Heute in den Feuilletons

Ein Zeichen von Feudalmacht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2010. Die taz klärt auf: Nicht nur in der katholischen Kirche, auch in der alternativen Szene und bei manchem taz-Autor war Sex mit Knaben echt beliebt. Da schlug das Pendel zu weit aus, meint Christian Ströbele dazu heute.  Die Zeitschrift Cicero ist unter Michael Naumann auf dem Weg nach Vorwärts, meldet The European. Die NZZ spricht mit Arseni Roginski von Memorial über Katyn. Die FAZ findet den Dalai Lama nicht. Sie hat aber auch bei Google.cn gesucht. Die SZ bringt einen Essay von Olga Tokarczuk über das "neurotische Theater eines katholischen Nationalismus" in Polen. Die Zeit mischt sich ins Netz ein.

TAZ, 22.04.2010

Auf den Tagesthemenseiten geht es um die pädophile Vergangenheit im alternativen Milieu der Siebziger und Achtziger. Nina Apin beschreibt, weshalb eine "befreite Sexualität" auch zwischen Kindern und Erwachsenen zeitweise salonfähig war. Und sie zitiert den ehemaligen taz-Mitarbeiter Olaf Stüben, der 1979 in der taz schrieb: "andy candy [?] war ein echtes schlüsselerlebnis für mich. alles war irgendwie zärtlich, auch das bumsen, da gab es keine erogenen zonen mehr bei mir - ich war eine einzige erogene zone. inzwischen hat er sich leider auf mädchen spezialisiert. wir können überhaupt viel von den jüngeren erfahren und lernen, nicht nur direkt sexuelles."

Und Apin zitiert Christian Ströbele, dessen Prosa fast so süßlich klingt wie die eines Bischofs: "'Die sexuelle Befreiung war bestimmend für die Aufbruchstimmung der APO', erinnert sich der Grünen-Politiker Christian Ströbele, der 1979 die taz und später die Grünen mitgründete. Damals habe man schlichtweg alle Tabus infrage gestellt - dabei sei gelegentlich 'das Pendel zu weit an den Rand ausgeschlagen'."

Der Historiker Sven Reichard erklärt im Interview das "heroisierte Bild des Kindes": "Es hatte das, was den 68er-Erwachsenen fehlte, die sich durch ihre autoritäre Erziehung, durch Gefühlskälte, Disziplinierungen und Gewalt als verbogen und entfremdet empfanden." Und Astrid Geisler schreibt über Mondrian Graf von Lüttichau, der einst Sex zwischen Erwachsenen und Kinder propagierte und heute meint: "Wir lagen daneben."

Die taz wird weiterhin von Praktikanten und Volontären gemacht, was auch Auswirkungen auf die Zeitungsstruktur hat. Im Kulturteil untersuchen Philipp Soll und Zoe Sona, was die Proteste gegen die Missstände im Bildungssystem eigentlich gebracht haben. Lea Hampel porträtiert das Nacht- und Clubleben in Jerusalem, das trotz Unruhen, Checkpoint-Sperren und Steinwürfen stattfindet. Uh-Young Kim schreibt einen Nachruf auf den Rapper Guru.

Besprochen werden das usergenerierte Modemagazin "I like my Style" von Adriano Sack und Eva Munz, Philip Scheffners Essayfilm "Der Tag des Spatzen" und Barbara Bongartz Roman "TOPmodel". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Tom nicht auf der Wahrheit, sondern nur hier.

Aus den Blogs, 22.04.2010

(Via BoingBoing) Mark Dery trägt bei True/Slant in einem mit Quellen, wissenschaftlichen Hinweisen und Links auf vorhergehende Artikel zur profunden Auseinandersetzung über das Phänomen Lady Gaga bei. Ist sie "ein seltenes Wesen, das mehr Talent in seiner Klitoris hat als du dir auch nur erträumen kannst, kleiner Mann"? Oder ist sie "nur eine abgebrochene Kunststudentin, die einmal zu oft 'Grease' gesehen hat"? Dazu Dery: "For good measure, Gaga defenders might point out racism inherent in reviewers? stereotyping of the Lady as a skeezy 'guidette' - a grenade she catches and lobs back at us in the video for 'Eh, Eh (Nothing Else Can I Say),' which features her vamping on a Vespa in front of a bodega called Guido?s Meat Market. All of those points being readily granted, I still say it?s disco, and I say the hell with it. It?s an error of logic to argue that, simply because some male-menopausal rockists think Gaga is the unholy progeny of Kim Kardashian and Klaus Nomi (a record I?d buy in a heartbeat, by the way), they must be criminally clueless, if not homo-negro-Latino-Italo-phobic, and Gaga must be the best thing to happen to pop music since Bowie had his nipples rotated. She isn?t, at least not musically." (Hier noch ein Link zu ihrem Video "True Romance" und natürlich "Telephone")

