Heute in den Feuilletons

Mit einem Martini und einem Orden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2010. Die FR bringt eine Diskussion über den Afghanistan-Einsatz. Die New York Times staunt über die Diskriminierung arbeitender Mütter in Deutschland. Netzpolitik und das 1 & 1-Blog diskutieren geplante Jugendschutzmaßnahmen, die es den Anbietern auferlegen, ausnahmslos jederzeit sämtliche Inhalte zu kontrollieren. Die Welt staunt über Brecht, der einen Kult für Kälte mit einer Abneigung gegen harte Butter in Einklang brachte. In der SZ spricht Jimmy Wales über die Erzeugung von Objektivität in der Wikipedia - dank der englischen Sprache. Die taz-Feministinnen zupfen weiter am Kopftuch. Stephan Grigat fordert in der Presse eine linke Kritik an der islamischen Menschenzurichtung.

FR, 26.01.2010

Die FR druckt eine Diskussion über Sinn und Zweck des Afghanistan-Einsatzes ab, die der Journalist Eric Chauvistre und der Historiker Klaus Naumann im Hamburger Institut für Sozialforschung führten. Während Chauvistre den Einsatz militärstrategisch in Frage stellt, meint Naumann: "Das Verhältnis von Hard- und Softpower ist in der deutschen Politik grundsätzlich und aktuell - siehe Afghanistan - ungeklärt. Das führt zu Etikettenschwindel und Notlügen. Siehe die Debatte um den Kriegsbegriff. Hinzu kommt: Die gute Einbettung des militärischen in das parlamentarische System hat zu dem paradoxen Ergebnis geführt, dass zwar die militärischen Einzelaktionen politisch mandadiert und kontrolliert werden, aber der Gesamteinsatz gerade nicht. Der Antimilitarismus des Gefühls erzeugt so einen Militarismus aus Versehen."

Besprochen werden eine "tadellose" Aufführung von Benjamin Brittens Kammeroper "Owen Wingrave" in Frankfurt, Philipp Stölzls Berliner Inszenierung der Wagner-Oper "Rienzi", Evgeni Koroliovs Konzert mit den Goldberg-Variationen in Frankfurt und Jochen Schimmangs Roman "Das Beste, was wir hatten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 26.01.2010

(via Crooked Timber) Katrin Bennhold singt in der New York Times ein kleines Loblied auf Ursula von der Leyen, die einiges dafür getan habe, dass auch deutsche Mütter ohne schlechtes Gewissen arbeiten können. Der Rest der Welt, meint sie, fand es schon immer schockierend, wie schwer das hier ist. Zum Beispiel Jill Lee, Siemens' erster "chief diversity officer", eine Art Gleichstellungsbeauftragte: "Ms. Lee, 46, wuchs in Singapore auf und arbeitete mit amerikanischen, chinesischen und japanischen Firmen. Sie hat niemals Situationen erlebt, die denen deutscher Mütter vergleichbar wäre: 'Manchmal erwarten die selben Eltern, die ihre Töchter ermutigen auf die Universität zu gehen, dass sie ihre Arbeit aufgeben, damit sie sich um ihre Kinder kümmern können', sagt sie."

Aus den Blogs, 26.01.2010

Das ist ja sowas von einem klirrend kalten Dienstag und Ihnen stehen nur unangenehme Sachen bevor? Stephen Worth vom ASIFA-Hollywood Animation Archive (wir haben ihn gestern schon vorgestellt) hat für BoingBoing eine wunderbare Liste von Musikvideos zusammengestellt - von Callas über Milstein und Booker T and the MGs bis zu den Nicholas Brothers (alle Videos hier). Der Kracher für diesen Dienstag morgen sind die Osbourne Brothers, eine Bluegrass-Band. Danach kann man alles. Die Feuilletons können Sie dann später lesen.

(Via Netzpolitik) Drastische Maßnahmen zur Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreieheit im Namen des Jugendschutzes sind laut Saskia Franz im Unternehmensblog des Providers 1 & 1 von unserer teilweise liberalen Bundesregierung geplant: "Undifferenziert müsste ein Access-Provider genauso wie ein Blogger ausnahmslos jederzeit sämtliche Inhalte kontrollieren, da er dafür verantwortlich sein soll, 'die Einbeziehung und den Verbleib von Inhalten im Gesamtangebot', die entwicklungsbeeinträchtigend sind, zu verhindern. Hier stellt sich die Frage, welcher User kann dies mit den ihm möglichen Mitteln sicherstellen?" Mehr dazu in einem weiteren Beitrag in Netzpolitik.

