03.03.2010. Liao Yiwu schickt seinen deutschen Lesern einen Trauergesang für die Dongxiao - die taz bringt ihn. Philip Gourevitch trägt außerdem im New Yorker einige sehr interessante Links zu Liao bei. Der NZZ geht das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung nicht weit genug: Sie fragt, was aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung geworden ist. In Sachen Leistungsschutzrechte spielt die Bundesjustizminsterin im Magazin promedia auf Zeit.In der FR schreibt der chilenische Autor Ariel Dorfman über das Erdbeben.
TAZ, 03.03.2010
Wie
gestern überall berichtet wurde, darf der chinesische
Schriftsteller Liao Yiwu nicht zur lit.cologne reisen. Die chinesischen Behörden hatten ihn
aus dem Flugzeug geholt und auf der Polizei verhört. Jetzt schickt Liao Yiwu einen
Offenen Brief an seine Leserinnen und Leser in Deutschland, in dem er sich für ihre Anteilnahme bedankt und ihnen einen
Xiao-Song schickt. Die Dongxiao, eine Flöte, die man vertikal spielt, hat er 1992 im Gefängnis von einem Mönch spielen gelernt. "Ich habe die Verantwortung, meinen lieben Lesern in Deutschland, die ich nie getroffen habe, begreiflich zu machen, dass das
Leben des chinesischen Geistes nicht länger das der totalitären Regierung ist. Des Weiteren möchte ich meine Mitschreiberin in Deutschland, Liao Tiangi, damit betrauen, mein Stück 'Chuigushou jian hao-sang zhe Li Changgeng' zu lesen. Der Held dieser Geschichte spielt die Suona, ein chinesisches Instrument aus Kupfer. Die Tonlage ist hoch, intensiv und
scharf wie ein Messer. Sie unterscheidet sich vernehmlich von der Dongxiao, die mich mein Meister lehrte, aber der Geist der beiden Instrumente ist derselbe. Diese beiden Instrumente, ergänzt um das Wehklagen der Trauernden, werden zusammen zum
Gedenken an die Toten und zum Trost der Lebenden gespielt. In diesem China, das weder den Toten noch den Lebenden ein freies Land ist, ist die Aufmerksamkeit meiner Leser für diese Geschichte auch mir ein Trost am Rand meines Grabes."
Auf den vorderen Seiten
berichtet Christian Rath über das
Urteil zur Vorratsdatenspeicherung. Wolf Schmidt
fasst Reaktionen auf das Urteil in
FDP und
CDU zusammen.
Besprochen werden eine
Ausstellung zu
Vermeers Bild
"Ruhm der Malkunst" im
Kunsthistorischen Museum Wien,
Tim Burtons Verfilmung von
"Alice im Wunderland" und die
Ausstellung "
Köln in Berlin. Nach dem Einsturz: Das historische Archiv" im Berliner
Martin-Gropius-Bau.
Und
Tom.
Weitere Medien, 03.03.2010
Philip Gourevitch, Chef der hochedlen
Paris Review,
setzt im
New Yorker einige interessante Links zu
Liao Yiwu. Unter anderem verweist er auf einen
Text Liaos in der
Paris Review über den
4. Juni 1989 und darüber, wie er alle
folgenden Tage dieses Datums verbrachte - nicht selten im Gefängnis. Der Text beginnt auf englisch so: ""A massacre took place in the capital city of the People?s Republic of China. The size of it
shocked the world. Nobody knows precisely how many innocent people lost their lives. The government put the number of 'collateral deaths' at two hundred or less. But many Chinese believe that it was more like three thousand innocent students and residents who were slain."
