Heute in den Feuilletons

Tempel des digitalen Zeitalters

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2010. Die taz erklärt, warum Feminismus und Islamkritik sich vielleicht doch nicht ausschließen müssen. Die FR fordert nach Lektüre von Seyran Ates neuem Buch mehr Differenzierung bei der Betrachtung des Islam. Die NZZ feiert Conlon Nancarrows hochkomplexe Musik für mechanische Klaviere. In der Welt begrüßen Berliner Suhrkamp-Autoren ihren Verlag im neuen Domizil und geben Überlebenstipps für die Hauptstadt. In der SZ warnt Jaron Lanier vor dem maoistischen Google. In der FAZ erkennt Frank Schirrmacher in Google eine Akademie der Aufklärung.

TAZ, 23.01.2010

Claudia Pinl dringt darauf, in der Debatte um Feminismus und Islamkritik auf ein paar Differenzierungen zu beharren. So müsse Kritik an der Frauenfeindlichkeit des Islam noch lange nicht rechts sein. Und sie ist sehr wohl aus der links-emanzipatorischen Tradition des Feminismus erklärbar: "Die Frauenbewegung hat lange auf ein egalitäres Verhältnis der Geschlechter hingearbeitet, nicht nur im Beruf und in der Politik, auch im 'intimen' Bereich von Familie und Sexualität. Das Geschlechterverhältnis aus seiner Machtverstrickung zu lösen ist erst ansatzweise gelungen. Der Wunsch, nicht dahinter zurückzufallen, erklärt die Leidenschaft, mit der die meisten Feministinnen islamisch begründete Vorstellungen über Frauenkörper und Sexualmoral kritisieren und ablehnen."

Weitere Artikel: Zur bevorstehenden feierlichen Einweihung des mutmaßlich provisorischen neuen Suhrkamp-Sitzes in der Berliner Pappelallee analysiert Dirk Knipphals den Zustand des Verlags und die mit dem Umzug verbundenen Hoffnungen. Doris Akrap erkennt am Umgang mit Karnevalsmasken durchaus Ähnlichkeiten zwischen Katholiken und Islamisten. Dago Langhans unterhält sich mit dem Historiker Daniel Siemens über dessen "Horst Wessel"-Biografie. Bereits gestern erzählte Patricio Farrell in der tazzwei eine Geschichte gelungener Integration.

Besprochen werden Scout Nibletts Album "The Calcination of...", und Bücher, darunter der Roman "Spucke" des Ex-Spex-Autors Wolfgang Frömberg und die Neuauflage von Paul Lafargues Schrift "Die Religion des Kapitals" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 23.01.2010

In ihrer Rezension von Seyran Ates' neuem Buch "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" möchte auch die Ethnologin Susanne Schröter differenzieren: "Die dargebotene Montage liest sich flüssig, auch deshalb, weil auf eine genaue Beweisführung ebenso verzichtet wird wie auf eine Reflexion der präsentierten Kontexte... Nahezu nichts verbindet eine gebildete islamische Feministin in den USA mit einer muslimischen Analphabetin aus dem ländlichen Afghanistan oder eine saudi-arabische Ministerin mit einer türkischen Putzfrau in Kreuzberg."

Weitere Artikel: Christian Thomas nimmt eine ZDF-Produktion zum Anlass, über die Argonauten-Sage nachzudenken, und darüber auch, wie heutzutage dem Mythos das Mythische ausgetrieben wird.In ihrer US-Kolumne lässt sich Marcia Pally von Volkes Stimme erklären, warum die Demokraten den so wichtigen Senatssitz in Massachussetts verlieren mussten. Daland Segler mokiert sich in einer "Times Mager" über das Twittern als Dünnbrettbohrer-Aktivität.

Besprochen werden die Uraufführung von Katja Hensels Demografie-Stück "Ins Weite schrumpfen" in Kassel, eine Aufführung von Richard Alfieris Stück "Sechs Tanzstunden in sechs Wochen" im Frankfurter Remond-Theater, die George-Grosz-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 23.01.2010

Richard Herzinger wendet sich in der Achse des Guten gegen den Begriff der Islamophie und seine etwas perfide Gleichsetzung mit dem Antisemitismus: "Aversionen gegen 'den Islam' mit dem Antisemitismus gleichzusetzen, abstrahiert von der Tatsache, dass es nicht nur eine reale Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus gibt, sondern auch mächtige islamische Staaten und Organisationen, die nicht nur die Auslöschung Israels, sondern die 'Bekehrung' der ganzen Menschheit zu einer 'islamischen Ordnung' propagieren, in der unter Berufung auf religiöse Gebote schlimmste Menschenrechtsverletzungen praktiziert und gerechtfertigt werden. Allerdings: Tendenzen, 'die Muslime' dafür kollektiv verantwortlich zu machen, muss man entschieden entgegentreten. Das gelingt aber nicht, wenn man jeglichen Zusammenhang zwischen dem politischen Islam und seinem islamischen Glaubenshintergrund schlichtweg ignoriert."

