Heute in den Feuilletons

Zurück in die Münzfernsprecher-Epoche

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2010. In der FR erkennt Verena Auffermann in der Diskussion um Helene Hegemann die Angst vor der digitalen Zukunft. In der Welt bestätigt dies eine Studie und nennt auch eine Zahl: über 70 Prozent der Deutschen sind nie in der digitalen Gesellschaft angekommen. In der taz ist Liao Yiwu froh, dass seine Bücher illegal kopiert werden, sonst könnte sie niemand lesen. Die SZ porträtiert den künftigen tschetschenischen Nobelpreisträger Kanta Ibragimow, der seinen jüngsten Roman nur dank eines geschmuggelten USB-Sticks veröffentlichen konnte. In der FAZ rauft sich Constanze Kurz die Haare: Sendezeiten im Internet? Wo leben unsere Landespolitiker?

TAZ, 19.03.2010

Eigentlich sollte der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu heute auf der lit.cologne lesen, doch er durfte nicht reisen. Im Interview auf den Tagesthemenseiten erklärt er, dass er etwa gern dem so positiv eingenommenen Martin Walser über das wirkliche China erzählen würde und spricht über das Schreiben in der Diktatur und das Stasi-Drama "Das Leben der Anderen". Er selbst würde ein Literaturfestival in China mit Untergrund- und verbotener Literatur bestreiten: "Diese Werke und ihre Autoren würden wie die Ratten nach oben kommen. China ist in dieser Hinsicht sehr spannend! Ich würde auch die Leute dazuholen, die unsere Bücher illegal kopieren. Diese Praxis verletzt unsere Interessen. Auf der anderen Seite können unsere Werke überhaupt nur verbreitet werden, weil sie illegal kopiert wurden."

Feridun Zaimoglu kritisiert im Interview den Ausschluss des Islamrats aus der Islamkonferenz: "Im Augenblick erleben wir doch eine Schwarz-Weiß-Malerei: Auf der einen Seite finden wir die Lichtgestalten der Aufklärung, auf der anderen die dunklen Kräfte der Religion. Das ist in der Islamkonferenz der Fall. Und so ist es natürlich in den Medien. Dort gibt es richtige Hetzer, die zum Teil noch nie eine Moschee von innen gesehen haben. Hier geht es um den sozialen Frieden, auch wenn das ein spießiges Wort ist."

Im Kulturteil unterhält sich Gisela Trahms mit dem frisch gebackenen Preisträger der Leipziger Buchmesse, Georg Klein, über das Erinnern, seinen "Roman unserer Kindheit" und das schöne Genre "Kinderbandenbuch", das "Geborgenheit im Kollektiv" verspreche. Dirk Knipphals resümiert die Eröffnungsveranstaltung der Messe und kommentiert die Verleihung der Preise, neben Klein gingen sie an Ulrich Blumenbach für seine Übersetzung von David Foster Wallace' "Unendlichen Spaß" und an Ulrich Raulff für sein Buch "Kreis ohne Meister" über Stefan Georges Nachleben.

Julian Weber schreibt einen Nachruf auf den amerikanischen Musiker Alex Chilton. Bei Gawker hat Alex Pareene im Nachruf eine Reihe von Videos für die Fans zusammengestellt. Hier ist Chiltons "What's Your Sign, Girl":



Und Tom.

FR, 19.03.2010

Judith von Sternburg war dabei, als Georg Klein den Leipziger Buchpreis bekam. Zur "Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums" sagte die Vorsitzende der Kritikerjury, Verena Auffermann: "'Der Plagiatsvorwurf wurde von uns sehr, sehr ernst genommen.' Die Diskussion aber habe sich verselbstständigt. Dahinter vermutet Auffermann: die Angst vor der Zukunft in unserer digitalen Bücherwelt, eine Angst, die sie verstehen könne." (Alle Links zur Debatte um Helene Hegemann finden Sie hier.)

Weitere Artikel: Claus-Jürgen Göpfert berichtet über eine Pressekonferenz der Frankfurter Buchmesse zu ihrem Gastland 2010, Argentinien. Arno Widmann stellt das neue Heft des Forums Kritische Psychologie zur Pädophilie vor. In Times Mager äußert sich der amerikanische Anwalt und Autor Andrew Vachss über Kindsmissbrauch und Zensur.

