Heute in den Feuilletons

Nicht nur die bösen Googles

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2010. Ändert Russland seine Geschichtspolitik? Jedenfalls wird Wladimir Putin heute bei den Gedenfeiern in Katyn dabei sein. Anne Applebaum in Slate und Gerhard Gnauck in der Welt spekulieren über seine Motive. Immateriblog rät: Bevor man sich ein Ipad kauft, sollte man sich einige Wochen Zeit nehmen und die AGB für Itunes studieren. Die NZZ porträtiert den chinesischen Starblogger und Bestseller-Autor Han Han. Die FAZ fragt: Warum wendet sich eine Ministerin eigentlich mit einem offenen Brief an Facebook?

Weitere Medien, 07.04.2010

Eine kleine Sensation: Heute wird Putin in Polen bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Massakers von Katyn zugegen sein. Putin hat sich nicht gerade um die Aufarbeitung der Vergangenheit verdient gemacht. Warum also gerade jetzt?, fragt Anne Applebaum in Slate: "Perhaps Putin, having more difficult issues to worry about, has tired of this ancient quarrel. Perhaps he wants something-oil and gas concessions-from the Polish government. Or perhaps, just perhaps, the Russian elite have finally worked out that their country cannot be modernized if Russia's citizens maintain a Stalinist mentality and a Stalinist interpretation of history."
Stichwörter: Applebaum, Anne, Gas, Polen, Country

Aus den Blogs, 07.04.2010

Staci D. Kramer berichtet für paidContent.org von einer amerikanischen Zeitungskonferenz, in der Rupert Murdoch noch einmal seine Einstellung zu Google kundtat: "I don't think we'll charge them; they just will say no. We'd be very happy if they just publish our headline and maybe a sentence or two - followed by a subscription form for the Journal."

Wird die bürgerliche Privatsphäre von den Nutzern im Netz überhaupt noch geschätzt? Norbert Bolz antwortet auf diese Frage im Interview mit Juliane Gille in promedia (online auf Carta): "Mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen den besonderen Wert einer undurchdringlichen Privatsphäre gar nicht mehr nachvollziehen können. Es geht hier gar nicht so sehr um sozialen Exhibitionismus, sondern vor allem um soziale Gewohnheit. Man darf nicht vergessen, dass es nicht nur die 'bösen' Googles sind, die auf diesem Pfad wandern, sondern es ist unser eigener Staat, der ein wachsendes Interesse an allen privaten Informationen hat, etwa im Gesundheitsbereich."

Für alle, die mit dem Gedanken spielen, sich einen Ipad zu kaufen, hier noch ein paar Informationen zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Matthias Spielkamps Immateriblog: "Habe seit Längerem mal wieder etwas aufs iPhone heruntergeladen, das es erforderlich macht, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des iTunes-Stores zu akzeptieren. Da sie offenbar vor Kurzem aktualisiert wurden, wurden sie mir 'zur Kenntnis gegeben'. Es waren 60 Seiten auf dem iPhone. Um zu sehen, wie lang sie genau sind, habe ich sie mir als eMail zuschicken lassen. Ergebnis: 125.559 Anschläge. Zum Vergleich: das ist ungefähr dreimal so viel wie ein Dossier in der Zeit."

FR, 07.04.2010

Nathalie Karagiannis und Peter Wagner verzweifeln ohne Scheu vor dick aufgetragenem Pathos an Europa, das ihrer malawischen Bekannten kein Visum gegeben hat. Anne Peter stellt das Berliner Kindertheater an der Parkaue vor. Sylvia Staude stärkt in Times mager Abwehrkräfte.

Besprochen werden Tom Fords Isherwood-Verfilmung "A Single Man", Gerd Zachers Einspielung von Bachs "Musikalischem Opfer" ("Ein Ereignis!", meint Hans-Klaus Junghreinrich), die Ausstellung "Funktionen der Zeichnung" im Museum für Moderne Kunst, Michael Scharangs Roman "Komödie des Alterns", zwei Rückblicke auf den Kommunismus von Tariq Ali und Gerd Koenen (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 07.04.2010

Vorsichtig optimistisch kommentiert Gerhard Gnauck die heutigen Gedenkfeierlichkeiten zum Massaker von Katyn, an denen Wladimir Putin teilnimmt. Noch steht die Geste isoliert da: "In manchen Punkten bleibt Moskau hart. Zu der Klage der Angehörigen der Katyn-Opfer, die nach Niederlagen vor russischen Gerichten den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erreichte, hat die russische Regierung jetzt eine 17 Seiten umfassende Erwiderung verfasst: keine Rehabilitierung der Opfer, keine Entschädigung, nicht einmal Offenlegung der russischen Akten."

