das als Gefahr für die politische Kommunikation..."

Weitere Artikel: Mark Siemons kann aus China sehr gemischte Reaktionen auf Googles Selbstzensur-Verweigerung vermelden. In der Glosse berichtet Paul Ingendaay, dass Verse des jung verstorbenen spanische Lyrikers Miguel Hernandez in einer Kapsel auf den Mond geschossen werden sollen. In osteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru mancherlei über das Slawentum. Wo die Linien im Streit um die Restaurierung von Schloss Lindich bei Hechingen verlaufen, erläutert Michael Hakenmüller.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs für Irene Bazingers Begriffe "formvollendet souveräne" Inszenierung von Dea Lohers Stück "Diebe" in Berlin, sehr kurz Michael Thalheimers Stuttgarter Version von Tschechows "Kirschgarten" ("entwest und entkirscht", klagt Gerhard Stadelmaier), Katharina Wagners Mainzer "Madame Butterfly"-Inszenierung, ein Berliner Konzert mit Stella Doufexis, bei dem selten gesungene Lieder Bela Bartoks zum Vortrag kamen und Bücher, darunter gleich zwei Sammelbände mit Lyrik von heute (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 18.01.2010

Zur Tragik der Katastrophe von Haiti gehört, dass das Land gerade in einer Phase des Auschwungs und Optimismus war, schreibt Richard Fleming, Professor an der Filmhochschule in Jacmel auf Haiti. Eine der Gründe hierfür ist das Mobiltelefonnetz, das dem Land ganz neue Kommunikationsmittel gab. Und jetzt spielen Dienste wie Twitter eine riesige Rolle: Besonders der Twitterstrom von Richard Morse, dem Besitzer des von Graham Greene berühmt gemachten Oloffson-Hotels: "Die virale News-Verbreitung von Twitter und Facebook ist im Kern demokratisch. Twitter ist der Welt größte Zeitung, redaktionell betreut von den Lesern. Jene, die Richard Morses Datenstrom zu folgen begannen, mit einer Rate von mehr als tausend pro Tag, werden ihn nicht plötzlich wieder abdrehen." Mehr zu Morse auch im Guardian.

Stefan Ulrich kommt auf das Pariser Benzin-Attentat auf die Schauspielerin und Autorin Rayhana (mehr hier) zurück: "Der Künstlerin muss das alles wie ein Deja-vu-Erlebnis erscheinen. In Algier geboren, hatte sie in ihrer Heimat Schauspielschulen besucht, in Filmen mitgewirkt, als Regisseurin gearbeitet. Dabei erlebte die Feministin und Kommunistin, wie Kollegen von Extremisten ermordet wurden. Sie selbst lebte lange im Verborgenen, bevor sie im Jahr 2000 Asyl in Frankreich erhielt."

Weitere Artikel: Johannes Boie verweist in den "Nachrichten aus dem Netz" auf ein Interview mit einem Facebook-Mitarbeiter in therumpus.net, das auf riesige Datenschutzlücken und skrupellose Sammelei des Konzerns hinweist. Alexander Kissler verfolgte eine bildungspolitische Debatte mit dem bayerischen Kunst- und Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch. Sonja Zekri schreibt zum Tod des mutigen Moskauer Denkmalschützers David Sarkisjan.

Besprochen werden Katharina Wagners Inszenierung der "Madame Butterfly" in Mainz, eine Choreografie Hans Henning Paars zu Hans Zenders Version der "Winterreise" in München, erste Festivitäten der Kulturhauptstadt Istanbul, Sebastian Nüblings Inszenierung der "Endstation Sehnsucht" an den Münchner Kammerspielen, eine DVDs mit klassischer Musik, eine Ausstellung über den Kunsttischler Ludwigs XIV., Andre Charles Boulle, in Frankfurt und Bücher, darunter eine Neuausgabe von Siegfried Kracauers Studie "Geschichte - Vor den letzten Dingen".

Auf der Medienseite weist Willi Winkler auf die von Springer online gestellten Artikel der Konzernzeitungen von 1968 hin.