Heute in den Feuilletons

Zerrissene Blätter, zerbröselte Siegel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2010. Christopher Hitchens graust es in Slate vor dem saudischen Anwalt Ahmed Zaki Yamani, der die dänische Zeitung Politiken mit Klagedrohungen dazu brachte, sich für den Abdruck der Mohammed-Karikaturen zu entschuldigen. Darf man einfach die Geschichte verdrehen? Bernard-Henri Levy kritisiert in den neuesten Filmen Tarantinos und Scorseses eine Tendenz zum Revisionismus. Laut BBC betrachten 80 Prozent aller Weltbürger Internetzugang als fundamentales Menschenrecht. Und Oscar-Preisträgerin Kathryn Bigelow erklärt in der Welt, wie Journalismus funktioniert.

Aus den Blogs, 09.03.2010

So etwas wie eine Tendenz zum Revisionismus, zur Leugnung des Geschehenen, macht Bernard-Henri Levy in seiner Website La regle du jeu in den jüngsten Filmen Tarantinos und Scorseses aus. In "Inglorious Basterds" entscheidet Tarantino einfach, dass Hitler in Paris stirbt. Und auch in "Shutter Island" rekonstruiert Scorsese Ereignisse der Nazizeit nach eigenem Gusto: "Die Nazizeit scheint immer mehr zu einem neuen Spielplatz für die Bad Boys von Hollywood zu werden, dessen Mogule wie der Gott in der Philosophie George Berkeleys ihre Schöpfung minütlich überdenken und sich die Entscheidung darüber anmaßen, was geschehen ist und was nicht. Besser: es ist wie in einem Selbstbedienungsladen, wo all jene, die glauben, die Fabel regiere die Welt und die Realität sei nur ein Modus der Fiktion, sich die passenden Versatzstücke aussuchen. Die Kunst kommt dabei auf ihre Kosten. Nicht die Erinnerung."

Der saudische Anwalt Ahmed Zaki Yamani, angeblicher Vertreter aller Nachfahren des Propheten, brachte die dänische Zeitung Politiken mit unverhüllten Drohungen dazu, sich für den Abdruck der Mohammed-Karikaturen zu entschuldigen - eine "abscheuliche Entscheidung" dieses Blattes, findet Christopher Hitchens, der in Slate eine Menge Links zu der Affäre setzt. Unter anderem zitiert er Äußerungen des Anwalts auf einer Pressekonferenz, die der nach der Politiken-Entscheidung in Beirut gab: "In our view, all religious icons of all religions, such as the Virgin Mary, Jesus Christ, Moses, and (not to be compared to prophets and messengers) others who are non-religious icons but have contributed to humanity like Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Martin Luther King, the Dalai Lama, and others such as Ibn Sina, Ibn al-Haitham and Albert Einstein all deserve respect and protection from ridicule and defamation." Hitchens' Kommentar dazu: "Cretinism on this historic level is comparatively rare."

(Via BoingBoing) Ethan Zuckerman greift im Blog Worldchanging eine Rede Hillary Clintons über Publikationsfreiheit im Internet auf. Die amerikanische Außenministerin hatte dort angekündigt, Techniken zu unterstützen, die Internetzensur repressiver Regimes umgehen können. Eine von Zuckermans Ideen hierzu: "We need to shift our thinking from helping users in closed societies access blocked content to helping publishers reach all audiences. In doing so, we may gain those publishers as a valuable new set of allies as well as opening a new class of technical solutions."

In der Achse des Guten wundert sich Henryk Broder, welche Gegensätze der amerikanische Historiker und Israelkritiker Norman Finkelstein überwinden kann: "Er bringt Menschen zusammen, die sonst nicht einmal dasselbe Klo benutzen würden. Hermann Dierkes, Wolfgang Gehrke und die junge Welt auf der einen, die National Zeitung auf der anderen Seite. Der 'Sohn von jüdischen Eltern und Holocaust-Überlebenden', der 'renommierte amerikanische Politikwissenschaftler' hats auch der braunen Pest angetan."

Lawrence Lessig ist wahrscheinlich der größte lebende Virtuose der Powerpointpräsentation. In folgendem Vortrag geht es um eine traurige Paradoxie: Es sind die Demokraten, nicht die Republikaner, die mit Zähnen und Klauen ein betoniertes Copyright verteidigen - inklusive der Regierung Obama:



Mediagazer ist ein neuer Aggregator für Mediennews, erfunden von den Machern des technischen Mediendienstes Techmeme. Aus der Eigenwerbung: "Mediagazer presents the day's must read media news on a single page. - The media business is in tumult: from the production side to the distribution side, new technologies are upending the industry. What do news organizations need to do to survive? Will books become extinct?"

(Via BoingBoing) Rauchen hatte auch seine schönen Seiten. Dieses Video zeigt, was passiert, wenn zwei Rauchringe kollidieren.