NZZ, 23.01.2010

Edu Haubensak stellt den amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow vor, der nicht nur ein äußerst bewegtes Leben hatte, sondern auch, nachdem er 1940 nach Mexiko Stadt emigriert war, "eine aufregende und hochkomplexe Musik für mechanische Klaviere" erfand: "Im Höreindruck wirkt diese Klaviermusik nur anfänglich schroff und abweisend. Je länger man bei diesen Werken verweilt, desto zugänglicher werden die glasklaren Strukturen, trotz ihrer Dichte und Komplexität. Nicht nur die eingängigen frühen Blues- und Boogie-Woogie-Studien frappieren, auch die spanisch inspirierten Stücke sind, auf dem mechanischen Klavier gehört, voll von Humor. Stilistisch ist Nancarrow aber hauptsächlich im Barock zu Hause, er erwähnt Johann Sebastian Bachs Fugen als Inspirationsquelle, und die Imitation, der strenge Kanon, findet sich in den meisten seiner Werke."

Bei Youtube kann man einiges von ihm hören. Hier ein Beispiel:



Weiteres: Daniel Ender ermutigt dazu, sich mit dem radikalen Musikbegriff Helmut Lachenmanns auseinanderzusetzen. Angela Schader porträtiert die Journalistin Martha Gellhorn, deren Briefe gerade erschienen sind (hier eine Leseprobe). Andrea Köhler hat eine Biografie über und ein Buch mit Kurzgeschichten von John Cheever gelesen und zitiert aus dem Vorwort Cheevers zu letzterem Band: "Hier treten die Letzten aus jener Generation von Kettenrauchern auf, die morgens alle Welt mit ihrem Gehuste weckten, die sich auf Cocktailpartys regelmäßig zudröhnten, sich voller Wehmut nach Liebe und Glück sehnten und deren Götter so alt waren wie Ihre (wer immer Sie sein mögen) und meine Götter".

Im Aufmacher des Feuilletons erzählt Martin Meyer, wie Erdbeben das Bewusstsein der Moderne - über Kant, Kleist und Voltaire - prägten. Das Leben außerhalb von Raum und Zeit, in einer Hütte auf den Anden, prägt den Stil des kolumbianischen Schriftstellers Hector Abad, wie er erzählt. Und Andrea Eschbach berichtet von der internationalen Möbelmesse in Köln.

Besprochen werden einige Bücher, darunter Martin Suters Roman "Der Koch" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 23.01.2010

Berliner Suhrkamp-Autoren begrüßen ihrem Verlag fröhlich im neuen, vielleicht noch etwas kalten Domizil: Durs Grünbein ruft: "Willkommen in der Diaspora, Leute, in der Ost-West-Kapitale Berlin, auf halbem Weg zwischen Atlantik und Sibirien. Willkommen in der Transformation." Und Sibylle Lewitscharoff warnt vor dem unbewaffneten Theaterbesuch: "Falls die Frankfurter von ihrem alten Häuserkampf noch einen Rest Mumm mitbringen, dürfen sie natürlich ins Theater: Tomaten mitbringen und werfen! Gewarnt sei generell vor dem Berliner Publikum. Es sind öde Selbstlacher. Sie lachen ohne Grund, einfach, um über die Runden zu kommen."

Außerdem in der Literarische Welt: Ulrich Weinzierl verehrt Anton Tschechow zu seinem 150. Geburtstag als einen Gründungsvater der Moderne. Der Historiker Arno Lustiger erinnert anlässlich des Holocaust-Gedenktages an drei österreichische Juden, deren Schicksal prototypisch war: den republikanischen Feldmarschall Johann Friedländer, den monarchistischen General Emil von Sommer und den Sozialdemokraten Julius Deutsch.