Philipp Otto schreibt auf Carta einen offenen Brief an die Gewerkschaft ver.di - voller Erstaunen über eine Einladung des ver.di-Bundesvorstandes zu einer Pressekonferenz anlässlich des "Welttags des geistigen Eigentums", bei der hauptsächlich Industrierepräsentanten a la Dieter Gorny auf dem Podium sitzen sollen. "Wie kommt man als Gewerkschaft im Jahr 2010 dazu, die propagandistische Aussage vom 'Diebstahl geistigen Eigentums im Netz' als Titel für seine Pressekonferenz zu wählen? Wer hat hier wem was in die Blöcke diktiert? Denkt ver.di ernsthaft, alles sei so einfach und man könne mal draufhauen und schauen was dabei rauskommt? Wie muss das Urheberrecht aus Sicht von ver.di ausgestaltet sein, dass sowohl die Urheber als auch die Nutzer zu ihrem Recht kommen?"

Im Literatublog The Elegant Variation gibt John Lambert Einblick in die Freuden, Jean-Philippe Toussaint zu übersetzen: "Die wahre Kunst, Toussaint zu übersetzen, besteht weniger darin, die richtigen Worte an den richtigen Platz zu setzen (auch wenn das schon ein guter Anfang ist), als vielmehr darin, mich selbst in den richtigen Geisteszustand zu versetzen, so dass unabhängig davon, was ich gerade übersetze, es in Toussaintisch herauskommt."

Weitere Medien, 22.04.2010

Die Zeitschrift Cicero ist auf dem Weg nach... äh, Vorwärts, schreibt Alexander Görlach in The European: "In der Redaktion des Polit-Magazin Cicero steht kein Stein mehr auf dem anderen. Bis auf eine Ressortleiterin haben alle - sic! - festen redaktionellen Mitarbeiter das Haus fluchtartig verlassen, seit der neue Chefredakteur, der SPD-Politiker und ehemalige Mitherausgeber der Zeit Michael Naumann, das Magazin im Januar übernommen hat. Zwei Kollegen geben an: 'aus Gewissensgründen'." Naumann hat den Artikel Görlachs (der übrigens einmal Cicero-Online-Chef war) inzwischen auf Meedia als "gegendarstellungswürdig" zurückgewiesen.

FR, 22.04.2010

Patrick Beuth weiß auf der Medienseite (online bei der Berliner Zeitung) Genaueres zur gestern von Google veröffentlichten Statistik, wie oft welche Regierung Inhalte löschen lassen wollte: "Die Zahlen beziehen sich auf die zweite Jahreshälfte 2009. Größtenteils betrafen sie die richterlich angeordnete Löschung von Suchergebnissen sowie Inhalte der Videoplattform Youtube. Aus dem Index entfernt wurden etwa rechtsradikale Seiten und solche, die von der Bundesprüfstelle als jugendgefährdend eingeordnet wurden. Zu den abgefragten Nutzerdaten gehören IP-Adressen und wann welche Google-Konten angelegt wurden."

Im Feuilleton: Der Soziologe Klaus Naumann erklärt in einem als Handreichung für die Bundeskanzlerin verfassten Text die Lage in Afghanistan. Der Stadtplaner Max Bächer geißelt die Pläne der Bahn für den Stuttgarter Hauptbahnhof. Peter Michalzik plagt in Times mager ein übler Alb, der grausame Leser. Besprochen werden Atom Egoyans Thriller "Chloe", die Comic-Verfilmung "Kick-Ass", Darko Lungulovs Komödie "Here and There", die Aufführung von Franz Schmidts Oper "Notre Dame" und das Album "Congratulations" von MGMT.

Freitag, 22.04.2010

Die Vertreter der Printpresse sollten endlich aufhören, ihre Unentbehrlichkeit zu behaupten und statt dessen Belege liefern und ihre Produktionsbedingungen transparent machen, fordert die freie Wissenschaftsjournalistin Eva-Maria Schnurr. "In den USA gehen Journalismusprojekte inzwischen diesen Weg: Sie legen offen, was eine Recherche kostet. Warum nicht auch Transparenz darüber, wie lange der Journalist recherchiert hat, ob er vor Ort war oder nur telefonieren konnte? Wer die Reise bezahlt hat. Ob ein Profi am Werk war oder ein Hobbyautor. (...) Wer öffentliche Relevanz für sich in Anspruch nimmt und selbstbewusst genug ist, das auch belegen zu können, sollte kein Problem haben, solche Fakten offenzulegen."

