Heute in den Feuilletons

Der mit den Haien schwimmt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2010. Dem Blog Irights.info wurden Gesetzentwürfe der Verleger und Gewerkschaften für ein Leistungsschutzrecht zugespielt. Wer auf Presseerzeugnisse verweisen will, wird demnächst einen Antrag stellen müssen! Die FAZ enthüllt zweierlei: Warum die öffentlich-rechtlichen Anstalten in dem neuen Entwurf für die Rundfunkgebühr so leichthin auf Werbeeinnahmen verzichten und warum TV-Serien heute aufregender sind als Romane. In der Welt klagt Hans Pleschinski über den deutschen Literaturbetrieb: Kein Werk, kein Gedanke und keine Kritik.

Aus den Blogs, 08.05.2010

Dem Copyright-Blog Irights.info sind Gesetzentwürfe der Verleger und Gewerkschaften für ein Leistungsschutzrecht zugespielt worden. Bei der Lektüre der Vorschläge wird der Redaktion des Blogs, die die Entwürfe (hier als pdf-Dokument) gemeinsam kommentiert, ganz anders. Freie Journalisten etwa würden eher noch schlechter gestellt als bisher, weil unklar ist, was genau sie aus eigenen Stücken von ihren Werken weiterverwerten dürfen. Google News dürfte erst nach Vertragsabschluss mit einer Verwertungsgesellschaft wieder auf Presseartikel hinweisen. Das gilt auch für die Suchmaschine selbst. "Der Social-Media-Aggregator Rivva müsste im Zweifel ebenso zahlen, wie der Perlentaucher und ähnliche Dienste." Und es lassen sich noch absurdere Konsequenzen denken: "Wenn - wie von den Verlegern gefordert - sich das Leistungsschutzrecht auf kleinste (wie klein, wird nicht definiert) Teile ihrer Presseerzeugnisse erstreckt, wird damit die Sprache an sich monopolisiert. Die Schlagzeile (vom gestrigen Tage) 'Hans im Glück' würde dann etwa Spiegel Online gehören. Jeder, der das auch schreiben will, muss vorher mit der Verwertungsgesellschaft einen Vertrag schließen..." Die Gesetzentwürfe werden im Netz bereits weithin diskutiert, Links auf der Twitter-Seite von Irights.info.

TAZ, 08.05.2010

Jan Egesborg, Mitglied der dänischen Künstlergruppe Surrend, erläutert die Absichten hinter dem heftig kritisierten Plakat, das unter der Überschrift "Endlösung" ein vereinigtes israelisch-palästiensisches Staatsgebiet "Ramallah" zeigt: "Ein gutes satirisches Poster lebt von seiner Einfachheit. Ein pointierter Text schließt sich mit dem Bild kurz: Darum geht es. Die Botschaft sollte so spitz sein wie eine Nadel. Die Plakatüberschrift 'Endlösung' haben wir sorgsam ausgewählt, denn der Begriff ist in Deutschland ein Tabuwort. Wird es in ein Bild von einer Landkarte integriert, aus der Israel gelöscht und durch 'Ramallah' ersetzt wurde, dann haben wir hier einen Klassiker zwecks Demaskierung der öffentlichen Meinung." Ganz anderer Meinung ist da allerdings (selbe Seite) taz-Redakteur Ulrich Gutmair.

Weitere Artikel: In einem weiteren Meinungs-Artikel erkennt Cristina Nord einen Wandel der Öffentlichkeit in Missbrauchsfragen: "Eine Gesellschaft, in der so viel sexuelle Gewalt steckt wie in unserer, ist auf dem Weg, das Reden über diese Gewalt zu lernen." Dirk Knipphals untersucht in einem Essay, wie die aktuelle deutsche Literatur mit dem 8. Mai umgeht und dabei den Verdacht vermeidet, "Schlussstriche" ziehen zu wollen. Eva Behrendt porträtiert die Schauspielerin Margit Bendokat, die am Sonntag den Berliner Theaterpreis erhält. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne stellt Doris Akrap fest, dass in Euroland der "Normalzustand" der Finanzmärkte längst der "Ernstfall" ist. Rene Hamann besichtigt den Suhrkamp-Shop in Berlin-Mitte, der ihm allerdings eher galerieartig vorkommt.

