Heute in den Feuilletons

Die RAF war keine Kinderhilfsorganisation

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2010. Ulrike Meinhof hat ihre Töchter Bettina und Regine Röhl aus Mutterliebe verschleppen lassen, meint Jutta Ditfurth nach den Missbrauchsvorwürfen gegen Klaus Rainer Röhl in der taz und ruft damit den wütenden Protest Bettina Röhls in der FR auf den Plan, die Jutta Ditfurth Schönfärberei vorwirft. Spiegel Online bestreitet die ZDF-Version in punkto Westergaard-Absage. Caroline Fourest erzählt in ihrem Blog die Geschichte der Frauen von Hassi Messaoud. Die Neupräsentation der Topografie des Terrors stößt allgemein auf Zustimmung.

TAZ, 07.05.2010

Die Missbrauchsvorwürfe, die Anja Röhl diese Woche im Stern gegen ihren Vater Klaus Rainer Röhl erhoben hat, werfen für Jutta Ditfurth im taz-Interview auch ein neues Licht auf Ulrike Meinhof, die ihre und Röhls Töchter Bettina und Regine bekanntlich von Röhl entfernen ließ, bevor sie in den Untergrund ging. "1969, ein Jahr nach der Scheidung, verstand sie, dass es nicht nur um abstoßende Sprüche, um Erotisierung und körperliche Gewalt ging, sondern dass ihre Töchter Gefahr liefen, vom Vater sexuell missbraucht zu werden. Genau deshalb sorgte sie vor der Baader-Befreiung im Mai 1970 dafür, dass die Kinder bei ihrer Schwester Wienke leben sollten, solange sie im Untergrund war. Eine gute Entscheidung, wie das Berliner Landgericht im Juli 1970 befand."

Im Kulturteil unterhält sich Christian Werthschult mit dem kalifornischen Produzenten Flying Lotus alias Stephen Ellison über dessen Album "Cosmogramma". Regine Müller wirft einen kritischen Blick auf die Kulturförderung in NRW, die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 feiert, während "die kulturelle Grundversorgung vor dem Abgrund" steht. Katrin Bettina Müller sieht die Finanzkrise als Stofflieferanten für das heute beginnende Berliner Theatertreffen. Besprochen wird die Premiere von Armin Petras "We are blood" im Berliner Gorki-Theater.

Und Tom.

Welt, 07.05.2010

Sven Felix Kellerhoff besucht die neue Ausstellung der Topografie des Terrors und lobt die Ausstellung als unprätenziös und informativ: "Hinzugekommen ist ein Kapitel über die 'Volksgemeinschaft'. Damit greift die Stiftung, deren Hauptaufgabe die Dokumentation des SS-Repressionsapparates ist, eine wichtige Entwicklung in der jüngeren Forschung auf. Denn zunehmend betonen Historiker, dass nach der Phase der brutalen 'Machteroberung' durch die NSDAP 1933/34 nicht mehr vor allem Terror das Dritte Reich zusammengehalten habe, sondern Hitlers Popularität und das neue Gemeinschaftsgefühl - allerdings auf Kosten der vermeintlichen 'Volksfeinde' wie Juden, Marxisten und anderen Hitler-Gegnern, die brutal ausgegrenzt wurden."

Weitere Artikel: Michael Pilz hört sich das erste Album unseres Nationaltalents Lena Meyer-Landrut an und ist und bleibt charmiert. In der Leitglosse schreibt Brigitte Preissler über den erstmals begangenen Gratis-Comic-Tag.

Besprochen werden eine offenbar gelungene Adaption von Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" durch das Puppentheater Das Helmi ("'Das Helmi' mit seinen wunderbar rotzigen Schaumstoffpuppen und dem slapstickhaften Humor begegnet dem Stoff mit angemessenem Ernst", schreibt Laura Ewert) und Massenets Oper "Don Quichotte" in Brüssel.

