24.02.2010. Grünbeins Hegemann-Verteidigung in der FAZ ist zwar von Benn, aber er nimmt kein Wort zurück! Die SZ bringt nochmal mehrere Sonderseiten zum Fall Hegemann. Besonders rigide gegen jegliches Plagiat äußert sich hier der noch selber schreibende Feridun Zaimoglu. In der Welt versichert Petros Markaris: die Griechen sind selber schuld. Jakob Michael Reinhold Lenz ist nicht Kurt Cobain, erfahren wir von Frank Castorf in der taz. In der NZZ fragt Adam Krzeminski: Wie weit im Westen liegt heute der Osten? Oder umgekehrt?
Welt, 24.02.2010
Im
Gespräch mit Berthold Seewald hat der griechische
Krimiautor Petros Markaris nicht das geringste Mitleid mit den jetzt in Griechenland streikenden Beamten und Staatsangestellten: "Wir
sind es selbst, die das Geld verschwendet haben. Kein Mensch ist uns etwas schuldig. Wir sind selbst schuld an unserem Ruin."
Die
Welt veröffentlicht außerdem ein
Schreiben russischer Bürgerrechtler, darunter
Garri Kasparow, die dagegen protestieren, dass der europäische Satellitenbetreiber
Eutelsat auf einen Wink des Kremls einen russischsprachigen georgischen Sender aus seinem Angebot entfernte - trotz gültigen Vertrags: "Eutelsat kapitulierte und sandte so eine
katastrophale Botschaft an die Welt: kein russischsprachiger Fernsehsender, der nicht vom Kreml kontrolliert wird, darf in der Russischen Föderation auf Sendung gehen. Selbst wenn er seinen Sitz im Ausland hat.".
Weitere Artikel: Uwe Wittstock
schreibt einen empörten Kommentar über
Durs Grünbeins Hegemann-
Verteidigung, weiß aber noch nicht, dass sie von
Benn ist (mehr
hier).
Gemeldet wird, dass
Airens inspirierender Roman "Strobo" nun bei
Ullstein, also im Verlag Helene Hegemanns erscheint. Uwe Wittstock
würdigt die Erfolge der
Walser-Dynastie - sämtliche Töchter und viele Schwiegersöhne Martin Walsers sowie der jüngst bekanntgewordene Sohn
Jakob Augstein betätigen sich erfolgreich in unserer heimeligen kleinen Kulturwelt. Elmar Krekeler
erzählt die verschlungene Geschichte des
Norbert Leithold, der eine Biografie des Goethe-Zeitgenossen
Graf Goertz verfasst hat, dafür aber nicht soviel Unterstützung von der
Reemtmsa-Stiftung genießt wie in Verlagskatalogen ursprünglich behauptet. Und Ulrich Weinzierl besucht den von dem Schweizer Künstler
Christoph Büschel in der Wiener Secession eingerichteten Swinger-Club.
Besprochen werden
Martin Scorseses Film "Shutter Island" und
Peter Eötvös' Faust-Oper in München.
Auf der Forumsseite
verteidigt der Erziehungswissenschaftler
Wolfgang Bergmann den großen Raufbold im kleinen Jungen.
FR, 24.02.2010
Theaterintendant
Oliver Reese schwärmt auf eineinhalb Seiten vom
Berghain, auch wenn er es total unpassend findet, dass der Club "im grellen Rampenlicht der öffentlichen Meinungsdebatte steht". Zuletzt "etwas penetrant durch einen Roman der dort spielt, wo
die 17-jährige Autorin mit ziemlicher Sicherheit keinen regelmäßigen Einlass gefunden hätte", wie Reese glaubt, der mit seinen 46 Jahren offenbar keine Probleme beim Türsteher hatte.
Weiteres: Als sehr feinsinnig
lobt Hans-Jürgen Linke
Peter Eötvös' in München uraufgeführte Oper "Die Tragödie des Teufels", die ihm Antwort auf die Frage lieferte, "warum eigentlich außerhalb der Oper alles so schrecklich schief läuft". Bernhard Bartsch
berichtet von dem satirischen Roman "Das glorreiche Zeitalter", mit dem der Hongkonger
Chan Koon-Chung angeblich schon Kultstatus erreicht habe: "Pekings Eliten trinken Frankreichs Weinkeller leer, und keine ausländische Regierung wagt mehr, Chinas Regierung zu kritisieren." In Times mager
beschäftigt sich Harry Nutt mit
Google Street View und der überwachten Stadt.
Besprochen werden
Aufführungen von
Ferdouis "Buch der Könige" in Theran und Freiburg,
Anne Teresa de Keersmaekers Choreografie "3Abschied" in Essen, ein
Konzert der Woodentops in Frankfurt und
Kathrin Schmidts Gedichtband "blinde bienen".