Aus den Blogs, 03.03.2010
Jörg Wittkewitz
antwortet in
digitalpublic.de auf die kulturkonservativen Einwände
Frank Schirrmachers und neuerdings
David Gelernters (
hier) gegen die "Informationsflut" im Netz: Das Neue am Netz sei gerade "die Tatsache, dass man den Computer nicht einfach nutzt, um
Datenberge abzuspeichern und per Datenbank zu katalogisieren, sondern man nutzt mit dem Web den PC als Mittel,
eigene Daten aus dem persönlichen Umfeld ins Netz und damit der Welt zur Verfügung zu stellen. Man schreibt selbst und teilt es umgehend allen mit, die es mitlesen wollen. Diese kommunkative Seite wird weder bei Gelernter noch bei Schirrmacher als Chance gesehen, sondern als Informationsflut
zweiter Ordnung, weil sie ja keinen offiziellen Grund hat."
Alle Links
zum Thema Vorratsdatenspreicherung bei
Rivva.
Immer deutlicher wird, dass die Regierung beim Thema
Leistungsschutzrechte für Verlage
auf Zeit spielt. Im Interview mit Helmut Hartung für
promedia (
online auf Carta) sagt Bundesjustizminsterin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: "Es besteht .. keine Notwendigkeit, die Sache
übers Knie zu brechen. Wir müssen die Interessen aller Beteiligten angemessen berücksichtigen und deswegen sehr sorgfältig arbeiten. Mit einem unüberlegten Schnellschuss wäre niemandem geholfen."
NZZ, 03.03.2010
Joachim Güntner
geht das gestrige Urteil zur
Vorratsdatenspeicherung nicht weit genug: "Von der
informationellen Selbstbestimmung als Grundrecht des deutschen Bürgers sprechen die Richter kaum. Dass sie die Vorratsdatenspeicherung mit Auflagen versehen wissen wollen, aber doch grosso modo gutheißen, passt in unsere Zeit. Es bleibt dabei, dass der Datenschutz sich zu einem
Papiertiger statt zu einem die Privatsphäre hütenden Zerberus entwickelt."
Weiteres: Aldo Keel
berichtet, dass der
isländische Staat nun zwölf Jahre ein
Vorkaufsrecht hat, um den Kunstschatz
seiner Banken, die im Herbst 2008 kollabierten, zu retten. Besprochen werden die
Uraufführung der "Medea" von
Aribert Reimann an der Wiener Staatsoper, ein Beethoven-Konzert des Kammerorchester Basels unter der Leitung von
Giovanni Antonini in Zürich, einige Pariser Theater-
Inszenierungen (unter anderem von
Didier Bezace,
Ariane Mnochkine,
Joel Pommeratin), das
Buch "Meditation und Moderne" von
Karl Baier und einige Kinder- und Jugendbücher (mehr dazu in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FR, 03.03.2010
Der chilenische
Dramatiker Ariel Dorfman erinnert nach dem Erdbeben in Chile an eine ähnliche Katastrophe vor 50 Jahren und
hofft darauf, dass sich das Land ebenso wie damals zusammenfindet: "Wie alle großen Unglücksfälle kann auch die derzeitige Tragödie in Chile als
eine Prüfung gesehen werden, als eine Gelegenheit, uns selbst genauer zu betrachten und zu überlegen, was wir hier wirklich wieder aufbauen - nicht nur die zerstörten Krankenhäuser, beschädigten Straßen und
gebrochenen Knochen, sondern auch unsere angeschlagene Identität."
Weiteres: Harry Nutt
stellt das Projekt
"ÜberLeben im Umbruch" vor, für das Soziologen, Ethnologen und Künstler den Niedergang der Stadt
Wittenberge begleiteten. Amin Farzanefar
berichtet, dass der oppositionelle iranische Regisseur Jaafar Panahi am Montagabend verhaftet wurde. Besprochen werden
Tim Burtons "betörende"
3D-Version der "Alice im Wunderland", die
Uraufführung von
Kaiha Saariahos Oper "Emile" in Lyon, der
Abschluss von Javier Marias' Romantrilogie "Dein Gesicht morgen". In Times Mager
sieht Christian Schlüter die "
verbalen Schlägertrupps"
der Islamkritiker durchs Land ziehen.