Übersehen haben wir gestern ein Interview mit Andre Glucksmann, der über Europa spricht - aber auch über Ruanda: "Warum hat die katholische Kirche bis heute zum Völkermord in Ruanda geschwiegen? Ruanda war ein katholisches Land. Und in den Kirchen und Missionsschulen haben Priester die Leute selektiert und die Tutsi den Mördern überlassen. Es ist das erste Mal in der Weltgeschichte, dass ein Völkermord unter Angehörigen derselben Religion stattgefunden hat. Johannes Paul II. war vor dem Genozid in Ruanda und hat das Land dem König Christus geweiht. Das letzte Land, das auf diese Weise geweiht wurde, war Spanien vor dem Bürgerkrieg."

NZZ, 07.05.2010

Joachim Güntner schreibt einen Nachruf auf die Glühbirne. Ulrich Ruh denkt über die Krise der Katholischen Kirche nach: Sie "ist sich im Grunde genommen nicht sicher, welchen Platz sie in Zukunft in den westeuropäischen Gesellschaften einnehmen kann und soll." Lam. schreibt zum Tod der Mezzosopranistin Giulietta Simionato.

Besprochen werden ein Konzert mit Radu Lupu und dem Tonhalle-Orchester in Zürich, eine Aufführung des Musicals "Hair" am Londoner West End, eine Aufführung der Rossini-Oper "La Donna del Lago" in Genf sowie mehrere CDs, darunter Aufnahmen des Dirigenten Andris Nelsons mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra und Aufnahmen mit Werken von Karl Amadeus Hartmann.

Spiegel Online, 07.05.2010

Nicht Kurt Westergaards Manager hat sich ans ZDF gewandt um den Zeichner für ein Interview vorzuschlagen, wie es in einer Darstellung des ZDF erschien, sondern es war genau umgekehrt, schreibt Henryk Broder in Spiegel Online :"Kurz nachdem ich Kurt Westergaard im Januar besucht und eine Geschichte über ihn für den Spiegel geschrieben hatte, bekam ich einen Anruf von einer Redakteurin in der 'Markus Lanz'-Redaktion. Ob ich ihr die Telefonnummer von Kurt Westergaard geben könnte, das ZDF möchte ihn in die Sendung einladen?"

Aus den Blogs, 07.05.2010

Die algerische Ölförderstadt Hassi Messaoud mitten in der Sahara wurde 2001 zum Ort einer Massenvergewaltigung alleinstehender Frauen, die von den Einheimischen als "Prostituierte" angesehen wurden. Nun ist ein Buch über diese Frauen erschienen. Caroline Fourest liest es in ihrem Blog (zuerst in Le Monde): "Die Bewohnerinnen von Hassi kommen aus allen Ecken des Landes, in der Hoffnung, hier für internationale Konzerne wie Total oder Schlumberger arbeiten zu können. Sie sind Witwen oder geschieden, sie fliehen vor einem gewalttätigen Mann oder einer Familie, die sie zurückweist. Sie glauben, das Eldorado gefunden zu haben, das es ihnen erlaubt, ihre Kinder aufzuziehen, und sie scheitern in diesem Backofen (sechzig Grad im Schatten). Ihre mageren Gehälter erlauben ihnen gerade eine Existenz in windschiefen Häusern. Als Exilantinnen in prekärer Situation werden sie zu Fantasieobjekten der einheimischen Bevölkerung aber auch von Predigten über 'alleinstehende Frauen'. Mehr braucht es nicht, um sie den Gelüsten frustrierter Männer auszusetzen."

(Via Bewegliche Lettern) Eine interessante Meldung über das Programm Google Editions, mit dem Google Ebooks verkaufen will, findet sich im blog des Reader-Herstellers txtr: "Google nimmt nur Bücher in sein Programm auf, die bereits als gedruckte Version existieren. Genau: Reine eBooks werden hier nicht anzutreffen sein. Diese Strategie kann man durchaus als Bekenntnis für Verlage lesen. Indem Google den Verlagen weiterhin die Hoheit über die Inhalte überlässt, stärkt es ihre Macht. Wer als Autor also nicht durch den Auswahlprozess der Verlage kommt, der muss auch bei Google draußen bleiben."

