Heute in den Feuilletons

Dinge zusammenzuleimen ist sehr einfach

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2010. Die "Leipziger Erklärung" entfacht die Hegemann-Debatte neu. Die Welt erklärt, warum Christa Wolf Literatur ist, obwohl sie Sätze von Faulkner ohne Dank und Tüttel übernommen hat. Die SZ erklärt, warum Peter Esterhazy Literatur ist, obwohl er ganze Kapitel anderer Autoren abschrieb. In der SZ erklärt Sibylle Lewitscharoff, warum sie von Mashups nichts hält. In der Welt erklärt Claude Lanzmann, warum die Juden nicht gerettet werden konnten.  Auch die Debatten um die Abgründe der Reformpädagogik und  des Katholizismus gehen weiter: Hans Küng fordert in der SZ ein Mea Culpa des obersten Vertuschers.

Welt, 17.03.2010

Arte zeigt heute bisher ungezeigtes Material aus Claude Lanzmanns Interview mit dem polnischen Kurier Jan Karski, der zu den Ersten gehörte, der die Amerikaner über den Holocaust informierte, berichtet Johannes Wetzel. Lanzmann wendet sich damit gegen einen Karski-Roman des Autors Yannick Haenel, der den Westalliierten vorwarf, sie hätten den Juden nicht geholfen. Nach Lanzmann war es offenbar nicht möglich, das Ausmaß der Tat im Moment ihres Geschehens zu ermessen - und den Juden rechtzeitig zu helfen: "Die europäischen Juden wurden nicht gerettet. Hätten sie gerettet werden können? Haben diejenigen, die heute im Brustton der Überzeugung 'Ja' sagen, nicht ihrerseits Mühe, ihre eigene Zeit zu verstehen? Ihr retroaktiver Moralismus ist vielleicht die Kehrseite ihrer Blindheit."

Eine ganze Seite bringt die Welt zu Vergangenheit und Zukunft des Buchs. Uwe Wittstock porträtiert die dienstälteste Buchhändlerin Deutschlands, Gerda Brencher, die mit 88 Jahren ihre Kasseler Buchhandlung schließt, in den Tagen also, in denen das Ipad auf den Markt kommt. Außerdem werden einige Verleger und Lektoren zu ihren Erwartungen befragt. Detlef Felken, Cheflektor von C.H. Beck, erklärt sehr gut, warum Lektoren keineswegs überflüssig werden: "Lektoren sind Trüffelschweine. Sie suchen den modrigen Waldboden nach erlesenen Texten ab. Sie treiben sich bei Agenturen, auf Buchmessen, Literaturfestivals und gelehrten Konferenzen herum. Sie lesen jede Menge Mist und lehnen ihn höflich ab. Sie diskutieren mit einem Autor darüber, was in seinem Buch stehen sollte, und sagen ihm, warum die eine Stelle da noch nicht so toll ist. Sie versuchen das Beste aus ihm herauszuholen und geben ihm das Gefühl: Einer liest Dich wirklich."

Wittstock schreibt auf der Magazinseite auch einen schönen Artikel zur Hegemann-Debatte, die durch die "Leipziger Erklärung" neu entfacht wurde. Er weist unter anderem darauf hin, dass die ersten Sätze aus den "Kindheitsmustern" der Mitunterzeichnerin Christa Wolf von William Faulkner übernommen sind - und zwar ohne Anführungszeichen und Danksagung: "Christa Wolf eine Wegbereiterin der 'Copy & Paste'-Ästhetik?" fragt Wittstock und antwortet: "Anders als die 'Leipziger Erklärung' suggeriert, kommt es nicht darauf an, ob ein Schriftsteller an fremden Töpfen nascht und 'ohne Einwilligung und Nennung der geistigen Schöpfer' kopiert, sondern ob er die übernommenen Themen oder Sätze tatsächlich weiterdenkt, fortentwickelt und so in etwas Neues, Eigenes verwandelt."

Weitere Artikel: Michael Pilz stellt die junge Popsängerin Lena Meyer-Landrut vor, die beim Grand Prix d'Eurovision reüssieren soll. Manuel Brug inspiziert die gar nicht so schlechten Zahlen der Plattenindustrie im Bereich der Klassik und fordert eine Reform des Konzertbetriebs. Eckhard Fuhr quittiert Grass' Verlangen nach Einsicht in seine westdeuschen Geheimdienstakten mit der trockenen Bemerkung, dass es womöglich keine gibt.

Besprochen werden die Neupräsentation der Sammlung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, der Film "Green Zone" mit Matt Damon und Beat Furrers Musikspektakel "Wüstenbuch", inszeniert von Christoph Marthaler in Basel.

