Heute in den Feuilletons

Nicht an das Große rühren

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2010. Von jenseits des Grabes erklingt nochmal die Stimme Johnny Cashs und lässt den einen oder anderen Feuilletonisten erschauern. Die NZZ präsentiert eine gute Idee für einen großen Teil der neuesten Kunst: Michael Landys' Kunstabfallcontainer. Die Welt bringt ein Gespräch mit dem Historiker Norbert Leithold, der einst das Pornokino reformieren wollte. Die FAZ feiert Michael Lentz' Sprache der Liebe, die SZ den Architekten Ole Scheeren, der den Westen schon hinter sich hat.

FR, 26.02.2010

Ehrfürchtig vernimmt Thomas Winkler noch einmal die Stimme Johnny Cashs, dessen wirklich letztes Album, "American VI: Ain't No Grave", nun posthum erschienen ist: "So sehr sie bisweilen auch zittert, so sehr sie schwankt, spricht aus ihr doch vor allem eines: Die erstaunliche Ruhe eines Menschen, der nichts zu bereuen hat."

Weiteres: Sylvia Staude unterhält sich mit den beiden neuen künstlerischen Leitern des Tanztheaters Wuppertal, Dominique Mercy und Robert Sturm, über ihre Pläne für die Kompagnie nach Pina Bauschs Tod. Harry Nutt berichtet von einer Sitzung des Kulturausschusses zu den klammen Kulturkassen der Kommunen. In Times mager serviert Christian Schlüter Delfin, Wal und Haifisch. Auf der Medienseite spricht Antje Hildebrandt mit Giovanni di Lorenzo über die neue Besetzung seiner Talkshow "3 nach 9"

Besprochen werden die große Byzanz-Ausstellung in der Bonner Kunsthalle (mit der Arno Widmann ganz und gar nicht einverstanden ist) und Thomas Langs Achtzigerjahre-Roman "Bodenlos"

NZZ, 26.02.2010

Wer nicht weiß, was er mit seinen misslungenen Kunstwerken anstellen soll, dem rät Marion Löhndorf, sich beim Künstler Michael Landys zu melden, der in seiner Ausstellung "Art Bin" in der South London Gallery einen riesigen Plexiglas-Container für Kunstabfall gebaut hat. Mehr als 300 Arbeiten, darunter Werke berühmter Künstler wie Damien Hirst oder Gary Hume, haben ihren Weg dorthin schon gefunden: "Die verschmähten Objekte werden von einer Galerie am oberen Rand des Containers dort hineingeworfen, schlagen hart auf und landen irgendwo am Boden dieser Müllkippe der gescheiterten kreativen Visionen."

Weiteres: Franz Haas bejubelt die Gesamtausgabe von Robert Musils Werk, die nun auf DVD erhältlich ist: "Die neuen Herausgeber haben bei der Generalinventur von Musils Werk präzisen Ernst gemacht und werden selig in den Philologenhimmel kommen". In Barcelona ist der katalanische Architekt Ricardo Bofill omnipräsent, weiß Brigitte Kramer. Und er selbst weiß das auch: "Mein Ego braucht keine Denkmäler mehr. Sie finden meinen Namen in allen Nachschlagewerken." Martin Sander meldet, dass die sehr kritische Biografie des polnischen Schriftstellers Ryszard Kapuscinski trotz der Proteste der Witwe erscheinen darf.

Besprochen werden die Aufführung von Thomas Bernhards "Macht der Gewohnheit" im Theater St. Gallen ("ein durchkomponiertes Meisterwerk") und ein paar neue CDs von Schweizer Rockbands sowie Neuinterpretationen von britischen Evergreens.