Bei 3 quarks daily erinnert sich Randolyn Zinn in einem mit vielen schönen Videos und Fotos unterlegten Artikel an Pina Bausch.

Und so sieht das aus, wenn man sich wirklich mal anstrengt: Ms. Melissa Wu.

Welt, 26.01.2010

Bei minus 16 Grad vor den Fenstern in Berlin Mitte liest sich Matthias Heines Artikel über den - zumindest metaphorischen - Kältekult deutscher Schriftsteller im frühen 20. Jahrhundert noch unheimlicher. Heine bezieht sich auf auf Helmut Lethens Buch "Verhaltenslehre der Kälte" von 1994. "Genau wie sein Freund Walter Benjamin glaubt Brecht an eine besondere Kältetauglichkeit der Proletarierer. Lethen fasst die Theorie grob so zusammen: 'Weil das Proletarierkind schon im Mutterleib der Kälte der Existenzbedingungen ausgesetzt ist, entwickelt es bereits in diesem Stadium eine angemessene Disposition zum Klassenbewusstsein.'" Brecht selbst allerdings wollte auf ein warmes Plätzchen nicht verzichten, schon allein "weil er harte Butter hasste".

Weitere Artikel: Elmar Krekeler bespricht den Film "Ein Russischer Sommer" (mehr hier) mit Helen Mirren über Tolstois letzte Tage und kommt bei der Gelegenheit auf ein paar Neuerscheinungen über das Paar und besonders Sofja Tolstaja zurück. Gerhard Gnauck hörte beeindruckt einem Vortrag der Dolmetscherin Marina Koreneva über die Dreharbeiten zu dem (längst gelaufenen) Film "Anonyma" zu, der einiges über die deutsch-russischen Beziehungen aussagte. Julian Mieth sagt eine Tournee des Popduos Air an. Sonja Hartwig und Kilian Trotier bringen eine Reportage aus der ungarischen Kulturhauptstadt Pecs, wo aus hochfliegenden Plänen nicht allzu viel geworden ist. Michael Borgstede besuchte eine Konferenz in Jaffa über den Status der arabischen Bürger Israels. Thomas Lindemann stellt die "Samsonadzes" vor, ein georgisches Plagiat der "Simpsons" mit permanenten Witzen über Putin.

Besprochen werden Philipp Stölzls "Fliegender Holländer"-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin und eine Ausstellung der spät entdeckten Künstlerin Carmen Herrera in Kaiserslautern.

NZZ, 26.01.2010

Aldo Keel berichtet von wachsenden innerskandinavischen Animositäten zwischen den nunmehr reichen Norwegern und den verarmenden Schweden: "'Hass will ich es nicht nennen, aber es gibt eine wachsende Irritation über die Norweger in der Gegend von Strömstad', sagte kürzlich ein Redakteur des Göteborgs-Tidningen im norwegischen Fernsehen."

Weitere Artikel: Joachim Güntner ist aufgefallen, dass heute niemand mehr anständig pfeifen kann: "Tatsächlich haben wir es mit einem umfassenden Artensterben zu tun." Marc Zitzmann berichtet, dass der Plagiatsstreit zwischen den beiden französischen Autorinnen Camille Laurens und Marie Darrieussecq in eine neue, diesmal literarische Runde geht. Ulrich M. Schmid berichtet von einer Kreml-kompatiblen Satireshow im russischen Fernsehen, die offenbar mit eher unsubtilem Humor ukrainische und georgische Machthaber aufs Korn nimmt. Uwe Justus Wenzel besuchte zum Auftakt der 300-Jahr-Feiern der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft den Salon Sophie Charlotte.

Auf der - online noch nicht aktualisierten - Medienseite informiert Madeleine Stäheli Toualbia nach einem Gespräch mit dem Grafiker Alberto Cairo über die Feinheiten der Info-Grafik. Heribert Seifert stellt das Bundeswehr-Lifestyle-Magazin Y vor.

