Heute in den Feuilletons

Absurde Logik der Angst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.05.2010. In der FAZ denkt Hans Belting über das Islamische im Film nach. In BoingBoing erklärt Cory Doctorow, warum er Facebook hasst. Welt und Tagesspiegel greifen ein Plakat der dänischen Gruppe Surrend auf, das unter dem Titel "Endlösung" Israel von der Landkarte tilgt. Die SZ meldet, dass das ZDF den Zeichner Kurt Westergaard nun angeblich doch interviewen will. Die taz erzählt die Geschichte eines ägyptischen Zahnarztes, der trotz deutschen Doktortitels nicht in deutschen Zähnen bohren darf.

Welt, 05.05.2010

Paul Jandl unterhält sich mit György Konrad über den Rechtsruck in Ungarn, aber auch über das Berliner Holocaust-Mahnmal, das von Konrads Kollege Peter Nadas neulich so heftig kritisiert wurde. Konrad sieht es anders: "Als ich in Berlin beim Mahnmal war, habe ich festgestellt, dass es von außen gesehen ziemlich weltlich ist. Die Touristen lassen sich auf den Steinen nieder. Wenn man aber hineingeht, dann ist man von einer ernsten Stimmung umfangen. Keiner plaudert mehr, man merkt, dass man nur alleine durch die Stelen gehen kann. Ich habe einige Stunden in diesem Mahnmal verbracht. Es ist in seinen Wegen so endlos variabel und doch ist es unveränderbar. Man kann es nicht korrigieren. Es wirkt, als könnte man es nicht zerstören."

Weitere Artikel: Jacques Schuster greift in der Leitglosse ein antiisrarelisches Kunstwerk der dänischen Künstlergruppe Surrend auf, das "Juden, raus aus Israel" fordert, und schlägt statt dessen einen Bevölkerungsaustausch zwischen Dänemark und Israel vor. Hanns-Georg Rodek resümiert französische Debatten um Rachid Boucharebs Cannes-Wettbewerbsfilm "Hors la loi", der ein Massaker der Franzosen an Algeriern aus dem Jahr 1945 zum Gegenstand hat. Brigitte Preissler liest den in britischen Schriftstellerkreisen spielenden Comic "Tamara Drewe" von Posy Simmonds, der jetzt von Stephen Frears verfilmt wurde. Hannes Stein besucht noch einmal die recht beeindruckende Performance und Ausstellung Marina Abramaovic' im Moma. Tobias Moorstedt erzählt, dass das Haus in der Torstraße 1, Berlin, das einst ein Kaufhaus und später SED-Zentrale war, nun zu einem vornehmen Club auf der Suche nach einer Berliner Elite umgebaut werden soll. Und Hannes Stein verweist auf amerikanische Äußerungen zur Krise des Euro (unter anderem Artikel von Paul Krugman und einen Betrag im Blog von Walter Russell Mead.)

Besprochen wird Kleists Fragment "Robert Guiskard" bei den Ruhrfestspielen.

NZZ, 05.05.2010

Tobias Straumann erzählt aus aktuellem Anlass eine kurze Geschichte der Staatsbankrotte. Brigitte Kramer erinnert an 100 Jahre Gran Via in Madrid.

Besprochen werden eine große Edward-Burne-Jones-Ausstellung im Kunstmuseum Bern, eine DVD zum Ersten Weltkrieg und Bücher, darunter Timothy Snyders Buch über den "König der Ukraine", Wilhelm von Habsburg, sowie Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 05.05.2010

Cigdem Akyol erzählt die Geschichte des deutsch-ägyptischen Zahnarztes Sherif Mikhail, der in Äypten studiert und in Deutschland promoviert hat, aber nach dem Willen der Zahnärztekammer und des Oberverwaltungsgerichts Münster trotzdem keine deutschen Zähne behandeln darf. "Sherif Mikhails Geschichte ist kein Einzelfall. Seit Jahren schon warnen viele Wissenschaftler und einige Politiker vor den gravierenden Folgen einer Abwanderung von Fachkräften. Während andere Länder von der deutschen Bildungselite profitieren, machen gut ausgebildete Ausländer einen Bogen um die Bundesrepublik."

Weitere Artikel: Cigdem Akyol kommentiert auch die Ausladung Kurt Westergaards aus der "Markus Lanz"-Talkshow im ZDF: "Also, welche Logik steht hinter der Stellungnahme des Senders? Es ist die absurde Logik der Angst." Rolf Lautenschläger hat bereits die Ausstellung "Topografie des Terrors" im neuen Dokumentationszentrum besichtigt, die am Donnerstag offiziell eröffnet wird, und ist nicht sehr zufrieden: Warum, fragt er sich, hat die Stiftung im neuen Haus eine veränderte Konzeption der Ausstellung vermieden?

Besprochen werden Jon Favreaus Film "Iron Man 2" (fällt deutlich ab gegenüber Episode 1, meint Dirk Knipphals) und ein Konzert Randy Newmans in Berlin

Und Tom.

Tagesspiegel, 05.05.2010

Benjamin Weinthal berichtet über eine bereits höchst umstrittene Berliner Aktion der dänischen Künstlergruppe Surrend, "ein Plakat mit dem Titel 'Endlösung', das Israel symbolisch von der Landkarte tilgt. Die Plakate hängen derzeit an vielen Fassaden in Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg. Sie zeigen eine Karte des Nahen Ostens ohne den Staat Israel, versehen mit der Überschrift 'Endlösung' und der Bezeichnung 'Ramallah' für das neue Staatsgebiet auf israelischem Boden."