Weitere Medien, 09.03.2010

Die BBC hat eine internationale Umfrage durchgeführt. Fast 80 Prozent der Befragten sehen Internetzugang heute als ein fundamentales Menschenrecht: "The survey - of more than 27,000 adults across 26 countries - found strong support for net access on both sides of the digital divide. Countries such as Finland and Estonia have already ruled that access is a human right for their citizens. International bodies such as the UN are also pushing for universal net access."
Stichwörter: Internetzugang

FR, 09.03.2010

Regisseur Rosa von Praunheim berichtet für die FR über die Oscar-Verleihung, eine Aufgabe, der er sehr beflissen nachkommt: "Wie immer bot die Oscar Show ein spektakuläres Bühnenbild, faszinierende Showeinlagen, so dass wir alle hier in good old Germany erblassen müssen." Mark Obert porträtiert Oscar-Gewinner Christoph Waltz. Und Daniel Kothenschulte würdigt Kathryn Bigelow, die "unter Filmliebhabern bereits seit zwei Jahrzehnten als beste Regisseurin Amerikas gilt".

Weiteres: In Times mager sorgt sich Hans-Jürgen Linke um Südafrikas Weinbaugebiete. Besprochen werden die in Hamburg uraufgeführte Oper "Le Bal" von Matthew Jocelyn und Oscar Strasnoy, der Gesprächsband "Unser Jahrhundert" von Helmut Schmidt und Fritz Stern sowie Krimis aus Südafrika (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 09.03.2010

Vielen geretteten Archivalien des Kölner Stadtarchivs geht es wie Tiefkühlkost: Wenn sie länger als ein Jahr eingefroren liegen, droht ihnen Gefrierbrand. Andere zerstörte, nicht eingefrorene Objekte kann man derzeit in einer Ausstellung im Berliner Gropius-Bau betrachten, wie Joachim Güntner informiert: "Sie führt dem Besucher die breite Palette der Schäden vor Augen, zeigt von Nässe und Druck skulptural verformte Akten, geborstene Einbände, zerrissene Blätter, zerbröselte Siegel. Gewichtiger aber als das Zeugnis des Schreckens ist die Botschaft, der gemäß sich Kölns Archiv auf dem Weg der Wiederherstellung befindet."

Weitere Artikel: Klaus Bartels spürt der etymologischen Herkunft des Wortes "Privat" nach. Besprochen werden Thomas Ostermeiers Aufführung von Lars Norens "Dämonen" an der Schaubühne Berlin, die Ausstellung "Mode sprengt Mieder" im Münchner Stadtmuseum, Miljenko Jergovics Roman "Freelander" (Leseprobe), Ivan Nagels Band "Gemälde und Drama" sowei ein Gedichtband der amerikanischen Dichterin Rae Armantrout. (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite berichtet Roger Blum von der erfolgreichen Integration der Berner Zeitung Der Bund in den Berner Tages-Anzeiger. Rainer Stadler hat ein paar Zahlen zur Geräte- und Mediennutzung in der Schweiz. Außerdem weiß er, warum drei Millionen amerikanische Zuschauer zu Anfang der Oscar-Verleihung nur schwarz sahen. Rainer Stadler macht sich anlässlich der Publikation der Genfer Polizeifotos von Hannibal Ghadhafi Gedanken zur Bilderflut.

TAZ, 09.03.2010

Warum haben Institutionen wie die Heinrich-Böll-Stiftung jüdische Israelkritiker wie Norman Finkelstein ausgeladen?, fragt Iris Hefets, die sich selbst als israelische Israelkritikerin versteht, auf der Meinungsseite. Im Kulturteil unterhält sich Hannes Koch mit dem Kapitalismuskritiker Jean Ziegler. Sven von Reden resümiert die Oscar-Verleihung. Besprochen werden ein Buch über Thinktanks, Stefan Puchers Andersen-Spektakel in Hamburg und die große Ed Ruscha-Ausstellung in München.

Und Tom.

Welt, 09.03.2010

Ziemlich sauer reagiert Matthias Heine auf den Vorwurf Frie Leysens, Chefin des Festivals Theater der Welt, die deutschen Zuschauer hätten "immer noch einen kolonialistisch geprägten Blick auf die Welt": Das sind so die Sprüche einer jener "Dramaturgendominas, die sich das Theater immer nur als eine verschärfte Lehranstalt vorstellen können - ein Mittelding zwischen Kloster Ettal und Marxismusseminar. Zwangsläufig landen diese Frauen immer irgendwann an der Spitze von Theater der Welt."

Kathryn Bigelows Oscar für ihren Kriegsfilm "Hurt Locker" ist kein "Sieg für die Regiefrauen", findet Hanns Georg Rodek, sondern eher Ausdruck eines Unbehagens am Umbruch in der Filmproduktion: "Auch wenn der Digitalisierung die Zukunft gehört, lautet das Signal, bleibt das klassische Kinohandwerk unentbehrlich."