Einen Debattenbeitrag zur Relevanz sozialer Medien finden wir in dem Blog Twitkrit:





Das Blog Lizas Welt kann Lorenz Jäger von der FAZ beruhigen. Er hatte ein Plakat der Künstlergruppe Surrend, das unter dem Titel "Endlösung" eine Landkarte Palästinas ohne Israel zeigt, als perfide Kritik an Israelkritikern verstanden, denen Gelüste zur Auslöschung Israels unterstellt werden sollten. Aber die Künstler meinen es laut einer Äußerung im Tagesspiegel durchaus ernst und möchten Israel tatsächlich von der Karte tilgen, wendet Lizas Welt ein und kommentiert: "Es ist immer wieder erhellend zu beobachten, wie eine 'israelkritische' Gesinnung zwangsläufig dazu führt, die Wirklichkeit nur noch selektiv wahrzunehmen, um es freundlich auszudrücken."

Steve Jobs hat Angst vor den hysterischen Deutschen, meldet Valleywag (via pitchfork): "Today in totally benign apps Apple thinks it needs to protect us from: German electro-punk band Atari Teenage Riot has developed an app which plays crazy sounds. The German iTunes store has delayed its release because it might cause 'hysteria.'" Es geht um dieses Stück:


FR, 07.05.2010

In der FR wehrt sich Bettina Röhl entschieden gegen die von Jutta Ditfurth und anderen vorgebrachte Geschichtsversion, ihre Mutter Ulrike Meinhof habe sie und ihre Zwillingsschwester Regine nur aus schierer Mutterliebe und, um sie von ihrem möglicherweise pädophilen Vater zu entfernen, verschleppen lassen: "Die RAF war keine Kinderhilfsorganisation. Das ist die Geschichtsumschreibung, die Ditfurth zu eigenem politischen Nutzen seit Jahren im Konzert mit einigen Ex-Terroristen (teils selber Täter der Verschleppung) zustande zu bringen versucht... Hier wird Trittbrettfahrerei im Angesichte eines öffentlichen Diskurses über Pädophilie betrieben, die finde ich abscheulich."

Weitere Artikel: Arno Widmann plädiert gegen Schwarz-Grün in NRW (was nicht heißt, dass er für Rot-Rot ist). Bert Hoppe besucht die neue Dauerausstellung der Topografie des Terrors in Berlin. Hans-Jürgen Linke kommentiert in der Leitglosse einen Fall sexuellen Missbrauchs in der Fremdenlegion.

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Fritz Katers Stück "We Are Blood" am Berliner Gorki-Theater und ein Buch Elizabeth Harveys über Frauen und die nationalsozialistische Germanisierungspolitik (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 07.05.2010

Johan Schloemann glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als er bei einer Diskussionsrunde in Oxford den lange erfolgreich in der kapitalistischen Wirtschaft tätigen Lord Adair Turner vortragen hörte: "So, wie dieser Lord Turner nun in Oxford sprach, hätte man denken können, wir hätten uns in der Tür geirrt und seien in ein Arbeitstreffen der Attac-Studentengruppe hineingeplatzt: Die Globalisierung muss begrenzt werden. Der Wachstumsimperativ ist zu überdenken. Das liberale Modell von Eigeninteresse und segensreicher Profitvermehrung taugt in den reichen Staaten nicht mehr zur allgemeinen Glücksvermehrung."

Weitere Artikel: Jens Bisky findet das Gebäude der endlich eröffneten Topografie des Terrors (Website) dem Zweck sehr angemessen, die Ausstellung selbst aber scheint ihm doch etwas zu pädagogisch und deutlich zu wenig an der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand interessiert. Sonja Zekri schildert ein patriotisch trunkenes Russland vor den Siegesfeiern am 9. Mai, kann allerdings auch konstatieren, dass Nikita Michalkows 40-Millionen-Historienfilm-Jubelwerk "Von der Sonne ermüdet 2" (demnächst in Cannes) an den Kassen schrecklich gefloppt ist. Einen ausgesprochen schlecht gelaunten Michael Naumann hat Thorsten Schmitz bei einer Berliner Diskussion zu fünf Jahren Holocaust-Mahnmal erlebt, an der auch die Initiatorin Lea Rosh und der Architekt Peter Eisenmann teilnahmen. Von der Verleihung des Siemens-Preises an den Dirigenten Michael Gielen berichtet Wolfgang Schreiber. Gemeldet werden die Pläne des neuen Kammerspiel-Intendanten Johan Simons. Jens Malte Fischer schreibt zum Tod der Mezzosopranistin Giulia Simionata.