Besprochen werden Bradley Rust Grays Film "The Exploding Girl" und Bücher, darunter Andreas Elters Studie "Bierzelt oder Blog" und Josh Bazells Thriller "Schneller als der Tod" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 08.05.2010

"Der Literaturbetrieb hat das literarische Leben geradezu vernichtet", ruft der Autor Hans Pleschinski in einer Ergänzung zu Fritz J. Raddatz' Lamento über das sinkende Niveau deutscher Feuilletons. "Mittlerweile ist ein Buch, das in den ersten zwei Monaten seiner Existenz von den großen Zeitungen nicht en suite bejubelt wird, verlorene Mittelware. Mit der Beschleunigung der Produktion erstickt jede Buchsaison die vorherige. Kein Werk, kein Gedanke und keine Kritik in schrumpfenden Feuilletons kommen mehr zur Entfaltung. Sogar Schriftsteller unterhalten sich untereinander längst häufiger über ihre Auftritte, Lizenzen, ihre homepages als über ihre geistigen Anliegen. Die Literatur ist ohne jeglichen Standort. Niemand vertritt noch eine Vision, außer vielleicht jener des Rette-sich-wer-kann. Das Feuilleton fasst nichts Moralisch-Ästhetisches mehr zusammen, zeigt keine Traditionslinien auf, weist nicht in die Zukunft. Das ergibt ein regsam laues Treiben."

Ulrich Wickert unterhält sich mit Ingo Schulze über dessen Aufenthalt in der Villa Massimo, das neue Buch, das dort entstand, und über Berlusconi: "Berlusconi sehe ich schon als eine Bedrohung der Demokratie. Italien ist uns so nah, das betrifft uns ganz unmittelbar. Und die politische Macht und die Medien nicht voneinander zu trennen, das halte ich für etwas, was sozusagen per Gesetz verboten werden müsste. Und ich verstehe auch nicht, dass man das, was in Italien passiert, so hinnimmt."

Außerdem: Im Editorial klagt Elmar Krekeler über die Buchüberproduktion. Thomas Schmid schreibt zum 250. Geburtstag Johann Peter Hebels. Hansgeorg Schmidt-Bergmann stellt aus diesem Anlass einige Neuerscheinungen über Hebel vor.

Besprochen werden Andrea Wüstners Buch über Thomas und Katja Mann als Eltern "Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam", Harriet Köhlers Roman "Und dann diese Stille", Regina Mühlhäusers Band "Eroberungen" über sexuelle Gewalttaten deutscher Soldaten in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs und Peter Pohls Jugendbuch "Anton, ich mag dich".

Im Feuilleton empfiehlt Wolf Lepenies, inspiriert von einem Projekt des American Enterprise Institute, allen, die das heutige China verstehen wollen, Alexis de Tocquevilles "Über die Demokratie in Amerika" zu lesen. Und Iris Laufenberg, Leiterin des Theatertreffens, spricht im Interview über die Stückeauswahl.

NZZ, 08.05.2010

Hubertus Adam schlendert über die Expo in Schanghai und lobt besonders den Schweizer und den dänischen Pavillon - während der deutsche Pavillon beim Publikum besonders gut anzukommen scheint: "Eine Rutsche im deutschen Pavillon, über die man von einem Stockwerk in das darunterliegende gelangt, löst Begeisterung aus - ebenso wie eine große leuchtende Kugel im letzten Raum, die durch das Schreien und Klatschen des Publikums in Bewegung gesetzt werden kann." (Deutsche Ingenieure liefern den Chinesen eine Akklamationsmaschine!)

Außerdem berichtet Samuel Herzog aus Warschau über das Goethe-Institutsprojekt "The Promised City" über das Leben in Metropolen, das zugleich in Berlin, Warschau und Bombay stattfindet. Besprochen wird Aram Mattiolis Studie "Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis" (mehr hier, siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Beilage Literatur und Kunst erinnert Manfred Koch an Johann Peter Hebel, der vor 250 Jahren geboren wurde. Besprochen werden auch einige Neuerscheinungen zum Thema.

Außerdem bricht Olga Martynova zu einem interessanten Streifzug durch die aktuelle russische Lyrikszene auf: "Die Lyrikszene trifft sich auf Festivals und bei Klublesungen, und gerne tummelt man sich im Internet. Da Russischschreibende auf alle Kontinente verstreut sind, hat das Internet die nicht zu überschätzende Funktion, einen gemeinsamen Kommunikationsraum zu schaffen." Felix Philipp Ingold liest Lew Tolstois "Lebensbuch" "Für alle Tage".

FR, 08.05.2010

Mit gebührendem Respekt nimmt Tobi Müller Abschied von James Murphys Projekt LCD Soundsystem, dessen drittes und letztes Album "This Is Happening" soeben erschienen ist: "Der Job ist getan. Es war schön. Die Stimme von James Murphy verschwindet etwas in der Klangmischung, er dreht seine Runden bereits woanders."