Welt, 26.02.2010

Elmar Krekeler unterhält sich mit dem Historiker Norbert Leithold, der unter dem Namen Norbert Bleisch zuvor eine ganz andere Karriere Machte - als Schriftsteller, der unter anderem den Roman "2040" schrieb, welcher "in rechten und antiislamischen Kreisen", so Krekeler, eifrig diskutiert werde, und als Pornofilmer, der einst ein Manifest zur Ästhetisierung des Genres an Beate Uhse sandte: "Natürlich war das naiv. Ich habe geschrieben, dass man weg müsse von der Vulgarisierung des Pornos. Allein mit einer Handlung, Lichtregie und diskreterer Kameraführung ließe sich das Genre ästhetisieren. Meine Vorbilder sah ich in Pasolini, Derek Jarman und Peter Greenaway. Zu Beate Uhse deshalb, weil sie das Marktmonopol hatte. Frau Uhse fragte mich, warum sie ein erfolgreiches Geschäftsmodell ändern sollte."

Weitere Artikel: Michael Pilz annonciert eine weitere posthume allerletzte Platte von Johnny Cash. Wolf Lepenies kommentiert die Umbenennung des Institut francais in Institut Victor Hugo, denen gleichzeitig die Etas gekürzt werden. Cosima Lutz porträtiert den 69-jährigigen Schauspieler mit Downsyndrom Helmut Müller, der zur Zeit mit einer Show in Berlin auftritt. Thomas Lindemann stellt das vom Genre des film noir inspirierte Computerspiel "Heavy Rain" vor ("es ist das erste Spiel, von dem man einst ohne Wenn und Aber sagen wir, es sei ein Kunstwerk") und unterhält sich mit dessen Schöpfer David Cage. Eckhard Fuhr gratuliert Klaus-Dieter Lehmann, ehemals Präsident der Preußen-Stiftung, zum Siebzigsten.

Besprochen wird Verdis selten gespielter "Attila" in New York.

TAZ, 26.02.2010

Thomas Winkler stellt eine Musik-Buchreihe vor, die Elke Heidenreich für den Bertelsmann-Verlag herausgibt und die von Pop bis Klassik, Roman bis Sachbuch reicht. Mit durchaus interessanten Titeln, in seiner Intention jedoch eine reine "Pseudoprivatangelegenheit Heidenreichs: streng allein ihrem Geschmack folgend, aber von denkbar großer Öffentlichkeitswirkung..." Besprochen werden das zweite Album des Berliner Techno-Produzenten Hendrik Weber alias Pantha du Prince "Black Noise", das erste eines deutschen Künstler auf dem englischen Kult-Label Rough, und das neue Album von Adam Green "Minor Love".

Auf der Meinungsseite erinnern der Poet Muepu Muamba und der Soziologe Paul Indongo, beide vor der Mobutu-Diktatur aus dem Kongo ins deutsche Exil geflohen, an die Berliner Konferenz zur kolonialen Aufteilung Afrikas vor 125 Jahren und Ansätze, sich seine Geschichte endlich zurückzuholen. "'Solange die Tiere nicht ihre eigenen Erzähler haben, werden Geschichten von der Jagd immer den Jäger preisen', lautet ein afrikanisches Sprichwort. In Afrika wird bis heute der Jäger gepriesen. Dabei hat Afrika seine eigenen Helden, in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Insofern ist es für Afrika dringend geboten, endlich die eigene Geschichte selbst zu interpretieren, statt sich stets auf Auslegungen anderer zu verlassen."

In tazzwei porträtiert Jan Feddersen die Neuköllnerin Ayla, die anders als die Steinfelds dieser Repbulik mit Ayaan Hirsi Ali oder Seyran Ates durchaus etwas anzufangen weiß: "Es seien im Grunde Jeanne d'Arcs der Neuzeit, Heinrich Heines auf zeitgenössisch, vielleicht nicht literarisch, aber in der ätzenden Kritik doch vergleichbar. Sie darf diesen Vergleich anstellen, sie ist Germanistin und außergewöhnlich klug überhaupt."

Und Tom.

FAZ, 26.02.2010

Hin und weg ist Felicitas von Lovenberg von Michael Lentz' neuem Gedichtband "Offene Unruh". Ein Band mit Liebesgedichten und jeder, findet von Lovenberg, sollte ihn lesen: "Die Liebe lässt sich nicht beherrschen, die Sprache der Liebe schon: Das macht 'Offene Unruh' zu einem Werk, das diese Frühjahrssaison weit überdauern wird." (Auf der verlinkten Seite kann man sich in einer Videolesung des Autors auch gleich selbst einen Eindruck machen.)