Besprochen werden eine Ausstellung der Sammlung des Agha Khan im Berliner Martin-Gropius-Bau, die Ausstellung "Über Wut" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, ein Geburtstagskonzert des Ensemble Modern in der Alten Oper Frankfurt, Alison Goldfrapps CD "Head First", ein Konzert mit der Geigerin Julia Fischer in Frankfurt und Bücher, darunter Clemens Meyers Prosaband "Gewalten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 19.03.2010

Im Forum fürchtet Eckhard Fuhr, Helene Hegemann und das Internet werden bald den Autor gänzlich vernichtet haben: "Man kann die Augen nicht mehr davor verschließen: Die digitale Revolution droht die bürgerliche Kultur zu zerstören, auch wenn im Internet noch so heiß über neue Bürgerlichkeit diskutiert wird."

Also in Deutschland wird das todsicher nicht passieren. Eine Studie hat jetzt offenbart, dass über 70 Prozent der Deutschen nie in der digitalen Gesellschaft angekommen ist, berichtet Nils Lange im Wirtschaftsteil. Für viele ist das Internet "ein undurchschaubares - zum Teil sogar Angst einflößendes - Medium". Zufrieden?

Im Kulturteil meldet Florian Starck die Preise der Leipziger Buchmesse. Anselm Neft vertritt Helene Hegemann in der zitty-Leserlounge. Liane Dirks antwortet in der Missbrauchsdebatte auf Josef Haslinger, dem sie erst vorhält, ein typisches Opfer des Kindsmissbrauchs zu sein, dass sich mit dem Täter identifiziere, und dem sie dann zu seinem Text gratuliert: "Endlich sagt das mal einer!" Uta Baier war dabei, als der Karolinger Verlag eine Publikation des Kunsthistorikers Ernst Ullmann veröffentlichte, der einen Leonardo entdeckt haben will. Bas. gratuliert dem Kanzlerfotografen Konrad R. Müller zum Siebzigsten. Michael Pilz schreibt den Nachruf auf Alex Chilton.

Eine Meldung informiert uns, dass die Buchbranche mit einem "eklatanten Nachwuchsmangel" zu kämpfen hat. "Grund sei unter anderem ein 'antiquiertes' Image vom Beruf des Buchhändlers sowie die Unsicherheit durch die zunehmende Digitalisierung."

Besprochen werden die angeblich letzte CD der Scorpions und die Aufführung von Händels "Admeto".

Aus den Blogs, 19.03.2010

In der Leipziger Erklärung geht es um Verwertungsinteressen, nicht um Kunst, schreibt Felix Neumann bei Carta. "Es scheint, als sei die hergebrachte und wahre Kunst bedroht durch neue Technik und eine neue Mentalität. Dass es gerade Aufgabe der Kunst wäre, darauf zu reagieren, taucht nicht auf. Dass 'das Internet' nicht nur ökonomische Auswirkungen hat, sondern auch kulturelle, taucht nicht auf. ... Dass nicht ein gewandeltes Kunstverständnis, gewandelte künstlerische Ausdrucksformen defekt sein könnten, sondern das Urheberrecht - das wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Das Fremdeln mit gesellschaftlichem Wandel ist ein allzu bekanntes Muster: Wenn Gesellschaften sich verändern, dann schreiben die einen Lodenromantik und Heidedichtung, die anderen 'Berlin Alexanderplatz', die einen unter Creative-Commons-Lizenzen, die anderen den Heidelberger Appell."

(Via 3quarksdaily) James Fenton liest "In Paris with you":


NZZ, 19.03.2010

Joachim Güntner zeichnet im Vorfeld der Islamkonferenz die Frontverläufe zwischen den verschiedenen Teilnehmergruppen nach. Eva Clausen opponiert gegen die Pläne der römischen Stadtverwaltung, das Colosseum von privaten Geldgebern sanieren zu lassen. Ho Nam Seelmann schreibt über den Tod eines buddhstischen Mönchs in Südkorea. Beat Stauffer informiert über einen Brand in Tunis, der mit dem Institut des Belles Lettres Arabes eine der wichtigsten Bibliotheken Tunesiens zerstört haben soll (Wir schätzen sie ja sehr, die Hintergründigkeit der NZZ, aber dies geht eindeutig zu weit: Der Brand war Anfang Januar!). Auf der Plattenseite freut sich Stefan Hentz über ein Revival von Big Bands. Besprochen wird eine Ausstellung von Erich Heckels Aquarellen in Villingen-Schwenningen.