Ein Pro und Contra gibt es zu Necla Keleks Buch "Himmelsreise" (Leseprobe). Im Pro erklärt Magnus Klaue, Kelek sei durchaus solidarisch mit den Migrantinnen und Migranten, doch verstehe sie unter Solidarität eben nicht einfach blindes Verstehen: "Nicht durch Pochen auf die eigene 'Identität' wird Kelek zufolge Emanzipation möglich, sondern dadurch, dass man sich selber im Wortsinn fragwürdig wird, dass man erkennt, worin man sich von der kulturellen Gruppe, der man zugerechnet wird, unterscheidet, und durch das Bewusstsein um diesen Unterschied, in dem sich die eigene Individualität artikuliert, selbstbewusst zum Ausdruck bringt."

Im Contra wirft Eren Güvercin Kelek vor, dass es ihr nicht um Integration, sondern um christliche "Missionierung" gehe: "Um ihrer Kritik einen glaubwürdigen Anschein zu geben, bezeichnet sie sich zwar als kritische Muslimin. Andererseits stellt sie wesentliche Glaubensmerkmale des Islam, den Koran und den Propheten Muhammed so radikal in Frage, dass man sich als kritischer Leser frag, ob Frau Kelek nicht selber ihre wahren Absichten verheimlicht?"

NZZ, 22.04.2010

Im Interview mit Ulrich M. Schmid spricht der große Arseni Roginski, Präsident der Menschenrechtsorganisation Memorial, über die mangelnde Aufarbeitung der russischen Geschichte und das verzerrte Selbstbild des Landes: "In der russischen Mentalität hat sich durch ständige Propaganda seit der Zarenzeit, vor allem aber in der Sowjetunion und in der Ära Putin der Gedanke festgesetzt, dass wir allen anderen nur Gutes tun: Wir haben Europa vom Faschismus befreit und bekommen dafür nur Undankbarkeit zurück. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, dazu gehört auch Katyn, zerstört dieses Erinnerungsmodell und zwingt uns, Rechenschaft darüber abzulegen, dass wir vielleicht nicht immer und nicht nur Gutes getan haben. Man muss die Russen dazu bringen, das Böse zu reflektieren. Wir müssen die staatsbürgerliche Verantwortung für die Verbrechen unserer Herrscher übernehmen." Und er fordert ein juristisches Urteil über das Verbrechen von Katyn: "Zurzeit verliert Memorial vor den russischen Gerichten alle Fälle, die sich mit den Ereignissen in Katyn, mit der Öffnung der Archive und mit der Rehabilitierung der Opfer befassen."

In einem zweiten Text beschreibt Schmid die Bedeutung von Katyn für die polnisch-russischen Beziehungen. In einem gewohnt lehrreichen Artikel erklärt der Biochemiker Gottfried Schatz die schwule Liebe unter Tieren und was Glutamat damit zu tun hat. Geri Krebs resümiert das Dokumentarfilmfestival von Nyon. Ueli Bernays schreibt den Nachruf auf den Rapper Guru.

Besprochen werden Byambasuren Davaas Film "Die zwei Pferde des Dschingis Khan" und Christoph Poschenrieders Schopenhauer-Roman "Die Welt ist im Kopf" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 22.04.2010

Rolf Schneider, selbst Schriftsteller, liest Hermann Kants späte DDR-Satire "Kennung", die er dem Autor nicht abnimmt: "Von 1978 bis Ende 1989 war Hermann Kant Präsident des DDR-Schriftstellerverbands. Bereits in seinem ersten Jahr wurden neun Autoren wegen politischen Fehlverhaltens aus der Organisation ausgeschlossen, ich selbst gehörte dazu. Der Vorgang war als öffentliche Abschreckung und persönliche Demütigung gedacht und brachte die Betroffenen in die Nähe des Berufsverbots. Kant war der Einpeitscher. Er war es in höherem Auftrag."

Weitere Artikel: Die Welt hat Lucas Wiegelmann zur Begleitung einer Japan-Tournee der Münchner Philharmoniker unter ihrem Noch-Chef Christian Thielemann mitgeschickt: Die Konzerte waren rauschend, die Verhältnisse zerrüttet. Manuel Brug bilanziert die - insgesamt recht glimpflichen - Auswirkungen der Wolke auf Konzert- und Opernbetrieb. Hans Nieswandt schreibt zum Tod des Rappers Guru.