Besprochen werden eine Aufführung von Henri Pousseurs "Faust-Satelliten" in Luzern und Leonard Cohens Debütroman "Das Lieblingsspiel" von 1963 (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 26.01.2010

Wikipedia-Gründer Jimmy Wales erklärt in einem kurzen Interview über die Neutralität seines Lexikons: "Gruppen, deren Mitglieder kulturell und ideologisch ähnlich ticken, werden häufiger Fehler machen. Sie haben einen blinden Fleck. 1920 kämpften Polen und Litauen an der Memel gegeneinander. Die Wikipedia-Einträge in den beiden Sprachen zeigten für dieses Ereignis komplett entgegengesetzte Perspektiven. Das Faszinierende: Durch den englischsprachigen Artikel, der beide Sichtweisen diskutiert, wurden auch die Einträge in der polnischen und litauischen Wikipedia besser, weil die Autoren den jeweils anderen Standpunkt kennenlernten."

Helmut Mauro hat die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge herausgegebene Studie "Muslimisches Leben in Deutschland" und den von Wilhelm Heitmeyer veröffentlichten jüngsten Band "Deutsche Zustände" studiert und schließt daraus: "Trotz signifikanter Verbesserungen bei der Integration von Zuwanderern werden alte Vorurteile aufrechterhalten. Im Jahr 2009 glaubten die meisten Deutschen, dass ihnen persönlich Gerechtigkeit widerfahre, während es in der Welt insgesamt eher ungerechter zugeht. Um diesen Glauben in der Krise zu behalten, muss man offenbar nicht nur vorhandenes Unrecht verdrängen, sondern auch Minderheiten allgemein und persönlich abwerten."

Weitere Artikel: Johan Schloemann erinnert sich an die glücklichen Zeiten der Schiefertafel, die mit dem neuen Apple Tablet zurückkommen soll. Johannes Willms erinnert an das Jahrhunderthochwasser in Paris 1910, dem auch Ausstellungen in den Galeries des bibliotheques, im Pavillon de l'eau und dem Louvre des Antiquaires gewidmet sind. Jürgen Trabant freut sich, dass der Schauspieler Christoph Waltz für seine Rolle in Tarantinos "Inglourious Basterds" nicht nur in Cannes mit einer Goldenen Palme, sondern jetzt auch in Hollywood mit einem Golden Globe ausgezeichnet wurde. Und laut Alexander Menden hat der 60jährige Autor Martin Amis in Großbritannien einigen Wirbel mit einem Interview (mehr hier) für das Times Sunday Magazine ausgelöst, in dem er "Euthanasiehäuschen" auf den Straße vorschlug, in denen sich alte Menschen "mit einem Martini und einem Orden" verabschieden könnten.

Besprochen werden Mozarts "Idomeneo", dirigiert von Marc Minkowski bei der Salzburger Mozartwoche, die Dieter-Schnebel-Konzerte beim Ultraschall-Festival in Berlin, zwei Aufführungen am Schauspiel Essen - Anselm Webers Inszenierung von Anna Seghers' Stück "Transit" und Roger Vontobels Inszenierung von Ibsens "Peer Gynt" - sowie Bücher, nämlich ein Gedichtband von Abraham Sutzkever über das Wilnaer Ghetto und Jochen Schimmangs Wende-Roman "Das Beste, was wir hatten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Presse, 26.01.2010

Der Politikwissenschaftler Stephan Grigat beklagt, dass die etablierte Linke keine "an Emanzipation, Aufklärung und Humanismus orientierte Kritik an der islamischen Menschenzurichtung" mehr zustande bringt: "Es geht heute darum, die bürgerlichen Freiheiten von Leuten wie Ayaan Hirsi Ali zu verteidigen, die den Propheten einen perversen Tyrannen nennt, von Hip-Hopern, die Jesus als Bastard titulieren, und von israelischen Poplinken, die verkünden, dass der Messias nicht kommen wird. Die Frage, warum die beiden Letztgenannten ähnlich wie Manfred Deix mit Kritik, Empörung und schlimmstenfalls mit aberwitzigen strafrechtlichen Konsequenzen leben müssen, Ayaan Hirsi Ali aber mit Morddrohungen und Kurt Westergaard mit Mordversuchen konfrontiert sind, lässt sich nur erklären, wenn in Zukunft versucht wird, die entscheidenden Unterschiede zwischen den Religionen und ihrer jeweiligen Funktion in den heutigen Gesellschaften zu thematisieren, anstatt in einen abstrakten Wald- und Wiesenatheismus zu verfallen, dem alles eins ist."