Weitere Artikel: Eine interessante Seite ist dem Mord an dem rechtsextremen Burenführer Eugene Terre'Blanche gewidmet - er wurde von seinen schwarzen Arbeitern förmlich hingeschlachtet und in seinem Bett mit einer im Leib steckenden Machete aufgebahrt. Tilman Krause erinnert die Szenerie an einen Roman von J.M. Coetzee. Christian Putsch sprach außerdem mit dem jungen Historiker E.C. Coetzee (nicht verwandt), der auf eine parallele Entwicklung in der schwarzen Bevölkerung hinweist - auch dort etabliert sich mit dem jungen Politiker Julius Malema ein Gewalt predigender Populist. Im Aufmacher kommentiert Stefan Koldehoff die anhaltenden Versteigerungen angeblich echter Hitler-Kunstwerke. Hanns-Georg Rodek stellt in einem historischen Rückblick fest, dass technische Innovationen im Kino, wie jetzt die 3D-Technik, zunächst immer zu einer Verflachung der ästhetischen Qualität führte. Manuel Brug warnt vor allzugroßen Erwartungen beim Umzug der Berliner Staatsoper in das Schiller-Theater ("Im großen Haus wird nur etwa 130 Mal gespielt, man hat vornehmlich gut abgehangene, kaum mehr als gut besetzte Repertoireware von Unter den Linden im Gepäck"). Uta Baier berichtet, dass nach neuen Erkenntnissen für Michelanglos Skulptur "Madonna mit dem Kind", deren Entwurfszeichnungen gerade in London ausgestellt sind, ein Mann Modell stand.

Auf der Forumsseite findet sich außerem ein Interview mit der jungen Cellistin Sol Gabetta.

Besprochen wird Tom Fords Film "A Single Man" (mehr hier), der Peter Zander begeistert hat.

TAZ, 07.04.2010

Alexandra Eul begleitet Musiker des Hamburger Elektropunk-Label Audiolith auf Tournee durch deutsche Dorfdiskos.

Besprochen werden Doris Dörries Miniserie "Klimawechsel", Tom Fords Regiedebüt "A Single Man" und das Buch "Patriotismus - Ein linkes Plädoyer" des Grünen-Politikers Robert Habeck (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 07.04.2010

Die in Zürich lebende Übersetzerin Wei Zhang porträtiert den chinesischen Starblogger und Bestseller-Autor Han Han, der mit bissigen Invektiven die chinesische Politik ganz schön in Verlegenheit bringe, die großen politischen Fragen aber ausspare. "Während manche Kulturbürokraten zweifeln, ob Han Han überhaupt als professioneller Schriftsteller gelten könne, weil er - abgesehen von seinen vielfältigen außerliterarischen Aktivitäten - ihnen nicht den geschuldeten Gehorsam leistet, diskutiert die chinesische Blogger-Gemeinde, ob er nicht als Kandidat für den Lu-Xun-Preis, den höchsten Literaturpreis Chinas, in Frage komme."

Besprochen werden eine Ausstellung italienischer Wohnvisionen im Architekturmuseum in Basel, eine Ausstellung von Bildern, die während des Zweiten Weltkriegs in amerikanischen Internierungslagern entstanden, in der Renwick Gallery in Washington, Paule Constants Roman "Das Brautkleid", Francois Walters Geschichte der "Katastrophen", die bisher nur auf Französisch erschienenen und offenbar recht zotigen Memoiren von Sarkozy senior und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 07.04.2010

Dass es auf dem Ipad kein S****a gibt, hält Bernd Graff nicht für ein Zensurproblem, sondern für eine "Absurdität", die er weglächeln kann. Viel spannender findet er, dass das Gerät in erster Linie als Empfangsgerät konzipiert ist und die im Zeitalter von Web2.0 undeutlich gewordene Grenze zwischen Medien-Produzenten und -Konsumenten säuberlich neu zieht (deswegen lieben es die alten Medien ja so!). Dazu nicht unpassend informiert eine namentlich nicht gekennzeichnete Glosse darüber, dass auch beim Scrabble weiterhin nach alten Regeln gespielt wird: Falschmeldungen über bevorstehende Regeländerungen hatten zur Befürchtung Anlass gegeben, dass "eine Generation analphabetischer Jugendlicher ... die Traditionalisten ausbooten" könnte.