SZ, 19.03.2010

Sonja Zekri porträtiert den tschetschenischen Autor Kanta Ibragimow, der glaubt, auf der Kandidatenliste für den Nobelpreis zu stehen. Leicht, so Zekri, hätten es Autoren nicht in einem Land, in dem man noch immer "deutlich mehr Kalaschnikows als Bücher" sehe und dessen ideologische Neuausrichtung ins "Groteske" umschlage. Ibragimows jüngstes Werk, "Das Problemhaus", ist in einer Auflage von 1000 Exemplaren erschienen - "und dies auch nur, sagt Ibragimow, weil er einem inhaftierten Geschäftsmann eine Kopie auf seinem USB-Stick ins Gefängnis geschickt und dieser den Druck gesponsert hat."

Weitere Artikel: Richtig findet Thomas Steinfeld die Entscheidung, Georg Klein für seinen "Roman unserer Kindheit" den Leipziger Buchpreis zuzuerkennen. Oliver Herwig stellt neue Werkstoffe mit immer exotischeren Eigenschaften vor, welche die Gegenwartsarchitektur prägen. Tobias Moorstedt resümiert eine Konferenz in Zürich, die die Krise der Architekten offenbarte: "Wir wissen nicht, wie die post-neoliberale Stadt aussieht." Sehr ähnlich, aber doch sehr unterschiedlich gut urteilt Andrian Kreye in seiner sehr ausführlichen Besprechung der neuen Alben von Peter Gabriel, David Byrne und Jeff Beck. Catrin Lorch informiert über anhaltende Skepsis in Bezug auf ein vermeintliches Leonardo-Bild. Karl Bruckmaier würdigt den verstorbenen Popmusiker Alex Chilton.

Besprochen werden Richard Wagners "Tannhäuser" in einer Inszenierung der katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus an der Mailänder Scala, zwei neue Stücke der Theaterautorin Juliane Kann, die derzeit in Stuttgart und Frankfurt zu sehen sind, eine Ausstellung mit Werken von Henri Rousseau in der Fondation Beyeler, das Spielfilmdebüt "Parktour" von Mark Rensing und Bücher, darunter der Roman "Wir vier" von Andreas Schäfer (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 19.03.2010

Die Informatikerin Constanze Kurz rauft sich die Haare. In Berlin haben die Parlamentarier inzwischen gelernt, dass Netzsperren technisch sinnlos sind, in den Ländern sind sie noch nicht soweit, stellt sie mit Blick auf die Diskussion für einen neuen Jugendmedienstaatsvertrag fest. "Der erste Rückfall in überwunden geglaubte Denkmuster aus der Münzfernsprecher-Epoche ist das dort verfochtene Konzept von 'Sendezeiten' im Internet. Im Zeitalter von Cloud-Computing weiß der Betreiber eines Webdienstes oft selbst nicht mehr genau, in welcher Zeitzone sich sein Server befindet. Dass er seine Inhalte für ein spezifisches Land zu bestimmten Uhrzeiten nicht mehr ausliefern soll, ist praxisfern und angesichts der Struktur des Internets auch nicht zielführend."

Weitere Artikel: Eine Meldung informiert über die Vergabe der Leipziger Buchpreise (mehr hier). Tilman Spreckelsen gibt bekannt, dass FAZ und der Verlag Chicken House Deutschland einen neuen Preis für Kinder- und Jugendbücher ausloben, den Goldenen Pick (Teilnahmebedingungen hier). In der Glosse mokiert sich Andreas Kilb über Versuche, David Chipperfields Eingangsbau für die Berliner Museumsinsel doch noch zu kippen. Arnold Bartetzky plädiert im Streit um Erhalt oder Abriss der Ruine des Leipziger Kaufhauses Brühl für den Erhalt. Jürgen Kaube berichtet über eine Berliner Tagung, auf der über das Bologna-Studium für Mediziner diskutiert wurde. Kaspar König, Direktor des Kölner Museums Ludwig, verlängert seinen Vertrag um zwei Jahre, meldet aro. Swka. schreibt kurz zum Tod des Künstlers Kuno Gonschior. Edo Reents schreibt zum Tod des Rockmusikers Alex Chilton.

Für die Medienseite hat fhau. in der NYT einen Artikel über Googles Fernsehpläne gelesen.

Besprochen werden die Neuhängung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin (die Sammlung erzählt jetzt "eine Geschichte, die Vergessenes, Abseitiges, abgestorbene Seitenarme wieder ins Licht rückt und die jenseits der gängigen ästhetisch-ideologischen Frontlinien Entdeckungen machen lässt", verspricht ein begeisterter Niklas Maak), Mariame Clements Inszenierung von Rameaus "Platee" an der Straßburger Oper, der Film "Tanzträume - Jugendliche tanzen 'Kontakthof' von Pina Bausch" und ein Konzert von The Album Leaf in Köln.