Heute in den Feuilletons

Die Stimmen, die da ins Dunkel aufstiegen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2010. Die Welt freut sich auf die vollständige Fassung von Fritz Langs "Metropolis".  Außerdem plädiert Gerhard Schulze in der Welt gegen einen Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan. Die FAZ fragt sich, was eigentlich in die Professorin Birgit Rommelspacher gefahren ist, die Islamkritikerinnen in die Nähe von Nazis rückt.  Henryk Broder hat für den Spiegel Kurt Westergaard besucht. Die SZ lotet die Krise der Literturkritik in der Schweiz aus. Die SZ ist außerdem entsetzt darüber, dass die SZ lobende Blogger für die SZ-Werbung kaufte.

Welt, 20.01.2010

"Am 12. Februar erlebt 'Metropolis' von Fritz Lang auf der Berlinale seine zweite Weltpremiere.", ruft Werner Sudendorf von der Deutschen Kinemathek. In den bisher laufenden Fassungen des Films fehlen nämlich 25 Minuten. Sudendorf erzählt noch mal, wie sie wieder auftauchten: "Ein argentinischer Verleiher hatte 1927 von der Ufa die ungekürzte Fassung gekauft, diese mit spanischen Titeln versehen und jahrelang gezeigt. Sie wurde dann, mit allen Schrammen und Verschmutzungen, auf 16 mm umkopiert und dem argentinischen Filmmuseum übergeben. Dort entdeckte sie Paula Felix Didier, dessen Direktorin." Nun ist sie restauriert und der Film wieder annähernd komplett.

Der Soziologe Gerhard Schulze plädiert auf den Feuilletonseiten gegen einen Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan: "Die Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche Deutschlands, Margot Käßmann, sagt: 'Nichts ist gut in Afghanistan', was schon rein faktisch nicht stimmt. Mit diesem Satz klammert sie alles aus, was dort seit dem Ende der Schreckensherrschaft 2002 an neuer Hoffnung gekeimt ist und an Wiederaufbau geleistet wurde. Sie fordert 'mehr Fantasie für den Frieden' und ist zugleich für den Abzug des Westens, komme was wolle. Armer Frieden, armes Afghanistan."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr blickt dem "idealtypisch Sprachbösen" in Gestalt des Unworts des Jahres "betriebsratsverseucht" ins Antlitz. Cosima Lutz porträtiert die 17-jährige Romanautorin Helene Hegemann. Sophia Seiderer wirft einen Blick auf die kommende Expo in Schanghai. Hannes Stein erzählt eine leicht ekelerregende Räuberpistole aus Peru, wo ein Polizeichef, um von Untaten der eigenen Truppe abzulenken, behauptete den Morden einer Bande auf die Spur gekommen zu sein, die armen Peruanern das Fett absaugte, um es, in Cola-Flaschen abgefüllt, an Israelis zu verkaufen. Und Manuel Brug spricht mit Max Raabe über sein neues Album.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Genre der Kunstkammer-Gemälde in Antwerpen und Sebastian Nüblings Neuinszenierng von "Endstation Sehnsucht" in den Münchner Kammerspielen.

Den online nicht auffindbaren Nachruf auf den Publizisten Ernst Cramer schreibt Mathias Döpfner persönlich.

Spiegel Online, 20.01.2010

Henryk Broder hat für den Spiegel Kurt Westergaard in seinem Reihenhaus bei Arhus besucht. Der Artikel steht jetzt online: "Auf einen Stock gestützt steht er in der Diele und schaut auf die demolierte Badezimmertür. Das kaputte Türblatt wird von einer Spanplatte zusammengehalten, man sieht noch die Spuren der Axt in der Zarge, Holz ist abgesplittert. In ein paar Tagen werden Handwerker eine Stahltür einbauen und eine Alarmanlage, im Garten bekommen die Polizisten, die ihn schützen, einen Pavillon. Kurt Westergaards Haus muss eine Festung werden. "
Stichwörter: Westergaard, Kurt

FR, 20.01.2010

Sebastian Moll stellt das Machtsystem der Chicago Machine dar, mit der auch Barack Obama und seine Vertrauten David Axelrod und Rahm Emmanuel eng verwoben sind. In Times mager denkt Harry Nutt über die Satellitenbilder aus Haiti nach.

