24.03.2010. Google in China ist das Thema. Die Regierung Obama sollte sich nicht nur außerhalb der USA für weniger Zensur einsetzen, sondern auch ihre Position in den Acta-Verhandlungen überdenken, meint die taz. Sergey Brin drängt die Regierung Obama im Guardian zu einer dezidierteren Haltung. Das Blog Searchengineland zweifelt an Googles Motiven. Außerdem: Die Welt fordert eine neue Inquisition. Und Christian Thielemann äußert sich in diversen Zeitungen über Wolfgang Wagner.
TAZ, 24.03.2010
Auf den vorderen Seiten dreht sich fast alles um
Googles Rückzug aus China nach Hongkong. Jutta Lietsch
berichtet über die sauren Reaktionen chinesischer Behörden: "'Google hat sein schriftliches Versprechen gebrochen, seine Suchmaschine in China zu filtern', zitierte die amtliche Nachrichtenagentur
Xinhua gestern einen ungenannten Mitarbeiter des staatlichen Informationsbüros. Man sei 'empört' über das '
unverantwortliche Handeln' und 'uneingeschränkt dagegen, kommerzielle Probleme zu politisieren'. Die
China Daily veröffentlichte einen Kommentar unter dem Titel 'Kann China ohne Google leben?' Er verglich die '
Arroganz'
von Google mit der Haltung ausländischer Mächte, die China im 19. Jahrhundert mit ihren Kriegsschiffen und Kanonen zur Öffnung nach außen gezwungen hatten."
Laut Tarik Ahmia hat Googles Rückzug auch eine Diskussion über westliche Internetfilter und
Zensur im Westen ausgelöst: "Marcus Cheperu [vom
Arbeitskreis Daten] kritisiert die Position der US-Regierung jedoch als 'scheinheilig'. Denn während sich die US-Regierung international für die Freiheit des Internets starkmacht, tritt sie gleichzeitig als treibende Kraft in Erscheinung, um im Rahmen des geplanten
Acta-Abkommens gegen Produktpiraterie strikte Internetkontrollen im eigenen Land einzuführen. 'Das geplante internationale Acta-Abkommen zielt vor allem darauf ab, durch die Überwachung des Internets und die Filterung bestimmter Inhalte die wirtschaftlichen Interessen der Medienindustrie zu schützen', sagte Cheperu."
Außerdem im vorderen Teil:
Mouhanad Khorchide, der die Professur für Religionspädagogik an der Universität Münster übernehmen soll,
erklärt im Interview, wie er sich seine Aufgabe vorstellt und warum er Verständnis dafür hat, dass die muslimischen Verbände
nicht Sven Kalisch auf dieser Professur sehen wollten.
Im Kulturteil
berichtet Alexander Haas über die Debatte um Neubau oder Sanierung des
Kölner Schauspielhauses, die durch die Bürgerinitiative "Mut zu Kultur" neu angefacht wurde. Der mexikanische
Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II spricht im
Interview über die mexikanische Revolution, seinen Roman "Der Schatten des Schattens" und die aktuelle Krise in
Mexiko. Besprochen wird (
hier) die
Whitney Biennale in New York.
Und
Tom.
Aus den Blogs, 24.03.2010
(
Via hemartin) Ist
Google wirklich
wegen Zensur gegangen? Danny Sullivan, Chefredakteur des Blogs
Searchengineland ist skeptisch: "What happened was that Google faced a
hack attack on its core infrastructure. That, along with attacks on
Gmail accounts of human rights activists, seem to have been enough for the company. An attack on
ideas - that's what the Chinese censorship was - that was tolerable. But an attack on Google?s own property? We're outta here."
"Ich will in erster Linie selbst verstehen",
sagt der Zukunftsforscher und Netzeuphoriker
Peter Kruse im Gespräch mit Doris Rasshofer von
Carta über seine Erkundungen im
Internet: "Da hat man manchmal das Gefühl, für einen kurzen Moment vom Weltgeist geküsst zu werden. Wenn man sich beispielsweise
Zwölftonmusik anhört, ist der Kopf zuerst auch ziemlich überfordert und die Töne scheinen nicht zusammen zu passen. Dann irgendwann, wenn man sich lange genug der Frustration aussetzt, erkennt das Gehirn die Muster und die Schönheit der Musik entfaltet sich. Das hat schon etwas Erhabenes und ist ein Wert in sich."