Besprochen werden eine trashige Puppentheater-Version der Hegemann-Debatte, bei der Helene Hegemann selbst mitmischt, die Uraufführung von Gianina Carbunarius Stück "Sold Out" im Werkraum der Münchner Kammerspiele, das vom Publikum wenig beachtete Orchesterprogramm der Münchner Musiktheaterbiennale (Reinhard J. Brembeck entdeckt darin einen Höhepunkt des Festivals), die Ausstellung "Le grand geste! Informel und Abstrakter Expressionismus, 1946-1964" in Düsseldorf, zwei Münchner Ausstellungen zum Kirchenbau der Moderne und Bücher, darunter neue Taschenbücher und Brigitte Rossbecks Biografie der Malerin Marianne von Werefkin (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 07.05.2010

Der Blogger Don Alphonso erklärt, warum er ganz entschieden etwas gegen Googles Street View hat: die Menschen werden damit durchweg, bei Bewerbungen etwa, recht genau sozial kartierbar. Durchaus einverstanden zeigt sich Andreas Kilb mit dem Gebäude und der Dauerausstellung der nach fast unendlicher Verzögerung nunmehr eröffneten Topografie des Terrors (Website) in Berlin. Eine ziemlich bittere Bilanz der nordrhein-westfälischen Kulturpolitik unter Jürgen Rüttgers zieht Andreas Rossmann - und ist überdies sicher, dass es nach der Wahl nur bergab gehen kann. Julia Spinola porträtiert den Dirigenten Michael Gielen, der - Zeit wurde es - den diesjährigen Siemens-Preis erhielt. Eduard Beaucamp stellt die ab sofort auch in einer Ausstellung in der Leipziger Universitätsbibliothek zu sehenden Tagebücher des Malers Werner Tübke vor. In der Glosse referiert Lorenz Jäger einen New-Yorker-Artikel, der aufdeckt, dass der in den USA viel gelesene, vor acht Jahren verstorbene Historiker Stephen Ambrose sich viele Gespräche mit Dwight D. Eisenhower zur Mehrung des eigenen Ruhms ausgedacht hat. Jürgen Kesting hat den Nachruf auf die eine Woche vor ihrem 100. Geburtstag verstorbene Mezzosopranistin Giulietta Simionato verfasst. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Pianisten Alfons Kontarsky.

Auf der Medienseite kommentiert Jordan Mejias den bevorstehenden Verkauf (falls sich ein Käufer findet) des seit Jahren verlustbringenden US-Nachrichtenmagazins Newsweek. Keine Verluste bringt dagegen der WAZ (die aber, wie Michael Hanfeld kolportiert, schon 50 Millionen in die Entwicklung investiert haben soll) und dem Springer-Konzern das von Stefan Aust entworfene neue Nachrichtenmagazin Woche - die beiden Konzerne wollen sich nun nämlich doch nicht beteiligen. Aust gibt aber noch nicht auf. Hanfeld stellt auch das von Paul Kirchhof entwickelte neue Gebührenmodell für die Öffentlich-Rechtlichen vor: Jeder Haushalt soll zahlen, dafür werden ARD und ZDF werbefrei.

Besprochen werden die Münchner Uraufführung von Gianina Carbunarius Dokumentarstück "Sold Out", die Ausstellung "Klasicismus a Biedermeier" im Prager Waldheimpalais und Bücher, darunter Nicol Ljubis Roman "Meeresstille" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).