Heute in den Feuilletons

Rundum gelungene Verrohung der Sitten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2010. Für die NZZ endete die Münchner Musikbiennale im Allerlei - Zeit für ein neues Konzept. Die FR ist sehr froh über das Schauspiel Frankfurt unter Oliver Reese, das sich wieder in die Hirne und Herzen der Stadt spielt. Die Welt erlebte das Fiasko der Whitney Houston und den Triumph Lady Gagas in Berlin. In der FAZ kritisiert die Informatikerin Constanze Kurz das BGH-Urteil gegen offene WLAN-Zugänge. Was kommt als nächstes: Das Verbot des anonymen Netzzugangs?

NZZ, 14.05.2010

"Frische Ideen" braucht die Münchener Biennale für neues Musiktheater, "der internationale Glanz droht zu verblassen", warnt Marco Frei in seinem Resümee der diesjährigen Aufführungen. "Das eigentliche Problem der Biennale ist, dass es kein konsequent geschärftes Konzept gibt, das die Werke vermittelt und inspiriert. Das fängt schon bei den Mottos an: Sie werden den eingereichten Werken nachträglich übergestülpt, obwohl die Biennale mit klar fokussierten Themen ein spannendes Diskussionsforum werden könnte. Auf Nachfrage betont Biennale-Leiter Peter Ruzicka, dass das Publikum zwar einen 'roten Faden' willkommen heiße, er aber kein Motto als Teil eines Kompositionsauftrags formulieren wolle: 'Das würde zu einem ästhetischen Diktat führen. Ich müsste Komponisten allzu sehr eingrenzen, indem ich ihnen inhaltliche Vorgaben mache.' Also wurde diesmal für die vier musiktheatralischen Hauptwerke der 'Blick des Anderen' aus dem Hut gezaubert" - was dann leider oft im "Allerlei" endete, so Frei.

Außerdem: Marc Zitzmann berichtet über das neueröffnete Centre Pompidou in Metz. Die Zürcher Kunsthistorikerin Bice Curiger wird Direktorin der Biennale di Venezia 2011.

Besprochen werden eine Werkschau des mexikanischen Künstlers Gabriel Orozco im Kunstmuseum Basel, das Debütalbum "Bittersüessi Pille" der Bernerin Steff la Cheffe ("Dem Nutten-Zuhälter-Image der Szene begegnet die Rapperin mit Ironie und Distanz - oder mit Zeilen wie dieser: 'Herr Doktr, Herr Doktr, i bruche es Schnäbi, zum Räppe u so wärs drum würkli no gäbig.'", schreibt Matthias Daum) und Patti Smiths Buch "Just Kids" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 14.05.2010

Niemand anderes als Mathias Döpfner erlebte in einem Berliner Konzert die Selbstdemontage der Whitney Houston: "Irgendwann geht sie ganz, für ein paar Minuten. Sie zieht sich um. Ein weißes Kleid. Noch unvorteilhafter als das schwarze. Eingezwängt in eine Haut, in der sie sich nicht wohlfühlt. Sie verliert sich, versingt sich, verzettelt sich. Plötzlich kippt die Stimmung im Saal. Buhs, erst einzelne, dann ein ganzer Chor."

Und nebenan an verzeichnete Harald Peters den Triumph der aktuellen Popgöttin Lady Gaga: "Wirklich überragend und ihrer Konkurrenz um Längen überlegen ist Lady Gaga in den Momenten zwischen den Songs. Wenn man nicht genau weiß, ob sie gerade aus der Rolle fällt oder das Drehbuch umschreibt."

Weiteres: Hans-Joachim Müller stellt die Schweizer Kuratorin und Publizistin Bice Curiger vor, die die 54. Biennale von Venedig leiten wird. Berthold Seewald erzählt aus Anlass der neuen "Robin Hood"-Verfilmung die Kulturgeschichte einer mittelalterlichen Präzisionswaffe, des Bogens. Auf der Magazinseite liest Sven Felix Kellerhoff Stasi-Einschätzungen über die frühe RAF. Besprochen wird August Wilsons Stück "Fences" mit Denzel Washington am Broadway.

Weitere Medien, 14.05.2010

The Big Picture bringt wie immer atemberaubende Bilder - diesmal über die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko.