Besprochen werden Filme, darunter der Kostümfilm "Young Victoria" (mehr hier) über die junge Queen gleichen Namens und Alain Resnais' spätes Werk "Vorsicht Sehnsucht" (mehr hier), außerdem eine Ausstellung über Fußballstadien der Hamburger Architekten Gerkan, Marg und Partner in München.

Auf der Forumsseite legt Thomas Schmid einen Essay über die mögliche Aussöhnung von Russen und Polen siebzig Jahre nach Katyn vor.

FAZ, 22.04.2010

Mark Siemons unternimmt den Versuch herauszufinden, was man auf dem chinesischen Festland bei Google finden kann - und was seit dem Umzug der Suchmaschine nach Hongkong immerhin als zensiert erkennbar wird. Die Suchanfragen waren, wie er erklärt, auf die sogannten "empfindlichen Wörter" fokussiert, von "Playboy" bis "Dalai Lama": "Unter diesem Terminus versteht man in China Namen und Begriffe, die in den staatlichen Zensurcomputern als Kennwörter für möglicherweise ungesetzliche, also zum Beispiel umstürzlerische oder pornografische Umtriebe dienen. Eine Liste von sechstausend solcher 'empfindlicher Wörter' soll privaten Internetunternehmen als Hilfe zur Selbstzensur zur Verfügung stehen. In der Bevölkerung ist der Begriff längst zur stehenden Redewendung geworden."Die offensichtlich alleremfpindlichsten Suchbegriffe wie "Tibet", "Dalai Lama" und "Falun gong" zu sein, bei denen sich die Computer total verstockt zeigen.

Weitere Artikel: Nur anschließen kann sich Patrick Bahners der Dankesrede Heribert Prantls bei Entgegennahme des Cicero-Preises, in der dieser den Journalismus, und zwar den gedruckten, für unverzichtbar erklärte. In der Glosse berichtet Irene Bazinger von einer "Dantons Tod"-Inszenierung am Berliner Gorki-Theater, deren Stückvorlage beim besten Willen nicht mehr zu erkennen gewesen sei. Durchaus ahnsehnlich und anhörbar fand Jan Brachmann die Ergebnisse der bundeskulturstiftungsgesponsorten Veranstaltung "Open Op - Europäisches Festival für anderes Musiktheater" (Website), Vom Essener "Konvent" der Bundesstiftung Baukultur berichtet Andreas Rossmann. Andreas Kilb hat das Filmfestival in Istanbul besucht.

Besprochen werden eine Stuttgarter Wiederaufführung von Werner Braunfels' seit mehr als achtzig Jahren nicht mehr gespielter "Großer Messe", ein Kölner Konzert des solo auftretenden Popduos Ich + Ich (im Prinzip, schimpft Eric Pfeil, ist das Schlagermusik), die erste US-Einzelausstellung mit Werken von Otto Dix in New York, das neue Magnetic-Fields-Album "Realism", die neue To-Roccoco-Rot-Platte "Speculation" und Bücher, darunter Hanna Lemkes Erzählungsband "Gesichertes" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 22.04.2010

Die SZ publiziert einen großartigen Essay der Schriftstellerin Olga Tokarczuk über das "neurotische Theater eines katholischen Nationalismus", in das sie sich nach dem Unglück von Smolensk verstrickt sieht, und sie kritisiert scharf die Rolle der katholischen Kirche, die bei den Trauerfeiern die Rolle des einzigen Zeremonienmeisters übernahm: "Da die katholische Kirche als Verwalterin vieler nationaler Symbole und Denkmäler den Zugang zu diesen regelt, hat sie unbegrenzte Möglichkeiten zur gesellschaftlichen und politischen Manipulation. Die Geste, mit der über die Kapelle im Wawelschloss verfügt wurde, war ein Zeichen von Feudalmacht, eine demonstrativ eindeutige Geste, die ohne jedwede Rücksprache mit der Gesellschaft geschah und bewusst die drohende Vertiefung sozialer und politischer Spaltungen ignorierte."