Welt, 03.03.2010
Tahir al-Kadri, Leiter der muslimischen Bewegung
Minhaj ul-Quran, hat in London eine
Fatwa gegen Selbstmordattentäter ausgesprochen,
berichtet Thomas Kielinger. Er nannte sie "Ungläubige" und sagte, sie seien "für die Hölle bestimmt". "'Ich spreche nicht anders als der Prophet', deklarierte der Gelehrte, 'diese Leute werden die Hunde der Hölle sein. Es gibt keinen islamischen Terrorismus - wer Terrorismus propagiert, ist
kein Muslim, er stellt sich vielmehr außerhalb der Umma (Glaubensgemeinschaft aller Muslime, d. Red.) und wird damit ein Ungläubiger.'"
Die
Griechen werden sich zuverlässig gegen die
Reform ihres Gemeinwesens wehren,
meint im Feuilleton Berthold Seewald, der für seine These Beispiele aus der Vergangenheit zitiert: "Schon der erste Präsident nach der Revolution von 1821,
Johann Kapodistrias, versuchte es mit einer Erziehungsdiktatur. Er stützte sich auf philhellenische Europäer, die ihm moderne Bataillone drillten, baute eine zentrale Verwaltung auf, gründete Schulen, Magazine und Werkstätten - und wurde 1831
beim Kirchgang in seiner Hauptstadt Nauplia erschossen."
Weitere Artikel: Eine instruktive ganze Seite ist dem Einsturz des
Kölner Stadtarchivs vor einem Jahr gewidmet, der auf
Pfusch am Bau der nahe gelegenen U-Bahn zurückzuführen ist. Sven Felix Kellerhoff
stellt das Buch "Gedächtnisort" vor, das den Schaden bilanziert, und verweist auf eine kommende
Ausstellung zur Katastrophe im Berliner Gropiusbau. Hildegard Stausberg
unterhält sich mit dem Kölner Kulturdezernenten
Georg Quander: "Wir haben
fünf Prozent Totalverlust. Zwischen zehn und 15 Prozent liegt noch im Grundwasser." Stefan Keim
begibt sich auf eine Irrfahrt homerischen Ausmaßes durch die
Theater des Ruhrgebiets aus Anlass von "Ruhr 2010". Peter Dittmar
gratuliert dem Karikaturisten
Ronald Searle zum Neunzigsten.
Besprochen werden
Tim Burtons "Alice"-
Verfilmung (mehr
hier), eine
Ausstellung über die Sammlerfamilie
Camondo im Jüdischen Museum
von Paris und
Vladimir Malakhovs "La Peri"-
Choreografie an der Berliner Staatsoper.
FAZ, 03.03.2010
Mark Siemons fasst den
Brief zusammen, den der
Schriftsteller Liao Yiwu nach seinem erneuten Ausreiseverbot (er war zur lit.cologne eingeladen) an die Deutschen schrieb, und kommentiert: "Schwerlich lässt sich ein Text denken, der poetologisches Bekenntnis, politische Anklage und persönlichen Schmerz dichter zusammenführt als dieser Brief, der nichts Geringeres als ein literarisches Meisterwerk ist."
Der Chaos-Computer-Club-Experte
Frank Rieger, der im Auftrag des Gerichts ein Gutachten verfasst hatte,
kommentiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Vorratsdatenspeicherung: "Zwar gestehen die Richter zu, dass im Rahmen der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr eine Speicherung nicht grundsätzlich unzulässig ist. Sie sind aber - und das ist wesentlich - der vom Chaos Computer Club und anderen Sachverständigen vorgetragenen Argumentation gefolgt, dass die Verkehrsdaten in ihrer Gesamtheit genauso kritisch zu sehen sind wie der Inhalt von Telefonaten und E-Mails. Die neuen Zugriffsregeln sind mindestens so hoch angesetzt wie die heutigen für
Telekommunikationsüberwachung, teilweise sogar höher."