Aus den Blogs, 14.05.2010

Das Internetmagazin irights.info hat bekanntlich jüngst den von den Lobbies verfasten Gesetzentwurf für ein Leistungsschutzrecht veröffentlicht (mehr hier). Dietmar Wolff, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) hat irights.info daraufhin einen Urheberrechtsverstoß vorgeworfen. Darauf antwortet Matthias Spielkamp im Blog des Magazins: "Wenn ein Gesetzentwurf von Lobbyverbänden verfasst und der Öffentlichkeit als 'internes Arbeitspapier' vorenthalten wird, halten wir dies für bedenklich. Die Veröffentlichung entsprechender Dokumente ist kein urheberrechtlicher Streitfall, sondern die Aufgabe eines jeden Journalisten, der dazu die Gelegenheit erhält."

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat Dr. Ahmed Badr Al-Din Hassoun, Großmufti der Arabischen Republik Syrien, eingeladen, um über Religionsfreiheit zu sprechen. Warum hat sie das getan?, fragt Henryk Broder auf achgut.de: "Weil es der Akademie der KAS um 'die Förderung des interreligiösen Dialogs in Deutschland und der Welt' geht... Ginge es ihr um die Förderung der Demokratie und der Freiheit, hätte sie einen Vertreter der syrischen Opposition eingeladen - was ein wenig komplizierter wäre, weil dieser erst einen Hafturlaub beantragen müsste, während der Großmufti natürlich immer und überallhin reisen darf, mit einem Eimer Honig im Gepäck, den er seinen Gastgebern um die Bärte schmiert."

TAZ, 14.05.2010

Cristina Nord denkt in Cannes über den Status quo der Geschlechterverteilung bei den teilnehmenden Filmemachern und in der Besetzung der Jury nach. "Selbstverständlich lässt sich ein Filmfestival nicht via Quotenregelung organisieren. Doch ohne Sensibilität in dieser Frage wird sich nie etwas an den ungleichen Verhältnissen ändern."

Besprochen werden das neue Album von LCD Soundsystem alias James Murphy "This is happening" und ein Berliner Konzert der Popsängerin Lady Gaga (das "ist die Rache der kunstlosen Jugend", meint Laura Ewert).

In tazzwei unterhält sich Sabine am Orde im Vorfeld der neuen Islamkonferenz mit den beiden Teilnehmerinnen Hamideh Mohagheghi und Armina Omerika über Gleichberechtigung und Schnaps, Partisaninnen und die Ehe.

Und Tom.

FR, 14.05.2010

Peter Michalzik glüht vor Lokalstolz. Das Frankfurter Theater unter Oliver Reese spielt wieder in der Bundesliga, die Stadt liebt es und beschert ihm überdies prächtige Einnahmen. Einer der Gründe: "Es gibt nur wenige Stars in der großartig aufeinander abgestimmten Frankfurter Schauspielertruppe. Diese Gruppe ist wie ein vielgliedriges Chamäleon, alt und jung, altmodisch und modern, bunt und grau, bisher konnte sie noch den Geschmack jedes Stückes fühlbar machen. Schon das ist Kunst. Auch für große Rollen wurden und werden in der nächsten Spielzeit keine Stars verpflichtet. Sogar Rene Pollesch wird nur mit dem Ensemble arbeiten."

Weitere Artikel: Recht enttäuscht schreibt Daniel Kothenschulte über die ersten Filme in Cannes - auch "Robin Hood" fiel durch. Sebastian Moll besucht den Skulpturengarten des Storm King Art Center nördlich von New York der nach fünfzig Jahren Landschaftskunst überhaupt erst die intendierte Wirkung entfaltet.

Besprochen werden ein Abschiedskonzert der Scorpions, Nuran David Calis Stück "Schattenkinder" am Deutschen Theater Berlin, die (bisher nur auf Englisch erschienenen) Russland-Reportagen der englische Journalistin Susan Richards.

Berliner Zeitung, 14.05.2010

So beginnt Jens Balzers Kritik des Berliner Lady-Gaga-Konzerts: "Zu einer rundum gelungenen Verrohung der Sitten und Verletzung der überkommenen Sexualmoral für die ganze Familie ist es am Dienstag in der Multifunktionshalle am Spreeufer gekommen."

Im Gespräch mit Daniel Bouhs äußert sich der stellvertretende RBB-Intendant Hagen Brandstäter zwar zufrieden mit den neuesten Vorschlägen für die Rundfunkgebühr, findet aber noch Unklarheiten "bei der Frage, was Unternehmen, Hoteliers und Inhaber von Ferienwohnungen" abführen sollen: "Das macht zwar nicht den Großteil des Gebührenaufkommens aus, könnte letztlich aber ebenfalls ausschlaggebend dafür sein, ob ein neues Gebühren-Modell für uns ein Gewinn oder ein Verlust wäre." Ach, gäbe es doch auch für den Perlentaucher an jeder Ecke eine Gebührenpflicht!