Aus den Blogs, 05.05.2010

Cory Doctorow findet in BoingBoing recht starke Worte für die neue, im Unternehmenssinne großzügige Datenschutzpolitik von Facebook: "I hate Facebook and never use it (I have a profile, but haven't logged in for years). But holy crap, that is the most reprehensible bit of corporate awfulness I've seen in months." Und er verweist auf einen Beitrag im Blog der Electonic Frontier Foundation, der die neue Politik von Facebook näher erläutert.
Stichwörter: Doctorow, Cory, Facebook

FR, 05.05.2010

Hans-Klaus Jungheinrich freut sich über den Siemens-Musikpreis für Michael Gielen. Reinhart Wustlich empfindet, inspiriert von Kazantzakis, nichts als Erleichterung über den Zusammenbruch des "großen Investments". In Times Mager lässt sich Judith von Sternburg von einem Schweizer Museumswärter ein Bild von Klee erklären.

Besprochen werden Wanda Golonkas Choreografie "Rrungs! - Eine Raumerkundung" an der Volksbühne Berlin, eine CD von Caribou, ein Belcantoabend mit Edita Gruberova in Frankfurt, Sebastian Nüblings Basler Inszenierung von "Dear Wendy" bei den Maifestspielen Wiesbaden und Bücher, nämlich der Comicband "Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff" und ein Band mit Aufsätzen und Vorträgen von Reinhart Koselleck (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 05.05.2010

Mit viel Zustimmung referiert der Kunsthistoriker Hans Belting die neue Ausgabe der britischen Zeitschrift Third Text, die über Film in islamischen Gesellschaften nachdenkt. Im Ergebnis bleiben Beltings Anmerkungen und auch seine Kritik an der westlichen Rezeption dieser Filme leider recht allgemein: "Inzwischen haben Filme in solchen Gesellschaften alle Varianten von der Folklore bis zur Filmkunst, vom Märchenfilm bis zum allegorischen Drama oder aber zum Dokumentarfilm durchlaufen, indem sie Grenzen durchbrechen, die sie nicht mehr anerkennen."

Weitere Artikel: Über die französische Initiative "Jcall", in der jüdische Intellektuelle von Bernard-Henri Levy bis Alain Finkielkraut nach einer kritisch-solidarischen Position zur israelischen Politik suchen, informiert Joseph Croitoru (hier die deutsche Fassung der von Jcall verfassten EU-Petition "Appell an die Vernunft"). Martin Kämpchen findet die rasanten Zuwächse der Facebook-Nutzung in Indien nicht sehr erstaunlich, schließlich handle es sich um eine Gesellschaft, die Nähe und Gemeinschaft jederzeit der Distanz und der Privatheit vorzieht. In der Glosse kommentiert Dirk Schümer ein niederländisches Gerichtsurteil, das eine christlich inspirierte Partei dazu auffordert, auch Frauen auf ihren rein männlichen Wahllisten zuzulassen.

Von den Kurzfilmtagen (Website) in Oberhausen berichtet Rüdiger Suchsland. Stefan Weidner schreibt zum Tod des marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri (hier ein Auszug aus seiner "Kritik der arabischen Vernunft"). Auf der Geisteswissenschaften-Seite macht sich der Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister Gedanken zur Bildpolitik der Apache-Kriegsführung - und zwar vor allem anlässlich des unter dem Titel "Collateral Murder" bei WikiLeaks aufgetauchten Materials.

Besprochen werden Frank Hoffmanns Inszenierung des Kleist-Fragments "Robert Guiskard" zur Eröffnung der Ruhrfestspiele in Recklinghausen, die Frida-Kahlo-Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau, und Bücher, darunter Simon Bunkes kulturwissenschaftliche Studie "Heimweh" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.05.2010

Gemeldet wird, dass der auch zum Raubkopieren nutzbare Online-Speicherplatzanbieter Rapidshare dem Urteil des OLG Düsseldorfs zufolge für das Verhalten seiner Nutzer nicht haftet. Mehr Hintergrundinformationen bietet Heise, hier findet sich der Volltext des höchst interessant argumentierenden Urteils.

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh sieht in "Iron Man 2" (mehr) einen Superheldenfilm für post-heroische Zeiten. Schwer begeistert berichtet Hans Schifferle von Kintopp-Filmen um 1910, New Yorker Trashfilmen aus den Achtzigern und neuen Found-Footage-Arbeiten, die er auf den Oberhausener Kurzfilmtagen (mehr) gesehen hat. Alexander Menden befasst sich mit der anstehenden Wahl in Großbritannien aus der Perspektive öffentlich geförderter Kulturinstitutionen.

Besprochen werden Volker Löschs "Titus Andronicus"-Interpretation als bajuwarisches Splatter-Volkstheater in Stuttgart (mehr), eine "abgetakelte" "Carmen"-Aufführung in Wien (mehr), die Aufführung von Kleists "Robert Guiskard" in Recklinghausen (mehr), ein sich über sechs rheinländische Museen erstreckendes Ausstellungsprojekt mit Landschaftsmalereien von Johann Wilhelm Schirmer (mehr), die Ausstellung "Ruhrblicke" in Essen (mehr), neue CD-Veröffentlichungen und Bücher, darunter Jörg-Uwe Albigs "satirisches Sci-Fi-Märchen" "Berlin Palace" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite meldet Marc Felix Serrao, dass das ZDF nach Kritik an der Ausladung des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard, die angeblich keine war, nun doch ein Interview mit dem Zeichner der bekanntesten Mohammed-Karikatur machen will.