Weitere Artikel: Der seit 25 Jahren in Deutschland lebende polnische Autor Artur Becker lobt zum 8. und 9. Mai die "Transformationsgeschichte" seiner Heimat als sehr "beachtlich" und weist auf das "historische Ereignis" hin, dass bei den Siegesfeiern in Moskau erstmals auch polnische Soldaten mit von der Partie sein werden. Arno Widmann ist nach Marbach gefahren, um im dortigen Literaturarchiv die kleine Ausstellung "Deutscher Geist. Ein amerikanischer Traum" zu besuchen - berichtet vor allem aber über den Stargast Henry Kissinger, der zur Eröffnung anwesend war. Christian Schlüter begeht den ersten deutschen Comic-Tag, an dem es sogar was geschenkt gibt. In ihrer US-Kolumne erklärt Marcia Pally, was es mit den stadtzentrumfernen Neo-Downtowns auf sich hat. Olaf Velte gratuliert dem Dichter und Umweltaktivisten Gary Snyder zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite: Stefan Austs Magazin-Projekt Woche ist tot - oder lebt es doch noch? Ulrike Simon und Marin Majica wissen nichts Genaues, aber doch Näheres: "Aust sei ausgesprochen guter Dinge, sagt einer, der den Chef zu sprechen bekam."

Besprochen werden der erste Abend unter dem Titel "Dark Matters" der neuen Frankfurter Tanzkompanie Kidd Pivot Frankfurt RM im Mousonturm und Gerbrand Bakkers Roman "Juni" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.05.2010

Tobias Kniebe hat einen Drehtag von Oliver Stones "Wall Street"-Fortsetzung "Money Never Sleeps" miterlebt, die in Cannes ihre Uraufführung erleben wird. Er hat sich dabei auch mit Michael Douglas unterhalten: "Douglas erzählt, dass die im Knast reformierte Heuschrecke [Gordon Gekko] jetzt eine Art Untergangs-Zikade ist, wie es sie an der echten Wall Street ja auch immer gibt. Der neue Gekko zirpt vom kommenden Crash. Im Gefängnis hat er ein Buch mit dem Titel 'Swimming with Sharks' geschrieben - der mit den Haien schwimmt. Untertitel: Warum Wall Street nun endgültig zu weit gegangen ist. Er verdient ein bisschen Geld - Peanuts im Vergleich zu seinen früheren Gewinnen -, indem er diesen warnenden Vortrag vor interessierten Studenten hält."

Weitere Artikel: Gleich zwei ganze Seiten sind dem fünfzigsten Geburtstag der Antibabypille gewidmet. Evelyn Roll bilanziert, was die Erfindung fürs Sexualleben hierzulande bedeutet hat und Christian Weber schildert ihre lange Vorgeschichte. Über kinderlose Frauen als Heldinnen von Kinofilmen schreibt Susan Vahabzadeh. Katrin Blawat wartet - und zwar schon lange - auf die Pille für den Mann. Vor Risiken und Nebenwirkungen der oft jahrzehntelangen Hormongaben warnt der Arzt Werner Bartens. Lothar Müller weiß, wie die Pille die Literatur verändert hat. Christine Dössel blickt voraus aufs Berliner Theatertreffen. Von einer Visite Henry Kissingers im Literaturarchiv Marbach berichtet Volker Breidecker. Lothar Müller war zur Eröffung im "eher ungemütlichen" Suhrkamp-Laden in Berlin Mitte. Zum 250. Geburtstag situiert Gustav Seibt den Dichter Johann Peter Hebel in der politischen Geschichte, Martin Mosebach freut sich, dass Hebel nicht vergessen ist. Wolfgang Schreiber hat einen kurzen Nachruf auf den Pianisten Alfons Kontarsky verfasst.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende relativiert Nikolaus Piper den drohenden Staatsbankrott Griechenlands - dergleichen gab es, beruhigt er, in der Geschichte nicht selten. Mit einem launigen ABC stimmt Tobias Kniebe auf die Filmfestspiele in Cannes ein. Danijela Pilic informiert über die Eröffung einer Filiale des Privatclubs Soho House in Berlin. In der Reihe "Das war die Gegenwart" schreibt der Blogger und Schriftsteller Peter Glaser über das "Wir" im Netz. Joachim Käppner erzählt die Geschichte des Zölibats. Rayk Wieland rettet die Ehre des Kuckucks. Evelyn Roll unterhält sich mit Angela Merkel über "Antisemitismus".