Weitere Medien, 24.03.2010
Der
Guardian hat mit
Sergey Brin von
Google gesprochen, der die
Regierung Obama auffordert, stärker gegen Internetzensur vorzugehen. "Brin sagte, es sei entscheidend, dass Obama das Thema aufgreife, denn die Bedeutung des Internets liege unter anderem darin, dass das
Thema Handel und das
Thema Zensur unauflöslich miteinander verbunden seien. 'Da Dienstleitungen und Information unsere erfolgreichsten Exporte sind, handelt es sich um eine Handelsbarriere, wenn China es schafft, uns die Wettbewerbsfähigkeit zu nehmen." (Hören das die
Acta-Unterhändler?)
Auf der Website von
Atlantic Monthly interviewt James Fallows den Google-Justiziar
David Drummond, der über die chinesischen Hackerangriffe auf Google und den Zusammenhang mit dem Zensurvorwurf spricht: Mit Hackerangriffen hätten Internetunternehmen immer wieder zu tun. "Aber dieser Angriff, der von China kam, war anders. Es ging fast ausschließlich darum, in die Gmail-Konten von
Menschenrechtsaktivisten innerhalb und außerhalb Chinas zu kommen. Sie versuchten das über Googles System, das ihnen aber einen Strich durch die Rechnung machte. Darüberhinaus gab es einzelne Angriffe auf individuelle Gmail-Benutzer, viele von ihnen waren politische Aktivisten. Es gab
politische Aspekte an diesen Angriffen, die ziemlich ungewöhnlich waren."
(
Via Boingboing) Die chinesische
Volkszeitung wirft Google in ihrer englischsprachigen Ausgabe vor, weiterhin an der
Zensur festzuhalten, wenn auch, äh...
in Deutschland: "2002 gab das Unternehmen zu,
mehr als hundert umstrittene Adressen von seinen deutschen und französischen Listen gestrichen zu haben. Eine Studie der Harvard Universität entdeckte, dass es sich meistens um antisemitische, pronazistische oder rassistische Websites handelte, aber auch eine fundamentalistisch-christliche Website, die sich scharf gegen Abtreibung wandte, wurde entfernt."
Tagesspiegel, 24.03.2010
Christiane Peitz
hat sich auf Radio Bremen das
Podcast der Diskussion zwischen
Günter Grass und
Hermann Kant angehört und zitiert einen erstaunlichen Vorwurf Grass' an den Apparatschik der
DDR-Literatur: "Ich mache Sie mitverantwortlich für den schmählichen Niedergang der DDR und für das
Zerrbild von Sozialismus, das Sie hinterlassen haben durch Ihre Art, wie Sie den Schriftstellerverband geführt haben." (Heißt das, ohne Kant hätte der Sozialismus überlebt?)
NZZ, 24.03.2010
Carsten Krohn
erzählt von Künstlern, die das architektonische Experiment wagen; zum Beispiel von
John Bock, der in einem umgestülpten Bad lebt: "Die
Toilette sitzt in einem
roten Fiberglas-Ei, und die
Badewanne ist an einer Stahlkonstruktion aufgehängt und über eine Treppe erreichbar. Von hier aus bietet sich ein Panoramablick durch die Küche auf die Skyline der Stadt in der Ferne."
Weiteres: Ludger Lütkehaus
ordnet einige Gedanken über die Legitimität des
Selbstmords. Besprochen werden eine Ausstellung in Taipeh über das russisch-chinesische Grenzabkommen, Kai Schlüters
Dokumentation über
Günter Grass im Visier der Stasi und
Arnold Eschs Sammlung "Wahre Geschichten aus dem Mittelalter" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
FR, 24.03.2010
Der
Historiker Ulrich Herbert erklärt im
Interview, wie die von ihm herausgegebene
Reihe zur europäischen Geschichte konzipiert ist und warum einige Länder fehlen: "Das stimmt; aber das ist auch eine Frage der Autoren und deren Zeitplanungen. Es geht uns hier nicht um Vollständigkeit oder Repräsentativität. Aber wir hätten sehr gerne zum Beispiel
Österreich,
Griechenland und
Schweden dabei gehabt, um nur drei Beispiele zu nennen; das hat sich aber jetzt noch nicht realisieren lassen. Es ist aber daran gedacht, diese Bände eventuell in einer
zweiten Staffel zu publizieren."