Tobias Kniebe empfiehlt den Film "Shekarchi (Zeit des Zorns)" des iranischen Filmemachers Rafi Pitts, der unmittelbar vor den Unruhen nach der iranischen Präsidentschaftswahl entstand und die Geschichte eines Amokläufers erzählt, der sich mit Polizistenmorden für den Tod seiner Familie rächt. Im Interview mit Fritz Göttler spricht Pitts über Probleme mit der Zensur und verwahrt sich vor einer allzu vordergründigen politischen Interpretation seines Filmes. Werner Bloch porträtiert den israelischen Jazz-Saxofonisten und Zionismuskritiker Gilad Atzmon. Fünf irakischen Künstlern, die sie zur Eröffnung der Ausstellung "Contemporary Art Iraq" in Manchester eingeladen sind, wird die Einreise nach Großbritannien verweigert: Sie können das für ein Visum erforderliche Bankkonto nicht vorweisen, berichtet Alexander Menden. Der deutsche Sitar-Spieler Al Gromer Khan gratuliert dem Vater aller Sitar-Spieler Ravi Shankar zum Neunzigsten. Gemeldet wird, dass EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy einen Band mit Gedichten in Haiku-Form vorlegt (gibt es für die eigentlich schon eine EU-Norm?).

Besprochen werden eine Ausstellung über die Geschichte der Berliner Charite im dortigen Medizinhistorischen Museum, Rafael Yglesias' Roman "Glückliche Ehe" und Taschenbuchneuerscheinungen (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 07.04.2010

Eher kopfschüttelnd betrachtet Swantje Karich das Bemühen von Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner, Facebook per offenem Brief (und per Facebook-Seite) von Opt-Out- auf Opt-In-Verfahren zur Wahrung der Privatsphäre zu bewegen: "Was plant Aigner? Eine nachhaltige Kampagne, oder will sie nur ein Zeichen setzen, um glaubwürdig zu bleiben als internetaffine Verbraucherschutzministerin? An dieser Stelle ist Skepsis angebracht: Ist der offene Brief, also die symbolische Handlung, wirklich das einzige Mittel, das der Politik in solchen Fällen noch bleibt? Das Ministerium gibt auf diese Frage zur Antwort, dass man auf eine Reaktion von Zuckerberg warte: Der Ball liege jetzt in Kalifornien."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann gibt einen Überblick über jüngste Historienromane aus Frankreich. Ausführlich schildert Gina Thomas aus Großbritannien kommende Vorwürfe gegen die Alfred-Toepfer-Stiftung, dass diese aus der Nazi-Nähe ihres Namenspatrons keine Schlussfolgerungen ziehe. (Hier die Stellungnahme der Stiftung.) In der Glosse reicht Jürg Altwegg aktuelle Gerüchte über angebliche Seitensprünge im Hause Sarkozy brühwarm weiter. In seiner Zeitschriftenschau schildert er die sehr schwierige Lage der Magazin- und Zeitungs-Branche auch in Frankreich. Jan Brachmann berichtet, was Jürgen Flimm und Daniel Barenboim für die Staatsopernsaison planen. Dirk Schümer wiederum kennt die Pläne von Dominique Meyer für die Wiener Staatsoper. Ein Symposium mit deutschen Schriftstellern und Kritikern an der Universität von St. Louis hat Alexander Kosenina besucht. Günter Kowa hat die Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land (Website), die am 24. April eröffnet, vorab besichtigt.

Besprochen werden Tom Fords Filmdebüt, die Christopher-Isherwood-Verfilmung "A Single Man", und Bücher, darunter die in der Werkausgabe nunmehr wiederveröffentlichte Übersetzung von Siegfried Kracauers unvollendet gebliebener Studie "Geschichte - Vor den letzten Dingen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).