Aus den Blogs, 17.03.2010

Das Studentenblog litaffin kommentiert die (übrigens in seltsamem Deutsch gehaltene) "Leipziger Erklärung" von Großschriftstellern gegen eine mögliche Vergabe des Leipziger Buchpreises an Helene Hegemann: "Als Jurymitglied würde ich mir einen derartigen Versuch der Einflussnahme verbitten. Als Helene Hegemann empfände ich den persönlichen Angriff im Gewand einer allgemeinen Petition als unfair. Als Teil einer 'jüngeren Generation' fühle ich mich jedoch in jedem Fall unterschätzt."

Dirk von Gehlen kritisiert die "Leipziger Erklärung" in seinem Blog Digitale Notizen: "Gerade weil im Rahmen der Hegemann-Debatte sichtbar wurde, wie wichtig eine genaue Begriffsdefinition in diesem sich verflüssigenden Feld zwischen Original und Kopie ist, hätte ich mir von einem derart illustren Unterzeichner-Kreis etwas mehr Genauigkeit erwartet."

TAZ, 17.03.2010

Detlef Diederichsen stellt Aufnahmen vor, mit denen der Musikethnologe Alan Lomax in den 1930er-Jahren die Land- und Industriearbeitermusik Haitis dokumentierte. "Aus den fünfzig Stunden Aufzeichnungen wurden für diese Box zehn CDs herausdestilliert, die einen faszinierenden Einblick geben in die Vielfalt der haitianischen Musik der 1930er-Jahre - wobei sich Lomax dezidiert auf die ländliche und die Arbeitermusik stürzte und darauf verzichtete, die 'Djaz'-Gruppen von Port-au-Prince aufzuzeichnen, und sich auch weigerte, die Blaskapelle des Präsidenten mitzuschneiden. Es bleibt ein großer Rest: Work Songs von Landarbeitern und uralte französische Volkslieder, katholische Hymnen und zeremonielle Vodou-Gesänge, paradierende Rara-Kapellen und jubilierende Pfadfinder, Trommelgruppen und Streicherensembles. Und ausgesprochen ungewöhnliche Performer wie etwa der knorrige Pianist Ludovic Lamothe oder die charmante Francilia, die Lomax eigentlich als Köchin eingestellt hatte und deren gut gelaunten Vodou-Gesängen eine ganze CD gewidmet ist." (Mehr zu den Haiti-Aufnahmen hier, mit Hörproben. Auch bei Youtube findet man viele Aufnahmen von Lomax - zum Beispiel die Gefängnissongs.)

Besprochen werden weiter die Ausstellung "Luise. Leben und Mythos der Königin" in Berlin und Miriam Meckels Buch "Brief an mein Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 17.03.2010

Der Tagesspiegel präsentiert heute viereinhalb Seiten zur Leipziger Buchmesse. Jörg Magenau hat den ungarischen Autor György Dalos getroffen, der mit dem "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung" ausgezeichnet wird. Dalos lebt seit vielen Jahren in Deutschland, weil "seine jüdischen Urängste" ihm sagten, "dass es nicht gleichgültig sei, was hier passiert. Als Jugendlicher aber wünschte er sich, sein Judentum loszuwerden, um nicht länger Außenseiter zu sein. Sein autobiografischer Roman 'Die Beschneidung' handelt von diesem Konflikt. 'Ich wollte Kommunist werden, weil der Kommunismus versprach, die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden aufzulösen. Das war ein großzügiges Angebot: Du kannst Ungar sein, ohne dich demütigen lassen zu müssen, dass du kein Ungar bist. Das war eine moralische und eine soziale Verheißung. Ich komme aus einer sehr armen jüdischen Familie. Dass ich studieren konnte, war ein Beweis dafür, dass Leute von unten nach oben kommen können, so wie es die Kommunisten versprachen.'"

Gregor Dotzauer macht sich Gedanken über die Veränderungen, die das E-Book mit sich bringt: "Das Vereinzelungsmedium Buch und das Mitmachmedium Netz treten jedenfalls in eine Spannung, die unsere Vorstellungen von heimlicher Lesergemeinschaft und Isolation vor dem Bildschirm neu definiert. Daran wird auch das vielfach als Ende des Partizipations-Web 2.0 hingestellte iPad mit seiner geschlossenen, über kostenpflichtige Apps gesteuerten Architektur nichts ändern. Denn so wenig E-Books das gedruckte Buch abschaffen werden, so wenig wird innerhalb der elektronischen Welt die industriell kontrollierte Anwendung den freien, auch illegalen Download ersetzen. Was immer geschieht: Es gibt keine einheitlichen Interessen der Buchbranche, nicht unter Verlagen, oft wahrscheinlich nicht einmal in ein und demselben Haus."