TAZ, 24.02.2010
Frank Castorf erklärt im Interview, was ihn so fasziniert an dem Dichter
Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen "Soldaten" er in Berlin inszeniert: "Er vermarktet sein Außenseitertum nicht. Er ist nicht
Kurt Cobain oder Rimbaud, der schon weiß, dass er mit der Flucht nach Afrika als Waffenhändler an der Selbstmystifizierung arbeitet. Lenz will ja
mitmachen, er will dazugehören und geliebt werden, er will helfen und durchstoßen zum Konsens der Gesellschaft, aber es gelingt ihm einfach nicht. Sein Außenseitertum ist nicht kalkuliert."
Weiteres: Isolde Charim
fürchtet angesichts von
Oskar Roehlers "Jud Süß - Film ohne Gewissen" eine fatale Entwicklung, nämlich die Aufhebung der
Opfer-Täter-Unterscheidung hin zugunsten eines abstrakten Opferbegriffs. Julian Weber
sieht mit dem britischen
Musiker Devonte Hynes ein neues Zeitalter des "soften Barockpop" anbrechen.
Und noch
Tom.
NZZ, 24.02.2010
Polen, Tschechien und Rumänien werden noch immer nicht als eigenständiger Teil des Westens anerkannt,
bedauert der polnische Publizist
Adam Krzeminski. "Trotzdem beklagen viele Ostmitteleuropäer, wie unlängst die Rumänin Carmen Francesca Banciu, den 'Fluch', rumänisch, polnisch, lettisch oder slowakisch zu sein. Andere dagegen, wie der Pole Andrzej Stasiuk, gefallen sich in
trotziger Selbststilisierung: Ihr wollt uns als Wodka saufende Barbaren sehen? Das könnt ihr haben! Wir sind doch eh nur an euren Geldscheinen interessiert. Im Übrigen könnt ihr uns mit euren Museen und Manieren gestohlen bleiben, auch wenn wir die Wehrmauern eurer Städte bereits überrannt haben. Zu Hause fühlen wir uns sowieso eher in der Dobrudscha als an der Cote d'Azur."
Weitere Artikel: Samuel Herzog
ist nicht so begeistert von dem neuen
Swingerklub in der
Wiener Secession, den der Schweizer Künstler
Peter Büchel eingerichtet hat: "Wenn Büchels 'Element6' etwas bewirkt, dann dass es
aus Kunstliebhabern Spießer macht, die sich im Hochgefühl der eigenen Toleranz, aber weitgehend ohne sich irgendwie aussetzen zu müssen (weil ja gewissermaßen kunstmotiviert), an etwas laben können, mit dem sie sonst nur unter Aufbringung von erheblich mehr Mut in Kontakt kommen würden".
Besprochen werden die
Uraufführung von
Peter Eötvös' Oper "Die Tragödie des Teufels" in München, die Ausstellung zum 100. Geburtstag des Philosophen
Max Bense "Bense und die Künste" im
ZKM Karlsruhe und Bücher, darunter
Theodore Ziolkowskis Buch "Heidelberger Romantik. Mythos und Symbol" und
Andrzej Stasiuks Erzählband "Winter" (mehr in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Aus den Blogs, 24.02.2010
Am Beispiel der
Nordwest-Zeitung entwickelt Felix Zimmermann in
Carta elf sarkastische Regeln zur Verteidigung eines Meinungsmonopols in den Regionen: "8. Entwickeln Sie
kein Konzept für junge Leser! Ignorieren Sie das
Internet, Ihre Leser sind eh zu alt dafür. Die NWZ macht?s vor: Zwei Leute stellen die Lokalausgaben ins Netz und bauen Bilderstrecken, zum Beispiel von Autounfällen - das war's."
Unter dem Titel "Der blaue Engel im Abflug"
kommentiert Wolfgang Röhl in Achgut: "Keine Häme! Wir werden sie vermissen. Diese mutige Friedensfrau war eine unserer
besten Entschuldigungen, warum wir die Kirchensteuer schwänzen."
FAZ, 24.02.2010
Halb sind wir etwas enttäuscht, halb doch auch erleichtert, dass
Durs Grünbeins gestrige Hegemann-
Adoration nicht "echt" scheiße war, sondern von Benn. In weiten Teilen abgeschrieben, also Plagiat in doppelten Anführungszeichen, also beziehungsreich. Im Interview
erläutert der Dichter seine Motive und erklärt, was seiner Ansicht nach "
schiefgelaufen" ist in der ganzen Hegemann-Debatte: "Analytisch gesehen, alles. Es geht im Moment
alles durcheinander. Was ist Intertextualität, was ist Plagiat, was ist ein Ready-made, wie wir es aus visuellen Künsten kennen, was ist ein Insert, ein Zitat, ein Pastiche? Und dann die große moralische Frage, die man schon im zarten Kindesalter gestellt bekommt: Was ist Mein und
was ist Dein?" (Hm, und was lernt uns jetzt Grünbeins Wiederholungstat in der Sache?)