Weitere Artikel: Mark Siemons kommentiert
Bilder, die zeigen, wie in der chinesischen Stadt Wuhan eine halbe Million Menschen rituell Cai Shen Ye, dem
Gott des Reichtums huldigen. Die Ermittlungen zu den Ursachen des Kölner
Stadtarchiveinsturzes sind noch nicht abgeschlossen, eines steht aber, teilt Andreas Rossmann mit, ziemlich sicher schon fest: der "grob fahrlässige" Verzicht auf eine "doppelte Bauüberwachung" hat das Unglück erst möglich gemacht. Das Berliner
Stadtschloss wird mangels Spenden wohl kuppellos bleiben, meldet Andreas Kilb. Karen Krüger
nimmt in der Türkei ein wachsendes Bewusstsein dafür wahr, dass das
Kopftuchverbot "das Recht auf Bildung" sowie die "Meinungs- und Religionsfreiheit " einschränkt. Julia Voss hat sichtlich beeindruckt eine multimediale Leseperformance des
Bestsellerautors Frank Schätzing erlebt, für die zweieinhalbtausend Menschen in die Alte Oper gekommen waren. Auf der
DVD-Seite gibt es Empfehlungen für Editionen von Richard Kellys Thriller "The Box", Laurent Cantets fast prophetischem Finanzkrisenfilm "Auszeit", Henri Verneuils Klassiker "I wie Ikarus" und, im Blick auf Peter Jacksons und Steven Spielbergs noch für ein Jahr in der Postproduktion befindlichen Herge-Film, die Ausgaben von zwei "
Tim und Struppi"-Verfilmungen aus den späten fünfziger Jahren. Auf der Medienseite porträtiert Andreas Kilb den gestern in Teheran verhafteten Filmregisseur
Jafar Panahi.
Besprochen werden eine Ausstellung in Madrid, die das Multitalent
Wyndham Lewis auch als Künstler zu würdigen weiß,
Benjamin Heisenbergs Autorenfilm-Thriller "Der Räuber" (
mehr) und Bücher, darunter
Ali Smiths Erzählungsband "Die erste Person" (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
SZ, 03.03.2010
Im Aufmacher begrüßt Thomas Steinfeld universitäre Bemühungen, die
Publikationsflut von Professoren einzudämmen. Dirk Graalmann kommentiert den traurigen Stand der Dinge in
Köln ein Jahr nach dem Einsturz des
Stadtarchivs (vielleicht wäre es eine Idee diese offenbar zur Selbstverwaltung unfähige Kommune unter UNO-Verwaltung zu stellen?)
Otfried Höffe setzt in einer Staatsbürgerkundelektion trotz Finanzkrise sein
Vertrauen in die Demokratie, beklagt aber die "kollektive Willensschwäche" unserer Gesellschaft, die sich gegen eine immer höhere
Verschuldung nicht auflehnt.
Gemeldet wird, dass der iranische Filmemacher
Jafar Panahi festgenommen wurde (
mehr hier). Auf der Medienseite stellt Sebastian Kunigkeit das Genre des "Web Documentary" vor und nennt als Exempel die
"Journey to the end of coal" der Pariser Produktionsfirma Honkytonk Films.
Besprochen werden
Tim Burtons 3D-Version von
Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" (mehr
hier), Choreografien der
Tanzplattform Deutschland in Nürnberg, die Ausstellung "Aufruhr 1225! Ritter, Burgen und Intrigen - Das Mittelalter an Rhein und Ruhr" in
Herne, die Ausstellung "Ödön von Horvath in Murnau" im
Schlossmuseum Murnau und Bücher, darunter
Philip K. Dicks nachgelassener Roman "Unterwegs in einem kleinen Land" (mehr
hier und in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).