Weitere Artikel: Volker Bauermeister
lobt Christoph Mäcklers Neukonzeption des Augustinermuseums in Freiburg. In Times mager
berichtet Harry Nutt über einen Streit um das
Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten
Homosexuellen, das künftig auch an verfolgte
Lesben erinnern soll, so es sie denn gab.
Besprochen werden die
Ausstellung "
Maharaja - Pracht der indischen Fürstenhöfe" in der Münchner
Hypo Kunsthalle, die
Ausstellung "
Gaza - 6000 Jahre Brücke zwischen den Kulturen" im Oldenburger
Landesmuseum Natur und Mensch und
Michael Lentz'
Band mit 100 Liebesgedichten "Offene Unruh" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Welt, 24.03.2010
Der
Papst lege gegenüber
Holocaust-Leugnern und
pädophilen Priestern eine Langmut an den Tag, "die sogar ein deutsches Jugendgericht nicht für einen Serienkriminellen mit Migrationshintergrund und schwerer Kindheit aufbringen würde", spottet Matthias Heine und
wünscht sich eine
neue Inquisition. Und zwar eine, die - zack zack- durchgreife: "Eine straffe, sich über Befindlichkeiten, Rücksichtnahmen und Klüngelei hinwegsetzende
zentrale Einsatzgruppe, die die modernsten polizeilichen Methoden anwendet, um die pädophile Gotteslästerung frühzeitig überall dort aufzuspüren, wo sie sich breit gemacht hat. Und die nicht erst wartet, bis das Offensichtliche nicht mehr zu vertuschen ist und von der staatlichen Justiz nicht mehr belangt werden kann. Sondern sie muss die ertappten
Häretiker ohne Zögern den weltlichen Ämtern übergeben - so wie es ja auch die alte Inquisition getan hat."
Weiteres: Im Interview mit Lucas Wiegelmann
trauert Dirigent
Christian Thielemann um
Wolfgang Wagner ("Er sagte immer: 'Bleiben Sie flüssig!'") und bietet sich Bayreuth an: "Wenn die beiden Damen mich fragen, mache ich es."
Peter Becher, Schriftsteller, Sozialdemokrat und Mitglied im Beirat der
Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung"
spricht über die Lage der Stiftung nach Austritt der beiden osteuropäischen Historiker aus dem Beirat. Manuel Brug und Ulrich Weinzierl
blicken skeptisch auf
Rolando Villazons Comeback. Michael Pilz
weist darauf hin, dass
Bushido gerade wegen mehrfacher Plagiatsvorwürfe verurteil wurde. Besprochen werden
Angelin Preljocajs Ballett "Siddharta" an der
Pariser Oper und die beiden Oscar-prämierten amerikanischen
Sozialdramen "Precious" und "Blind Side".
Die Meinungsseite druckt
Googles Erklärung zu seinem Rückzug aus China: "Es war schwer für uns, einen Weg zu finden, wie wir zu unserem Versprechen stehen können, die Suche auf Google.cn nicht mehr zu zensieren. Wir möchten, dass so viele Menschen auf der Welt wie möglich Zugang zu unseren Angeboten haben, einschließlich der Nutzer in China. Aber die chinesische Regierung hat während unserer Verhandlungen glasklar gesagt, dass
Selbstzensur eine
unverhandelbare rechtliche Voraussetzung für uns sein müsse."
FAZ, 24.03.2010
China-Korrespondent Mark Siemons
kommentiert Googles Rückzug aus China nach Hongkong: "Der Konzern will
drei Anforderungen gerecht werden, von denen bisher alle Welt, offenbar auch China selbst, annahm, dass sie sich gegenseitig ausschließen: sich an die Gesetze der Volksrepublik zu halten, sich nicht länger selbst zu
zensieren und in China zu bleiben." Und dafür, so Siemons, nimmt Google geschickt die von der chinesischen Regierung selbst proklamierte
Sonderposition Hongkongs.
Auf der Geisteswissenschaftenseite berichtet Joseph Croitoru, dass der rumänische
Philosoph Emil Cioran in seinem Pariser Exil über Jahrzehnte von der Securitate überwacht wurde, wie eine neue Studie des Historikers Stelian Tanase belege. Das Interesse der rumänischen Staatssicherheit, die Cioran mit der Veröffentlichung seiner
faschistischen Ansichten aus den vierziger Jahren drohte, überdauerte demnach sogar das Ceausescu-Regime: "Erst am 5. Mai 1990 schloss der zuständige Offizier M. Vasiliu die Akte".