Besprochen werden Lukas Bärfuss' Version des "Parzival" mit Sandra Hüller am Schauspiel Hannover, Marc Andres Musiktheater-Passion "...22,13..." im Berliner Radialsystem, eine Mainzer Aufführung der "Brüder Karamasow" in der Fassung von Schirin Khodadadian und Enda Walsh sowie die Erinnerungen Siegfried Jägendorfs (hier eine Leseprobe) an die Deportationen der rumänischen Juden nach Transnistrien (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 20.01.2010

Der Film "Avatar" darf in China nur noch in ausgewählten Kinos laufen, berichtet Bernhard Bartsch. Möglicher Grund für die Zensurmaßnahme: "In Chatforen bringen viele Menschen die Geschichte von der gewaltsamen Vertreibung eines Volkes mit der chinesischen Gegenwart in Verbindung. In den vergangenen Jahren mussten Millionen Chinesen ihre Häuser und Wohnungen verlassen, um Platz für neue Bauprojekte zu machen."
Stichwörter: China

NZZ, 20.01.2010

"Warum wir Haitianer? Schon wieder wir, immer wir?", fragt die haitianische Schriftstellerin Yanick Lahens nach dem entsetzlichen Erdbeben. "Als wären wir nur auf der Welt, um die äußersten Grenzen des Menschlichen auszumessen, Grenzen der Armut und des Leidens; um diesen Prüfungen mit außergewöhnlicher Kraft standzuhalten und sie in Lebenskraft, in rettende Kreativität umzuwandeln. Die erste Antwort auf meine Frage fand ich in den Liedern, die auch in jener Nacht nicht verstummten. Als würden die Stimmen, die da ins Dunkel aufstiegen, sich resolut vom Unglück, von der Verzweiflung abwenden."

Weiteres: Bettina Spoerri kündigt die am Donnerstag beginnenden Solothurner Filmtage an. Besprochen werden die Ausstellung "1989 - Anmerkungen zum Epochenbruch" in der Kunsthalle Wien, Andreas Kriegenburgs Uraufführung von Dea Lohers Stück "Diebe" am Deutschen Theater Berlin sowie neue Bücher über die Freimaurer, Jean-Michel Palmiers Biografie des Philosophen Walter Benjamin Leseprobe) und die Erzählungen "Für Fortgeschrittene" des Bulgaren Alek Popov (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 20.01.2010

Doris Akrap verfolgte eine Diskussion mit Klaus Theweleit und Hermann Gremliza und Claude Lanzmann über Lanzmanns Film "Warum Israel", dessen Vorführung von antisemitischen Demonstrationen vor einigen Wochen zunächst verhindert worden war. Martin Kaelble berichtet über die heute beginnende Berliner Fashionweek. Besprochen wird der neue Film der Coen-Brüder, "A Serious Man" (mehr hier).

Und Tom.

SZ, 20.01.2010

Der Schweizer Literaturkritik geht es schlecht, berichtet Desiree Waibel. Immer mehr Literaturseiten in den Zeitungen fallen weg. Martin Ebel vom Tagesanzeiger "sagt zum Nachwuchs der freien Literaturkritiker: Sie haben keine Zukunft. Und alle, alle in der Branche kennen einander. Verständlich, dass man in der Not zusammenrückt. Wird die Geschlossenheit der literarischen Szene kritisiert, kommt kein Echo."

Die SZ ist beim Einkauf lobender Bloggerkritiken für ihre Apps erwischt worden. Organisiert hat das ganz die Firma Trigami. Auf der Medienseite stellt Marc Felix Serrao nun klar: "Die Redaktion der Süddeutschen Zeitung war über die Trigami-Kampagne ebenso wenig informiert wie die Redaktion von sueddeutsche.de. Beide verurteilen den Versuch, über bezahlte Blog-Einträge Werbung zu treiben."