Besprochen werden unter anderem Alain Claude Sulzers Roman "Privatstunden" und der Abschlussband von Richard Evans' Geschichte des Dritten Reichs, "Krieg".

Im Feuilleton besucht Gabriela Walde das "Bestiarium" des amerikanischen Künstlers Walton Ford im Hamburger Bahnhof in Berlin; Michael Pilz erinnert an den Jazzgitarristen Django Reinhardt, der vor hundert Jahren geboren wurde. Auf der Forumsseite übernimmt die Welt Thierry Chervels Essay "Das Behagen an der Unkultur" (hier in voller Länge).

SZ, 23.01.2010

Im Interview singt der zum Internetskeptiker gewendete frühere Enthusiast Jaron Lanier wie zuletzt schon auf allen Kanälen das Loblied der Individualität, die er im Internet inzwischen zu kurz kommen sieht: "Die extremen Formen von Kapitalismus, die man online findet, ähneln den Strukturen des Maoismus. Google ist das Äquivalent zur Kommunistischen Partei. Im Gegensatz zu Marx und den meisten Marxisten verachtete Mao die Intellektuellen und glorifizierte die Bauern. Abraham Maslows 'Bedürfnispyramide' ist hier ganz hilfreich: Bevor wir uns höheren Bedürfnissen widmen, müssen die Menschen erst einmal ihren Hunger stillen. Unter Mao wurden alle, die die Pyramide ein Stück hochgeklettert waren, wieder hinabgestoßen und auf die Felder geschickt. Die heutige Online-Kultur tut im Prinzip genau dasselbe."

Und der sonst für theologische Fragen zuständige Alexander Kissler hat ein Buch über Google gelesen (nämlich Ken Aulettas "Googled") und kann jetzt erklären, wie der Konzern tickt, der gottgleich das Internet regiert: "Weltverbesserung und Elendsvermeidung hat man sich auf die Fahnen geschrieben. Ein technokratischer, ein geradezu vulgärkartesianischer Kern wohnt jedoch dieser geschäftstüchtigen Maxime inne: Googles Führungstroika, der neben Brin und Page CEO Eric Schmidt angehört, besteht ausschließlich aus Ingenieuren. Sie träumen den Traum, alle Probleme mit Logik aus der Welt schaffen zu können".

Weitere Artikel: Schlicht und einfach in einer "Parallelwelt" verschwunden sieht Andreas Zielcke die Arbeiter im Finanzsystem, einer Parallelwelt allerdings, die höchst gefährlich mit anderen gesellschaftlichen Wirklichkeiten rückgekoppelt ist. Über den in Schweden tobenden Streit um Stieg Larssons Können als Schriftsteller und um sein Erbe informiert Thomas Steinfeld. Julia Amalia Heyer berichtet über Nicolas Sarkozys Bemühungen, die gesellschaftliche Chancenverteilung durch Sozialquoten für die Elitehochschulen zu verbessern. Burkhard Müller gratuliert dem Literaturnobelpreisträger Derek Walcott zum Achtzigsten. Gottfried Knapp porträtiert zu dessen 90. Geburtstag den einzigen deutschen Pritzker-Preisträger, den Architekten Gottfried Böhm. Karl Lippegaus erinnert an "Europas ersten Jazzmusiker von Weltrang" Django Reinhardt, der heute seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Auf der Medienseite wird gemeldet, dass der gern polarisierende Publizist Henryk M. Broder noch in diesem Jahre eine eigene Fernsehsendung (Titel: "Entweder Broder") in der ARD bekommen soll.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende erklärt Franziska Augstein, warum der Krieg in Afghanistan so schnell wie möglich enden muss. Andreas Bernard denkt über die in den letzten Jahren flächendeckend um sich greifende Mode der Schamhaarrasur nach. Auf der Historienseite geht es um die verlustreiche Landung der US-Truppen in der Normandie. Abgedruckt wird Georg Kleins Erzählung "Im Lager der sekundären Träumer". Kristin Rübesamen unterhält sich mit dem britischen Schauspieler Jude Law über das "Alter".