Weitere Artikel: Aus Kolumbien berichtet Sebastian Schoepp, dass das ganze Land auf ein Signal von Gabriel Garcia Marquez zur anstehenden Präsidentenwahl wartete - und dass nach einem Treffen mit dem grünen Kandidaten Antanas Mockus dessen Umfragewerte tatsächlich nach oben schossen. Bernd Dörries meldet, dass die Gegner des Stuttgarter Hauptbahnhof-Teilabriss- und untertunnelungsprojekts jetzt vor Gericht gehen. Die Ergebnisse einer Bukarester Tagung zum Thema "Balkan, Kaukasus und Schwarzes Meer" referiert Markus Bauer. Ziemlich begeistert kehrt Wolfgang Schreiber vom Berliner Festival für "anderes Musiktheater" mit dem Titel "OpenOp" (Website) zurück. Einen vorsichtig optimistischen Vortrag zur Zukunft des Buches, den der Verleger Klaus G. Saur hielt, Michael Stallknecht gehört. hat Jonathan Fischer porträtiert das seit vierzig Jahren aktive Münchner Rock-Kollektiv Embryo. Auf der Kinoseite: Christine Dössel war bei den Bozener Filmtagen (Website) zu Besuch. Fritz Göttler stellt das Programm der Münchner Architekturfilmtage vor. Gemeldet wird, dass der noch immer inhaftierte iranische Filmregisseur Jafar Panahi eine Einladung als Jurymitglied nach Cannes hat.

Besprochen werden ein Konzert des Komponisten und Klarinettisten Jörg Widmann in der Münchner Pinakothek der Moderne, Staffan Valdemar Holms "Tartuffe"-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt, Alain Resnais' "irrwitziges" Alterswerk "Vorsicht Sehnsucht" und Darko Lungulovs Indie-Film "Here & There" von Darko Lungulov und Bücher, darunter Tom Drurys Debütroman "Das Ende des Vandalismus" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 22.04.2010

Leider macht Jens Jessen all die Netzkritiker, Paniker und Euphoriker nicht namhaft, von denen er sich gleichermaßen absetzt, um dann dem Defätismus gegenüber dem Internet die Stirn zu bieten: "Das Netz gehört nicht den fremdenfeindlichen Natives und nicht den Digital Residents in ihrer Arroganz - das Netz gehört uns allen. Wir alle können darüber entscheiden, was dort geboten - und was besser verboten wird. Die Mitsprache ist indes durch vornehm unzufriedenes Abseitsstehen nicht zu haben. Gewiss kann man darüber streiten, ob das Internet wirklich demokratische Eigenschaften hat, wie manchmal behauptet wird; aber eine Eigenschaft hat es mit der Demokratie gemein: Es verlangt die Einmischung."

Außerdem: Nach weiteren vier toten Soldaten lässt die Zeit den Krawallkünstler Jonathan Meese vier Eiserne Kreuze errichten, und zwar der totalen Neutralität, dem totalen Metabolismus, der totalen Demut und der totalen Hermetik. Die Historikerin Ute Frevert spricht im Interview mit Elisabeth von Thadden über den Begriff der Ehre, der "deutlich abgerüstet" habe. Claude Haas schafft semantische Klarheit: "Die 'Gefallenen' sterben einen sinnvollen Tod, die 'ums Leben Gekommenen' einen sinnlosen.

Hanno Rauterberg besichtigt die Musterstadt Lingang, die das Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner eher ungefähr nach Hamburger Vorbild in China baut: "Die Straßen sind Boulevards, so breit, als müsste die Stadt jederzeit auf eine Massenevakuierung vorbereitet sein." Die Autorin Sarah Khan lässt kein gutes Haar an Grunge-Ikone Courtney Love, deren neues Album sie noch "schweinerockiger" findet als ihre bisherigen: "Ihre Leistung erschöpft sich darin, eine lebende Klatschskulptur zu sein." Die Schauspielerin Ingrid Caven verabschiedet Werner Schroeter, mit dem "ein einmaliger Mut zur Sehnsucht" verschwinde. Auf der Glaubensseite erkennt Thomas Assheuer in Tariq Ramadan und Ian Buruma, die er beide auf dem Groninger Lolle-Nauta-Forum erlebte, zur "neuen Avantgarde."

Und auf den vorderen Seiten dämpft Josef Joffe nach den Zensurvorwürfen seine Heilserwartungen an Apples Ipad als Retter des Journalismus.

Besprochen werden Stefan Bachmanns Wiener Inszenierung von Horvaths "Geschichten aus dem Wiener Wald", Peter Konwitschnys Aufführung von Glucks "Alceste" in Leipzig. Und Bücher, darunter Wolfgang Kemps Buch über Engländer in Deutschland "Foreign Affairs" und Robert Asbackas Roman über das Estonia-Unglück "Das zerbrechliche Leben" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).