Bigelow selbst zeigt im Interview, dass sie nicht nur übers Filmgeschäft, sondern auch übers Journalistengeschäft Bescheid weiß. Auf die Frage, warum man ausgerechnet ihr nachsagt, eine Spezialistin für den Geschlechterkampf zu sein, antwortet sie: "Weil die meisten Medien voneinander abschreiben. Und sicher habe ich irgendwann mal einen Journalisten erwischt, der meine 1,82 Körpergröße - für die ich beim besten Willen nichts kann - als Bedrohung empfunden hat. Das hat er in seinen Artikel einfließen lassen, und dann haben es andere gelesen und diese Gefühle als ihre eigenen ausgegeben."

Weitere Artikel: Thomas Lindemann annonciert die nächsten Konzerte von Jean Michel Jarre. Gernot Facius gratuliert dem tschechischen Schriftsteller Ota Filip zum Achtzigsten. Michael Pilz gratuliert dem Saxofonisten Ornette Coleman zum Achtigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Mel Ramos - 50 Jahre Pop Art" in der Kunsthalle Tübingen, die Ausstellung "Die Umarmung des Mondes" im Antwerpener Provinciehuis, die Uraufführung von Oscar Strasnoys Oper "Le Bal" in Hamburg und einige CDs.

FAZ, 09.03.2010

Sehr einverstanden ist Michael Althen mit den vielen Oscars für Kathryn Bigelows Film "The Hurt Locker". Er erklärt auch gerne noch einmal, warum der Film die Preise verdient hat: "Ob das gleich ein Signal fürs unabhängige Filmemachen ist, wie es einer der Produzenten einforderte, darf eher bezweifelt werden. Es ist eher eine Verneigung vor einer Art des Filmemachens, die in Hollywood etwas in Vergessenheit geraten ist: nämlich die Konzentration auf ein Genrekino, das ohne großes Brimborium auskommt und ohne Rücksicht auf Zuschauererhebungen seinen Job erledigt. Kathryn Bigelow hat einen Film gedreht, der nicht mehr sein will, als er ist - und darin hat dieser kleine Film Größe gezeigt."

Weitere Artikel: Andreas Kilb informiert über Diskussionen zur Frage, wie der Bund den notleidenden Kommunen in Kulturdingen helfen könnte. In der Glosse muss Jürg Altwegg konstatieren, dass in der Schweiz die Aufklärung über die Beteiligung am Sklavenhandel ins Stocken geraten ist. Jürgen Kaube sucht den Zusammenhang zwischen Reformschulideologie und Missbrauchsfällen in der Odenwaldschule. Von einer Berliner Tagung zur Kunst der Übersetzung berichtet Katharina Teutsch. Einen Vortrag des Historikers Peter Blickle über "Zwölf Artikel" der Bauern von 1525 referiert Oliver Jungen. Kerstin Holm klärt darüber auf, wie sehr der Religionsunterricht in Russland bislang im Argen liegt - und welche Maßnahmen nun dagegen ergriffen werden sollen. Richard Kämmerlings schreibt einen kurzen Nachruf auf den Musiker Mark Linkous aka Sparklehorse.

Besprochen werden die Uraufführung von Oscar Strasnoys Einakter "Le Bal" im Rahmen einer "Trilogie der Frauen" an der Staatsoper Hamburg und Bücher, darunter Mira Magens Roman "Die Zeit wird es zeigen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 09.03.2010

Jörg Häntzschel hat eine ganze Seite 3 über die Oscar-Verleihung geschrieben. Nicht so zufrieden mit dem Oscar für Kathryn Bigelow ist Tobias Kniebe: "Mit 'Hurt Locker' gewinnt eine Frau erstmals den Oscar für Regie, die den machohaftesten Film der letzten Jahre gedreht hat."

Weitere Artikel im Feuilleton: Anlässlich der Debatten um sexuellen Missbrauch an den Schulen legt Albert von Schirnding noch einmal dar, was Platon unter "pädagogischem Eros" verstand (nämlich Knabenliebe, klarer Fall). Jörg Häntzschel unterhält sich mit der Performance-Künstlerin Marina Abramovic, die siebzig Tage lang im Foyer des Moma an einem Tisch sitzen wird - und jeder darf sich zu ihr setzen. ("Täglich werden zwischen 11.000 und 15.000 lärmende Menschen an mir vorbeilaufen. Ich will die Ruhe im Auge des Orkans sein", sagt sie zu ihrem Konzept.) Volker Breidecker gratuliert dem Konzertveranstalter Fritz Rau zum Achtzigsten. Karl Lippegaus gratuliert Ornette Coleman zum Achtzigsten. Klaus Brill gratuliert Ota Filip zum Achtzigsten. Jens Malte Fischer schreibt zum Tod des Tenors Philip Langridge.

Besprochen werden die kleine Oper "Le Bal" des Argentiniers Oscar Strasnoy, eine Farce nach der Erzählung von Irene Nemirovsky, in Hamburg, Stefan Puchers Stück "Andersen - Trip zwischen Welten" und Bücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).