Besprochen werden eine Münchner Aufführung des Ligeti-Requiems, dirigiert von Esa-Pekka Salonen, die Ausstellung "Richard Neutra in Europa" im Marta Herford und zwei Biografien des Autors Johann Peter Hebel (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 08.05.2010

Michael Hanfeld hat sich Paul Kirchhofs Entwurf für die neue Rundfunkgebühr, die per Haushalt zu zahlen wäre, genau angesehen und herausgefunden, warum hier so leichthin gefordert wird, dass die Sender auf Werbung verzichten: "Alle sollen den neuen 'Beitrag' zahlen, auch diejenigen, die aus sozialen Gründen bislang von der Gebühr befreit sind, Empfänger von Sozialhilfe und Hartz IV. Diese zahlen auch, holen sich die knapp achtzehn Euro pro Monat aber beim Staat, der den Rundfunkbeitrag ins Existenzminimum einrechnen und zum Beispiel mit dem Wohngeld auszahlen soll. Das aber ist eine indirekte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch die Steuern." Das gibt dann 800 Millionen Euro, statt der 500 Millionen, die man bisher durch Werbung bekommt.

Der Literaturkritiker Richard Kämmerlings gibt zu, dass er lieber fernsieht als zu lesen: "Kein Roman der vergangenen Jahre hat mich so sehr beschäftigt wie die amerikanische Fernsehserie 'The Wire'" (Homepage) - Fernsehserien wie diese sind längst Konkurrenz zu Romanen, so Kämmerlings.

Weitere Artikel: In der Leitglosse kommentiert die Londoner Kulturkorrespondentin Gina Thomas Ausgang und Umstände "dieser unberechenbarsten und verwirrendsten aller Wahlen". Jürgen Dollase verspeist für seine Gastrokolumne einen "Kalbskopf mit Vinaigrette" bei Roland Barthel im elsässischen Restaurant "Au Bon Pichet". Wolfgang Schneider besucht eine von Suhrkamp in der hippen Berliner Linienstraße eröffnete Buch-Lounge, wo bis Juli Bände der Edition Suhrkamp verkauft und Veranstaltungen abgehalten werden sollen. Auf der Medienseite wird gemeldet, dass das ZDF Kurt Westergaard nach seiner Ausladung nun zu einer Hochsicherheitssendung einladen will. Für die Reportage auf der letzten Seite begibt sich ein im Internet nicht genannter Autor zur Teeernte nach Darjeeling.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um Mark E. Smith und The Fall, um Musik aus der Zeit der Katharer, eingespielt von dem Ensemble Hesperion XXI unter Jordi Savall (hier für alle die Katalanisch sprechen, ein Interview mit Savall zur Platte auf Youtube), um Aufnahmen mit Ernst Busch und um die Gruppe The National.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung über "Bayreuth zwischen Luthertum und Nationalsozialismus", ein Requiem des Komponisten Alexej Sjumak für alle Toten des Zweiten Weltkriegs in Moskau und zwei Stücke jüngerer Autoren am Gorki-Theater und an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin.

Gemeldet wird, dass die Künstlergruppe Surrend ihr notorisches Plakat mit einer Palästina-Karte ohne Israel unter dem Titel "Endlösung" satirisch gemeint habe - so hatte es Lorenz Jäger von vornherein verstanden, als "infame" Kritik an Israelkritik, mehr hier (die Künstler scheinen allerdings selbst nicht zu wissen, was sie eigentlich meinen, in ihrem Statement steht auch: "What we wanted with our poster was in a German context to discuss Israels opression of the palestinians and also show. that you will be attacked for being anti-semitic etc. when you come with such a critism.")

Für Bilder und Zeiten berichtet Kerstin Holm über Nikita Michalkows Kriegsepos "Die Sonne, die uns täuscht", das trotz seiner putinistischen Schlagseite nach Cannes eingeladen wurde. Peter Bermbach porträtiert den ältesten aktiven Magnum-Fotograf Erich Lessing. Auf der Literaturseite werden der neue Roman von Maarten 't Hart und zwei Biografien über Johann Peter Hebel besprochen. Für die letzte Seite unterhält sich Helga Hirsch mit dem jüdischen Sänger Alfred Schreyer, der 1922 geboren wurde und der seitdem in der Stadt Drohobycz lebt, die zuerst polnisch, dann sowjetisch, dann von den Deutschen besetzt war, und die jetzt ukrainisch ist.