FAZ, 14.05.2010

Gar nicht mehr ein kriegt sich Gerhard Stadelmaier nach einem kurzweiligen langen Abend mit Robert Lepages "Lipsynch" - "ein Unternehmen, das als Muttertod in den Wolken beginnt und als Video-Kreuzabnahme endet" - bei den Wiener Festwochen: "Lepage webt in 'Lipsynch' einen Teppich beziehungsweise ein Netz, in dem alle Fäden und Maschen und Menschen und Stimmen und Schicksale zusammenkommen, obwohl oder gerade weil sie nichts miteinander zu tun haben und so verwoben sind, dass zwischen sie tausend andere passen und sie allesamt nie zu einem Ende, höchstens zu einem Momentbild kommen. Vielleicht ist 'Lipsynch', in dem es (auch) um die Möglichkeit geht, wie einer mit der Stimme (dem Text) eines anderen sprechen kann, so eine Art erstes großes Oberflächen-Drama des Internetzeitalters: eine Komödie der Wahnsinns- und Zufallsverknüpfung, eine Tragödie der Menschenverlorenheit und natürlich eine Soap-Opera der Slapstick-Schicksalsklicks."

Die Informatikerin Constanze Kurz hält das BGH-Urteil, das offene WLAN-Netze für abmahnungswürdig erklärt, für verhängnisvoll und fragt, was jetzt wohl als nächstes kommt: "Das Verbot des anonymen Netzzugangs? In China erprobte Überwachungssoftware, deren Installation dem Nutzer Absolution vor den Nachstellungen der Unterhaltungsindustrie gewährt? Der uniformierte Musikindustrie-Wächter, der regelmäßig einen Blick auf die Laptop-Bildschirme in Cafes und Bibliotheken wirft, ob da illegales Filesharing läuft?"

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko ist nach Metz gefahren, um daselbst das neue Ausstellungsarchitektur-Weltwunder, nämlich den Provinz-Ableger des Centre Pompidou (Bild) in Augenschein zu nehmen. Noch nicht so überzeugend fand Verena Lueken die ersten Filme in Cannes: Mathieu Amalrics "Tournee" und Wang Xiaoshuais "Chongqing Blues". Über das neue argentinische Literaturgenre der Fußballgeschichte informiert Paul Ingendaay. Claudius Seidl war dabei, als in Berlin der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg den Henry A. Kissinger-Preis erhielt. In der Glosse freut sich Andreas Platthaus, dass nach des großen unbekannten Comiczeichners und Autors Walter Moers' gleichnamiger Figur nun auch in der freien Natur eine "Zamonische Zwergspinne" gefunden bzw. getauft worden ist. Andreas Rossmann stellt das vom Kölner Museum Ludwig günstig erworbene Ernst-Ludwig-Kirchner-Gemälde "Braune Figuren im Cafe" vor. Auf der Medienseite geht es um Rettungspläne für die praktisch bankrotte französische Tageszeitung Le Monde. Im Interview verbreitet Stefan Aust weiter Zuversicht, was sein geplantes Magazin angeht.

Besprochen werden die Wangechi Mutu-Ausstellung in der Deutschen Guggenheim in Berlin, Wes Andersons Film "Der fantastische Mr. Fox" (den Michael Althen dringend, und zwar in der Originalfassung, anzusehen empfiehlt), und Bücher, darunter Thor Kunkels neuer Roman "Schaumschwester" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 14.05.2010

Bitter enttäuscht ist Egbert Tholl von Robert Lepages zur Eröffnung der Wiener Festwochen aufgeführtem Stück "Lipsynch": "So virtuos die technischen Abläufe sind, so enervierend sind sie auch... Die Verknüpfung von Biografien aus insgesamt 60 Jahren, die Grundidee von neun Stunden - neun Menschen -, neun Geschichten, die alle zusammenhängen - all das ist Humbug, weil Lepage nur an der Oberfläche seiner Figuren interessiert ist."

Weitere Artikel: Noch nicht so recht überzeugend beurteilt Susan Vahabzadeh die ersten Filme in Cannes. Gottfried Knapp teilt mit, dass nach einem vernichtenden Gutachten der Münchner Marstall wohl kaum zu einem Konzertsaal umgebaut wird - dafür rücke als möglicher Standort jetzt der im Norden des Hofgartens gelegene Finanzgarten in den Blick.

Besprochen werden ein Lady-Gaga-Auftritt in Berlin, ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter Lorin Maazel mit Bruckners Achter, das Debüt des Choreografen Liam Scarlett im Royal Opera House London, zwei Rudolf-Steiner-Ausstellungen in Wolfsburg und Bücher, darunter Michael Scharangs Roman "Komödie des Alterns" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).