FR, 17.03.2010

Arno Widmann erinnert daran, dass der Missbrauch an der Odenwaldschule bereits 1999 Thema war, aber auch von den Medien wieder fallengelassen wurde: "Es fehlt uns nicht an Informationen, nicht an Schilderungen von bewegenden Einzelfällen, nicht an Statistiken. Es fehlt uns an Empathie. Das ist eine Feststellung, kein Vorwurf. Wir lassen uns zum zehnten Mal erklären, warum Menschen traumatische Erfahrungen abkapseln. Wir haben immer noch nicht verstanden, dass wir es mit den Berichten von traumatischen Erfahrungen genauso machen. Sie erreichen und bewegen uns. Dann spinnen wir sie ein, bilden einen Kokon um sie und legen sie irgendwo ab, wo wir nicht wieder auf sie stoßen."

Weiteres: Für Peter Michalzik hätte die eigentlich überflüssige Leipziger Erklärung gegen einen Buchpreis für Helene Hegemann nur einen Sinn, wenn die Entscheidung für sie schon getroffen wurde, wie er in Times mager spekuliert. Natalie Soondrum unterhält sich mit der britischen Experimentalfilmerin Sarah Wood, die auf der Seite "For Cultural Purposes only" die Geschichte des palästinensischen Filmarchivs rekonstruiert. Helmut Dubiel erläutert die Feinheiten der öffentlichen Entschuldigung. Aureliana Sorrento berichtet von einem Vortrag Olafur Eliassons über den freien städtischen Raum.

Besprochen werden ein Konzert Kevin Costners in Offenbach und Orhan Pamuks neues Buch "Der Koffer meines Vaters" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 17.03.2010

Joachim Güntner untersucht, inwieweit Reformpädagogik und ihre Vorstellung von der - auch sexuellen - Emanzipation des Kindes den Missbrauch befördert hat. Er glaubt das nicht, aber bei der Anti-Pädagogik, wie sie etwa Rene Scherer in seinem "Emile Perverti" (oder die antiautoritäre Bewegung) vertreten hat, sieht die Sache für ihn anders aus: "Schulmeister und Pädagogen - eine 'Sekte' nennt der Autor sie abfällig - werden darin aufgerufen, 'ihren Blick für die leidenschaftlichen Anziehungskräfte der Kinder zu schärfen, den Kindern behilflich zu sein, die Unermesslichkeit ihrer Wünsche außerhalb der Familien und sogar gegen diese zu verwirklichen'. Macht, ruft Scherer, endlich die Augen auf 'gegenüber der Tatsache, dass das Kind geil ist und dass es daran seine Freude findet'." Abschließend stellt Güntner klar: "In Verhältnissen ungleich verteilter Macht und Abhängigkeit kann es für den Schwächeren niemals sexuelle Selbstbestimmung geben."

Sehr beeindruckt schreibt Peter Hagmann über Beat Furrers in Basel uraufgeführte Oper "Wüstenbuch", die Jan Assmanns Papyrus-Exegese mit Ingeborg Bachmanns Opiumrausch verbindet: "Die Texte fügen sich zu Erinnerungsfetzen, vielleicht auch zu einem Traum von Reisen. Und immer wieder evozieren sie: Grenzerfahrung, Fremdheit, Verlorenheit. Das ist schon als Libretto ein Erlebnis..."

Weiteres: Marta Kijowska resümiert die bisherige Debatte um den entzauberten Ryszard Kapuscinski in Polen. Besprochen werden Simon Sebag Montefiores Doppelbiografie " Katharina die Große und Fürst Potemkin", Paulus Hochgatterers Roman "Das Matratzenhaus" und Elisabeth Badinters bisher nur auf Französisch erschienene Studie zum Verhältnis zwischen Frau und Mutter "Le conflit".

FAZ, 17.03.2010

Pünktlich zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse erinnert Hannes Hintermeier noch einmal daran, dass die Buchbranche längst ihren Zauber verloren hat: Die "permanente Ökonomisierung ganzer geistiger Landstriche" verheere dank des wachsenden Einflusses von Buchhandelsketten auf Buchabsatz und -produktion auch die Bücherwelt.