Weitere Artikel: Ganz recht haben die Chinesinnen und Chinesen, findet Mark Siemons, dass sie den mit Kopien-Rekordzahl in die Kinos gehievten Propagandaschinken "Konfuzius" nicht sehen wollen und, wenn sie ihn doch gesehen haben, nicht mögen. In der Glosse bebt Patrick Bahners' Stimme nicht mit der von Sabine Leutheuser-Schnarrenberger mit. Oliver Tolmein liest die englische Richtlinie zur Strafverfolgung von Sterbehilfe. Aus Bologna berichtet Sabine Frommel von der Kunstmesse "Fiera d'arte", die in diesem Jahr unter dem Motto "Bologna si rivela" (Bologna offenbart sich) steht. "Mk" meldet, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung den Antizionisten Norman Finkelstein zum Vortrag erst ein- und jetzt wieder auslud. Auf der Medienseite kommentieren Michael Hanfeld und Edo Reents die zensurähnlichen Eingriffe von Apple gegen Apps mit nach Meinung des Konzerns unzureichend bekleideten Frauen.

Besprochen werden die Aufführung von Giuseppe Verdis "Attila" an der Met in New York, dirigiert von Ricardo Muti und mit Bühnenbildern der Architekturstars Herzog & de Meuron, die große Ed-Ruscha-Retrospektive im Münchner Haus der Kunst, die Meeres-Doku "Unsere Ozeane" und Bücher, darunter Siegfried Lenz' Novelle "Landesbühne" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 26.02.2010

Alexander Hosch porträtiert den deutschen Architekten Ole Scheeren, der spätestens mit dem CCTV-Turm in Peking aus dem Schatten von Rem Kohlhaas getreten sei. Und den Westen hat er geistig auch schon beinahe hinter sich gelassen: "Er ist mit der Schauspielerin Maggie Cheung liiert, weshalb ihn in der Volksrepublik jeder kennt. Er ist ein westöstlicher Mensch geworden. Er sagt 'der Westen', nicht 'wir'. Ohne Offenheit gebe es kein Begreifen von Freiheit als Möglichkeit in einer großen Ordnung. 'Der Westen hat diese Offenheit nicht. Er fordert sie nur.' Das Chaos im Kleinen gebe den Menschen Chinas auch Freiheiten. Wenn sie nicht an das Große rühren."

Weiterer Artikel: Aus Griechenland muss Kai Strittmatter von wenig freundlicher Stimmung gegen Deutschland berichten. Gustav Seibt liefert historische Hintergrundinformationen zu Kriegsschuld und Aufrechnung. Gleichfalls einen historischen Abriss liefert der emeritierte Professor für türkische Kultur Klaus Kreiser, und zwar zur Frage, was ein Imam ist. In Großbritannien wird, wie Susan Vahabzadeh erläutert, an Tim Burtons "Alice im Wunderland"-Film gerade ein Exempel statuiert: die DVD wird gegen die bisherigen Üblichkeiten schon nach drei Monaten erscheinen, die Kinos gaben nach ersten Boykottdrohungen klein bei. Johannes Boie sieht mit dem Urteil gegen die deutsche Filiale des Schweizer Filehosters Rapidshare das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wolfgang Schreiber unterhält sich mit dem Komponisten Aribert Reimann über dessen neue Oper "Medea" (nach Grillparzer, nicht Euripides), die am Sonntag in Wien uraufgeführt wird.

Besprochen werden eine Inszenierung von Ibsens "Nora" in Paris mit einer für Thomas Hahn leider enttäuschenden Audrey Tautou in der Hauptrolle, ein Münchner Konzert mit der Violinistin Julia Fischer, die Wiederentdeckungs-Ausstellung "Arshile Gorky - A Retrospective" in der Tate Modern in London und Bücher, darunter Moritz Rinkes Romandebüt "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Eine sehr positive Sonderseite bringt die SZ außerdem zu "Ruhr 2010", die wahrscheinlich nur zufällig von einer Anzeige des Hauptsponsors Haniel geschmückt ist.