Weitere Artikel: Marcus Jauer freut sich in der Glosse, dass Klaus Wowereit einen
Ausflug nach Berlin gemacht hat. Martin Kämpchen berichtet von vertrauensbildenden kulturellen Initiativen, die die angespannte Situation zwischen Indien und Pakistan entschärfen sollen. Mechthild Küpper meldet, dass unter anderem die Leiter der KZ-Gedenkstätten in einem offenen Brief an Bernd Neumann vor "
Geschichtsklitterung" warnen: Es gebe keine
Belege dafür, dass lesbische Frauen im Nationalsozialismus verfolgt wurden. Deshalb dürften im
Denkmal für die verfolgten Homosexuellen auch keine lesbischen Küsse gezeigt werden. Wolfgang Sandner bringt einen Nachruf auf den Jazz-Band-Leader
Erwin Lehn. Jürg Altwegg
weist auf Belastungen des deutsch-französischen Verhältnisses durch die griechische Krise hin. Dirk Schümer hat in Wien einem Comeback-Konzert von
Rolando Villazon gelauscht. Klaus Ungerer legt seine Gerichtskolumne vor. Außerdem wird gemeldet, dass der Wiener
Chansonier Georg Kreisler den Hölderlin-Preis erhält.
Werner Spies erschauert bei einer Pariser
Ausstellung über "Schuld und Sühne" vor einer
Guillotine: "Die Maschine ist fein gearbeitet." Besprochen werden außerdem eine Tübinger
Schau über den Popkünstler
Mel Ramos, die neugestaltete
Ausstellung des Leipziger Bach-Archivs,
Lee Daniels' Film "Precious" und Bücher, darunter der von Konrad Becker und Felix Stalder herausgegebenen Sammelband mit Aufsätzen über
Suchmaschinen (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau).
SZ, 24.03.2010
Seit die chinesische Regierung
Google wegen des Rückzugs der Suchmaschine nach Hongkong selbst zensieren muss, erscheinen bei heiklen Suchbegriffen
Fehlermeldungen, während die Suchmaschine vorher offenbar gar
keine Ergebnisse lieferte. "Das ist mit der größte Effekt, den Google mit seinem Rückzug erzielt hat", sagt die Medienwissenschaftlerin
Rebecca MacKinnon (Gründerin von
Global Voices Online) im Interview mit China-Korrespondent Henrik Bork auf Seite 2. "Es macht den Chinesen die
Zensur viel bewusster als bisher. Das hat Folgen. Diktaturen funktionieren unter anderem deshalb, weil die meisten Leute gar nicht merken, was ihnen alles vorenthalten wird." Ausführlich über Google und China äußert sich MacKinnon auch in
ihrem Blog RConversation.
Im Feuilleton meditiert Thomas Steinfeld über die
griechische Krise und die EU. Till Briegleb berichtet, dass Hamburgs Kultursenatorin
Karin von Welck den in Not geratenen Museen der Stadt helfen will. Egbert Tholl hat
Christian Thielemann getroffen, der Schnurren über
Wolfgang Wagner erzählt. Jonathan Fischer porträtiert den
Bluessänger Bob Log III, der das Genre erneuert und gerade in Deutschland auf Tour ist. Sebastian Beck porträtiert den Benediktinermönch und
Bestsellerautor Anselm Grün. Helmut Mauro beobachtete ein Publikum in Raserei beim Comeback des Tenors
Rolando Villazon in Wien
Besprochen werden
Lee Daniels' Film "Precious" (mehr
hier, den Susan Vahabzadeh gegen Miserabilismus-Vorwürfe schwarzer Kritiker verteidigt), die Ausstellung "Lucian Freud, L'Atelier" im
Centre Pompidou, ein Konzert mit
Anne-Sophie Mutter und dem London Philharmonic Orchestra ("Manchmal musste man sich sogar fragen, ob Anne-Sophie Mutter nicht womöglich
zu viel kann", schreibt Joachim Kaiser über eine extreme Stelle im Brahms-Konzert, die ihr allzu glatt von der Hand geht) und Bücher, darunter
Josh Bazells Roman "Schneller als der Tod".