FAZ, 26.01.2010

Jürg Altwegg diagnostiziert in Frankreich eine Heidenangst der Elite vor dem Internet, die ihn durchaus an revolutionäre Zeiten erinnert: "Im Internet tobt ein Klassenkampf gegen die Elite und die Regierung. Manchmal hat man den Eindruck, der Graben sei so tief wie vor 1789. Frankreichs politische und intellektuelle Klasse hat Angst vor den Bloggern und Kampagnen im Netz, in dem ein Dritter Stand der Debattenkultur die Macht zu übernehmen droht." Allerdings erinnere ihn Sarkozy, so Altwegg, weniger ans Ancien Regime als an Napoleon. Und darum wird neben der Peitsche - das neue HADOPI-Gesetz, das illegalen Downloader den Netzzugang verschließt - auch über das Zuckerbrot nachgedacht: "Um den Konflikt mit der Jugend zu entschärfen, verspricht man die Einführung einer Pauschalbewilligung zum unbeschränkten Downloaden für fünfzig Euro pro Jahr."

Weitere Artikel: Helmut Mayer erklärt, wie "die evolutionäre Entwicklungsbiologie, kurz 'Evo-Devo'" an Ameisenkolonien Einblicke in die überindividuelle Selektion bestimmter Merkmale gewonnen hat. Niklas Maak analysiert den Erfolg des von Schwerreichen gesammelten und in der Galeriewelt bestens vernetzten Künstlers Anselm Reyle als exemplarischen Fall für teure, aber nicht gerade ewigkeitsverdächtige Marktkunst. Oliver Jungen glossiert die Aufforderung des Papstes ans seelsorgende Fußvolk, sich der Mittel des Internets zu bedienen, "damit Er durch die neuen Formen der Kommunikation auf den Straßen der Städte voranschreiten" kann. Über Neubau-Pläne des Bauhausmuseums in Weimar informiert Jürgen Richter. Gerhard R. Koch schreibt einen kurzen Nachruf auf den Pianisten Earl Wild.

Besprochen werden ein Konzert von Olli Schulz in Köln, Christof Loys Zürcher Inszenierung von Paul Claudels Stück "Tausch", Philipp Stölzls Inszenierung von Wagners "Rienzi" an der Deutschen Oper Berlin und Bücher, darunter eine ganze Reihe von Neuerscheinungen von und zu Jane Austen (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 26.01.2010

Heide Oestreich spricht in einem Artikel über Islam und Feminismus nach einer komplizierten Argumentation eine einfache Wahrheit aus: "Selbstbestimmung muss hier das Ziel sein: Erst dann haben sie wirklich die Wahl, ob sie sich verhüllen wollen oder nicht." Auch Isolde Charim nimmt Bezug auf den Artikel der Feministin Birgit Rommelspacher, die eine Lanze für den Islam und gegen seine Kritikerinnen brach, und behauptet einen Trick gefunden zu haben, "um heterogene Gesellschaften zu integrieren" und ohne Säkularismus auszukommen.

Auf der Kulturseite unterhält sich Julian Weber mit dem New Yorker Autor und Musiker Ned Sublette, der sich für eine Rückkehr Jean-Bertrand Aristides nach Haiti einsetzt und klare Regeln für den Wiederaufbau fordert: "Haiti muss mit ortsansässiger Arbeitskraft wiederaufgebaut werden, und nicht mit einer korporativen Invasion, wie es sie in New Orleans nach dem Hurrikan 'Katrina' gab. Dort wurden ortsansässige Afroamerikaner vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und Mitarbeiter mit politischen Verbindungen bevorzugt eingestellt."

Besprochen werden eine Walton-Ford-Ausstellung in Berlin, Filme des Max-Ophüls-Festivals in Saarbrücken und Elfriede Jelineks Stück "Die Kontrakte des Kaufmanns" am Berliner Hebbel am Ufer.

Und Tom.