Weitere Artikel: Gina Thomas informiert über
britische Adelsdebatten, jüngst befeuert vom zwölften Herzog von Devonshire, der den Adel für tot erklärt hat und auf seinen eigenen Titel vielleicht sogar verzichtet. Mit Skepsis kommentiert Julia Spinola die Münchner Pläne, den Dirigentenstar
Lorin Maazel als Übergangsnachfolger von Christian Thielemann zu engagieren. Hannes Hintermeier
glossiert Margot Käßmanns trunkene Fahrt als irregeleiteten Fall von Spiritualität. Patrick Bahners liefert einen
launigen Prozessbericht von der Verhandlung zur - offenbar aussichtslosen - Klage gegen die Umbenennung der Münchner Meiserstraße. Gemeldet wird, dass ein
Rammstein-Konzert in Minsk schwer gefährdet ist, weil der höchst einflussreiche Gesellschaftliche Rat bei der Band die Übereinstimmung mit "
weißrussischen Werten" vermisst. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Musikpublizisten
Josef Häusler.
Besprochen werden die Münchner Uraufführung von
Peter Eötvös'
Oper "Die Tragödie des Teufels", eine Londoner Aufführung von
Thomas Bernhards "Heldenplatz", in der zur Freude des Publikums kurz auch mal das
FAZ-Feuilleton beschimpft wird, die Ausstellung "Olbrich - Architekt und Gestalter der frühen Moderne" im Museum
Mathildenhöhe Darmstadt,
Martin Scorseses neuer Film "Shutter Island" (
hier unsere Berlinale-Kritik) und Bücher, darunter eine Neuübersetzung von und eine Einführung zu
Gerard Manley Hopkins (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
SZ, 24.02.2010
Ähnlich
wie Dorothea Dieckmann kürzlich im
Freitag sieht auch Lothar Müller
Helene Hegemann als Opfer, als Opfer nämlich eines linksbürgerlichen Milieus, das nur superbegabte Kinder zeugt. Hier aber hat das Wunderkind versagt, denn es hat in der Not nicht "intertextuell" geschrieben, sondern schlicht kompiliert, so Müller: "Ein solches Zusammenraffen aller möglichen fremden Textbausteine kann auch Wunderkindern beim Anreichern eines Manuskriptes helfen, auf dessen Fertigstellung ein
Verlag - oder ein
ehrgeiziger Vater - drängt."
Aha. Und was ist jetzt der Unterschied zwischen kompilieren, plagiieren und intertextuell schreiben? Oder zwischen Remix, Mashup und Plagiat? Auf der Literaturseite winden sich
vier Artikel um diese Frage herum:
1. Dirk van Gehlen geht davon aus, dass der "Geniestreich" eines Einzelnen
immer Kopie ist und findet Mashups okay, wenn sie auf ein Referenzsystem verweisen.
2. Burkhard Müller findet es idiotisch, Kunst wie das Lebensmittelrecht mit einer "strikten Kennzeichnungspflicht" zu versehen. Ihn verstimmt allerdings, dass Helene Hegemann "die Vogelfreiheit der Blogosphäre für sich in Anspruch" nimmt, deren "
Urkommunismus des Geistes" aber missachtet, wenn sie "hintenherum ein
Eigentum neu für sich selbst" begründet, "wo es insgesamt längst hätte abgeschafft sein sollen".
3. Feridun Zaimoglu, der vor vier Jahren
beschuldigt wurde (
mehr hier und
hier), er hätte Teile seines Romans "Leyla" aus dem 14 Jahre zuvor erschienenen Buch "Das Leben ist eine Karawanserei ..." von
Emine Sevgi Özdamar abgekupfert, gibt im
Interview das aufrichtige Dorfei: "Leute wie ich stehen da als Spießer und Spaßbremsen, weil sie etwas ganz Selbstverständliches aussprechen:
Klau ist Klau."
4. Der Autor
Thomas Meinecke schließlich, der einen Ruf für seine Sample-Techniken hat, erklärt, er wäre enttäuscht, wenn Helene Hegemann sich nur bei Airen bedient hätte: "Ich hoffe, dass da noch
viel mehr Fremdes hineingepuzzelt ist. Damit nicht nur gesagt wird, sie habe abgeschrieben, weil sie nicht ins Berghain reingekommen ist."
Weitere Artikel:
Lorin Maazel wird wohl tatsächlich Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, meldet Helmut Mauro.
Orhan Pamuk will nach Angriffen in der Presse kein Geld mehr vom Staat für sein "Museum der Unschuld".
Vancouver will durch die Olympiade entstandene Schulden mit
Kulturkürzungen ausgleichen, erzählt Nicolaus Schafhausen in einer Reportage aus der Olympiastadt. Die
DFG unternimmt noch einmal den Versuch, die wissenschaftliche Publikationsflut einzudämmmen, berichtet Johann Osel. Julia Amalia Heyer besucht
Ariane Mnouchkine und ihre Truppe.
Besprochen werden
Werner Herzogs Film "Bad Lieutenant", die Uraufführung von
Peter Eötvös' Oper "Die Tragödie des Teufels" in München, einige CDs, die Aufführung von
Johannes Kalitzkes Oper "Die Besessenen" nach dem gleichnamigen Roman von Gombrowicz in Wien.