Weitere Artikel: Tomas Avenarius stellt den neuen geistigen Führer der ägyptischen Muslim-Bruderschaft Mohamed Badie vor. Gustav Seibt denkt über die Bedrohung des Liberalismus durch den fürsorgenden Staat nach. Jörg Häntzschel erzählt, wie Amerikas Intellektuelle nach einem Jahr Präsidentschaft zu Obama stehen. Ira Mazzoni besucht das neue Augsburger Textil- und Industriemuseum. Das Berliner Tacheles steht kurz vor der Räumung, meldet Julia Amalia Heyer. Georg Diez sucht in den Straßen Berlins nach Spuren der kommunalen Finanzkrise. "Midt" meldet eine Panne beim Versuch, am Schauspiel Frankfurt Wenedikt Jerofejews "Reise nach Petuschki" total authentisch mit echtem Wodka aufzuführen: Einer der Schauspieler "sei mitsamt des Stuhls rückwärts von der Bühne gefallen, berichtete die Bild-Zeitung. Ein anderer sei auf den Manuskripten ausgerutscht und gestürzt. Und Marc Oliver Schulze, der gefeierte 'Ödipus'-Darsteller des Hauses, klappte zusammen und wurde mit einem Krankenwagen in die Uni-Klinik gebracht, wo er ausgenüchtert werden musste."

Eine Meldung informiert uns, dass ein dänisches Auktionshaus es abgelehnt hat, ein Aquarell von Kurt Westergaard zugunsten der haitianischen Erdbebenopfer zu versteigern: "Der Anschlag im Januar habe gezeigt, dass noch "Terrorgefahr" bestünde, begründete das Online-Auktionshauses Lauritz.com den Boykott." Jonathan Fischer schreibt zum Tod des Hillbilly-Sängers Carl Smith.

Besprochen werden der neue Film der Coen-Brüder "A serious man", einige CDs, Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Dea Lohers Stück "Diebe" am Deutschen Theater Berlin und Bücher, darunter Joachim Gaucks Erinnerungsbuch "Winter im Sommer - Frühling im Herbst" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 20.01.2010

Entrüstet reagiert Regina Mönch auf den taz-Artikel, in dem die Psychologieprofessorin Birgit Rommelspacher namentlich genannte Islamkritikerinnen in der Nähe übelster historischer Gesellschaft sieht: "Es fällt ihr nicht auf oder ein, dass Kelek, Ates und Hirsi Ali dafür, im Unterschied zur ewiggestrigen taz-Autorin, bedroht und verfolgt wurden. Und es fällt ihr auch nicht auf, dass sie sich in eigener Sache einmischen, dass Rommelspacher diskriminiert, wenn sie den drei Musliminnen - denn das sind sie, kann das mal jemand zur Kenntnis nehmen? - jedes Recht auf kritische Reflexion abspricht."

Weitere Artikel: Nicht recht fassen kann es Niklas Maak, dass die Stadt Berlin die altehrwürdige, aber derzeit ziemlich tote Kreuzberger Eisenbahnmarkthalle zum "Kaufparadies" machen lassen will, statt einen lebendigen Treffpunkt für Kultur entstehen zu lassen. Über ein chinesisches Antikenprojekt macht sich Mark Siemons Gedanken. In der Glosse geht es um Scheidungsangelegenheiten. Kerstin Holm informiert über Maßnahmen gegen die in Russland zur Ferienzeit zwischen den Jahren in der Regel exorbitante Maße annehmende Trunksucht. "Sympathisch" findet Jürgen Richter den Neubau eines Geschäftshauses ganz in der Nähe der Frankfurter Zeil. Auf der DVD-Seite sieht Andreas Platthaus nach, was es vom jüngst verstorbenen Eric Rohmer in deutschen Editionen zu sehen gibt. Patrick Bahners begibt sich auf Motivsuche in den Filmen Rohmers. Verena Lueken begutachtet eine zehn Filme umfassende Bunuel-Ausgabe mit gemischten Gefühlen. Ivo Ritzer freut sich über den eiskalten britischen Gangsterfilm "Ten Dead Men".

Besprochen werden ein Konzert der Band of Skulls (Website) in Köln, die Eberhard-Havekost-Ausstellung in der Frankfurter Schirn, und Bücher, darunter zwei Bände mit Sonetten des Autors Eugen Gomringer, der heute seinen 85. Geburtstag feiert (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).