Weitere Artikel: Der im Irak geborene Schriftsteller Abbas Khider beklagt, dass die Wahl in seiner Heimat eine Farce sei, da statt politischer Programme nur Wahlslogans gemacht würden (hört sich ganz nach western style democracy an). Karen Krüger hat ungläubig zugehört, als der US-Historiker Justin McCarthy bei einem Vortrag über "die leidvolle Geschichte der Türken und Armenier" vor Mitgliedern der türkischen Gemeinde Rhein-Main für helle Begeisterung im Publikum sorgte: Von einem Genozid wollte er nichts wissen, und die eigentlichen Aggressoren seien die Armenier selbst gewesen. Jürgen Kaube empört sich über Adolf Muschgs Verteidigung des in Missbrauchverdacht geratenen ehemaligen Leiters der Odenwaldschule Gerold Becker, die am Montag im Tagesspiegel erschienen war. Gina Thomas informiert, dass Shakespeares Oeuvre um ein Opus gewachsen ist: Ein Text, der seit 1725 als Fälschung galt, wird neuerdings wieder als Bearbeitung eines Shakespeare-Werks angesehen. Andreas Rossmann meldet, dass die Stadt Köln Leihgeber von Archivalien, die beim Einsturz des Stadtarchivs beschädigt oder zerstört wurden, nach einem Urteil des dortigen Landgerichts nicht entschädigen muss.

Besprochen werden eine Hildesheimer Ausstellung über "Zypern, Insel der Aphrodite", Paul Greengrass' Irakkrieg-Film "Green Zone", Tilman Köhlers Inszenierung von Horvaths "Italienischer Nacht" im Dresdner Staatsschauspiel, eine Ausstellung über den Utopisten Charles Fourier in Besancon, die Baseler Uraufführung von Beat Furrers Musikdramas "Wüstenbuch" in einer Inszenierung von Christoph Marthaler und Bücher, darunter Andreas Schäfers Roman "Wir vier" und Bernd Lichtenbergs Roman "Kolonie der Nomaden".

Außerdem erscheint heute die Rezensionsbeilage zur Leipziger Buchmesse. Der Aufmacher ist Jan Faktors Roman "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" gewidmet. Wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus.

SZ, 17.03.2010

Der katholische Dissident Hans Küng fordert auf Seite 2 des politischen Teils ein Mea Culpa des Papstes, den er als Hauptverantwortlichen für die Vertuschung von Sexualstraftaten in der Katholischen Kirche sieht: "24 Jahre Präfekt der Glaubenskongregation: Hier wurden und werden sämtliche schweren Sexualdelikte von Klerikern aus der ganzen Welt unter strengster Geheimhaltung (Secretum pontificium) gesammelt und behandelt."

Lothar Müller kommentiert die "Leipziger Erklärung", sieht die zitierten Passagen in Helene Hegemanns Roman "Axolotl" aber eindeutig als Plagiat und setzt ihm als positives Gegenbeispiel Peter Esterhazys Roman "Harmonia Caelestis" entgegen, in dem sogar ganze Kapitel anderer Autoren übernommen sind: "Ein riskantes Verfahren, aber er hat seine Collage als Collage ausgewiesen. Und vor allem: Der Roman, der dabei entstanden ist, weist ihn als souveränen Autor aus." (Siehe dazu auch "Die Esterhazy-Methode - Wie es ist, als Schriftsteller von einem Schriftsteller beklaut zu werden" von Sigfrid Gauch.) Im Interview mit Christopher Schmidt erklärt Sibylle Lewitscharoff, warum sie die "Leipziger Erklärung" unterschrieben hat und spricht sich gegen eine Ästhetik des Mashups aus: "Dass man im Mixen, im Sampeln, im Kopieren, im Zusammenschneiden eine kreative Leistung erblickt - das ist natürlich Unfug. Dinge zusammenzuleimen ist sehr einfach."

Weitere Artikel: Javier Caceres berichtet, wie der Autor Victor Farias, der offenbar falsche Behauptungen über Salvador Allende verbreitet hat, sich der spanischen Justiz entzieht. Willi Winkler schreibt zum Tod des Schriftstellers Ernst Herhaus. Jens Bisky würdigt György Dalos, der den Leipziger Preis zur Europäischen Verständigung erhält.

Besprochen werden die neue Hängung der Kunst von 1500 bis 1800 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, Richard Maxwells Stück "Das Maedchen" am Theater Bonn, eine Yves Saint-Laurent-Ausstellung in Paris, ein Beethoven-Zyklus Till Fellners in München, Beat Furrers und Christoph Marthalers Musiktheater "Wüstenbuch" an der Oper Basel und der Film "Green Zone" mit Matt Damon.