Besprochen werden Jan Phlipp Glogers "Viel Lärm um Nichts"-Inszenierung am Münchner Residenztheater, ein Münchner Konzert, bei dem das br-Symphonieorchester unter Zubin Mehta Schuberts "Unvollendete" spielte, und Bücher, darunter Alexander Demandts biografische Studie "Alexander der Große" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 23.01.2010

Im Leitartikel auf der Seite 1 der FAZ unterstützt Frank Schirrmacher den Vorschlag des CCC für eine Art digitalen Bürgerpass (mehr hier) und plädiert dafür, sich konstruktiv mit Google auseinanderzusetzen: "Google ist der sichtbarste Tempel des digitalen Zeitalters. Aber gerade weil es so sichtbar ist, ist es eben auch eine Akademie der Aufklärung. So paradox es klingt: Wenn ein Unternehmen einen über die Gefahren des digital entmündigten Menschen aufklärt, dann ist es die Suchmaschine des Konzerns. Das heißt nicht, dass Google nicht kritisiert werden sollte. Aber es heißt auch, dass nach Lage der Dinge Google in dieser Frage ein Verbündeter sein kann."

Nicht nur die chinesische KP, auch ultraorthodoxe Rabbiner in Israel halten das Internet für Teufelszeug. Nachdem sie erst versucht hatten, den säkularen Webseiten mit eigenen Internetangeboten Paroli zu bieten, berichtet Joseph Croitoru im Feuilleton, gaben jetzt dreißig Rabbiner per Annonce bekannt, "dass ihren Anhängern die Nutzung der ultraorthodoxen Nachrichtenportale ab sofort untersagt sei". Der Grund: "Um ihre Besucher nicht zu verlieren, ließen die religiösen Portalbetreiber auch unbequeme Lesermeinungen zu, die sonst anderswo veröffentlicht worden wären." (Mehr dazu hier)

Weitere Artikel: In der Glosse nimmt rik. eine Reclam-Reihe für Abiturienten aufs Korn, die gewalttätige Klassiker entschärft. Jürgen Dollase rühmt die Regionalküche der Lübecker "Schiffergesellschaft". Dirk Schümer berichtet über von der Politik angeheizte deutsch-italienische Konflikte in Südtirol. Andreas Platthaus schreibt zum Tode des französischen Zeichners Jacques Martin.

Auf der Medienseite hofft Helmut Markwort im Interview, dass Wolfram Weimar als einer von zwei neuen Chefredakteuren des Focus viele gute Ideen ins Blatt bringt. Michael Hanfeld ärgert sich über die ARD, die auf dem iPhone präsent ist, obwohl der Rundfunkrat doch das Abwarten des Dreistufentests empfohlen hat. Edo Reents reist auf den Spuren Hans Castorps nach Davos.

Im Aufmacher von Bilder und Zeiten erzählt Andreas Kilb die Geschichte von Fritz Langs Film "Metropolis" (eine Kopie der ursprünglichen Fassung ist 2008 in Buenos Aires aufgetaucht). Sonja Hartwig und Kilian Trotier erzählen die Geschichte von Ray Simmons, der mit seinen Bussen Angehörige von Inhaftierten in die entlegenen Gefängnisse des Bundesstaates New York fährt. (Mehr über Simmons in Atlantic und der NYT.) Carolin Pirich hat einen Ortstermin mit dem britischen Fotojournalisten Don McCullin (eine Ausstellung seiner Bilder kann man derzeit im C/O in Berlin sehen). Und Sophie Rois erzählt im Interview mit Irene Bazinger, warum sie so gern an der Volksbühne arbeitet.

Besprochen werden eine Ausstellung der Tiermalerei von Walton Ford im Hamburger Bahnhof in Berlin, Jan Philipp Glogers Inszenierung von Shakespeares "Viel Lärm um nichts" im Münchner Residenz Theater, die Leanne-Shapton-Ausstellung im Kunstraum Murkudis in Berlin und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Thomas Bernhard und Siegfried Unseld sowie ein Buch von Leanne Shapton (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um Nikolaj Znaiders Einspielung des Violinkonzerts von Edward Elgar auf dem Instrument der Uraufführung: der "Kreisler"-Guarneri, RIAS-Aufnahmen des jungen Friedrich Gulda aus den Jahren 1950-59 und die neue CD von Tocotronic, die auch ihre alten Sachen gerade wieder neu auflegen lassen ("Wie man hört, plante der Heidelberger Germanist Roland Reuß eine historisch-unkritische Gegenedition von Neupressungen mit allen Originalkratzern", ulkt Patrick Bahners). Claus Lochbihler schreibt zum Hundertsten von Django Reinhardt.

In der Frankfurter Anthologie stellt Klara Obermüller ein Gedicht von Hofmann von Hofmannswaldau vor: "Auf den Einfall der Kirchen zu St. Elisabeth"