Heute in den Feuilletons

Prosa aus ungelüfteten Räumen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2010. Die NZZ steht im Pariser Musee d'Orsay vor den Köpfen guillotinierter Franzosen. Bei den Passionsspielen in Oberammergau möchte die FR den Schauspielern Socken anziehen, die Welt findet: Jesus ist einfach zu gut, um interessant zu sein. In Carta erklärt Wolfgang Michal, warum die FAZ Peter Kruse anschwärzt. In der FAZ sieht Botho Strauß nur noch schnellfertige Virtuosen im Theater.

NZZ, 17.05.2010

Fasziniert wandert Uwe Justus Wenzel durch eine Ausstellung über "Verbrechen und Strafe" - vor allem die Todesstrafe - im Pariser Musee d'Orsay und steht plötzlich vor den Köpfen Guillotinierter: "Von den Köpfen der Hingerichteten waren im Jahrhundert des aufstrebenden wissenschaftlichen Positivismus (und des bürokratisch rationalisierten Strafrechtssystems) nicht nur Abgüsse zu nehmen oder Moulagen anzufertigen, sondern eben auch Bilder zu malen. Kaum hatte das Säkulum der Aufklärung im gemarterten Verbrecher den Menschen entdeckt, machte sich das Jahrhundert der neuen, empirischen Wissenschaften daran, im Menschen den - geborenen - Kriminellen zu identifizieren. Dafür legte man sich gewissermassen lebensechte Sortimente vermeintlicher Verbrechertypen an."

Weitere Artikel: So groß ist in Kuba die Enttäuschung über die Reformen, die Raul Castro erst in Aussicht gestellt und dann verweigert hat, dass jetzt auch etablierte Künstler der Revolution die Regierung öffentlich kritisieren, erzählt Knut Henkel. Roman Bucheli würdigt den Plastiker Hans Josephsohn, der am Donnerstag Neunzig wird.

Besprochen werden eine Aufführung von Alban Bergs "Wozzeck" bei den Wiener Festwochen und ein Konzert des WDR-Sinfonieorchesters mit dem Schweizer Pianisten Oliver Schnyder in Zürich.

Aus den Blogs, 17.05.2010

Wolfgang Michal hat Edo Reents' am Samstag erschienenes, hämisches FAZ-Porträt über Peter Kruse gelesen und stellt in Carta den Kontext her: "Absatz für Absatz wird Peter Kruse 'entlarvt' als oberflächliches, unseriöses Plappermaul, das seinen Lebensunterhalt mit den immer gleichen billigen 'Versatzstücken' verdient. Das FAZ-'Porträt' liest sich wie ein Vernichtungsversuch. Und dieser Versuch hat eine Vorgeschichte. Im November letzten Jahres hatte sich Peter Kruse in der Süddeutschen Zeitung die Freiheit genommen, Frank Schirrmachers Buch 'Payback' (insbesondere dessen kulturkonservative, alarmistische Grundhaltung gegenüber dem Internet) zu kritisieren." Mehr dazu auch in dem Blog von Gunnar Sohn, der sich mit einigen Zitaten des nicht online stehenden Artikels von Edo Reents auseinandersetzt.

TAZ, 17.05.2010

Die Gruppe Rimini Protokoll hat im Berliner Hebbel am Ufer ein Computerspiel inszeniert. "Best Before" heißt es, und die Zuschauer spielen mit. Auf der Leinwand ist jeder Zuschauer durch einen kleinen bunten Gummiball verkörpert und muss Entscheidungen treffen, erzählt Ariane Lemme, die mitgespielt hat. "Nach der Wahl unseres Geschlechts geht es zügig weiter zu ziemlich großen menschlichen Fragen. Manche davon werden nach dem Mehrheitsprinzip entschieden: Wollen wir alle dieselben Talente besitzen oder soll Vielfalt herrschen? Ist Abtreibung in Bestland legal? Was ist mit Heroin? Andere Entscheidungen trifft jeder Spieler für sich: Will ich Mitgefühl oder Angst empfinden können? Lesen oder lieber Computerspielen?"

Joachim Lange sieht eine kulturpolitische Operndämmerung in Italien aufziehen: "Mit auffallendem Eiltempo hat die Regierung Berlusconi per Dekret den ohnehin nur 340 Millionen Euro umfassenden Musik- und Theaterfonds um ein Drittel gekürzt. Die 14 Opernhäuser sollen die ausfallenden Mittel selbst aufbringen. Dazu wurden ein Einstellungstopp bis 2012 verhängt, Nebenverdienste und Haustarife untersagt und de facto die Autonomie der Institutionen abgeschafft."

Weiteres: Damian Zimmermann berichtet über das Fotobook-Festival Kassel. Cristina Nord unterhält sich mit dem Regisseur Christoph Hochhäusler, dessen Film "Unter dir die Stadt" gerade in Cannes gelaufen ist (mehr in Sennhausers Filmblog). Auf der Medienseite schreibt Georg Löwisch einen Nachruf auf den Journalisten und Journalistik-Lehrer Walther von La Roche. Besprochen wird Daniel Heller-Roazens Studie "Der Feind aller. Der Pirat und das Recht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 17.05.2010

Oberammergau hat's ins Feuilleton geschafft. Judith von Sternburg berichtet von der Premiere des Passionsfestspiels: "Es ist während der ersten Vorstellung so kalt, dass man um die Gesundheit der sockenlosen Darsteller und um die eigene fürchten muss. Von Frederik Mayet am Kreuz (circa 12 Min.) nicht zu reden. Es verdeutlicht freilich auch, dass das kein Freizeitspaß ist."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte berichtet aus Cannes über neue Filme von Woody Allen, Mike Leigh und Christoph Hochhäusler und begrüßt Leighs "Another Year" als das "erste Meisterwerk in diesem Jahr".

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotokünstlers Sven Johne in Frankfurt, Bachs H-moll-Messe unter John Eliot Gardiner ebendort und Händels "Tamerlano" bei den Göttinger Händel-Festspielen.

Welt, 17.05.2010

Eckhard Fuhr sah in Oberammergau bei Dauerregen die Passionsspiele und gibt "Erschöpfung, Ergriffenheit und Staunen" zu Protokoll. Das große Problem ist und bleibt für ihn allerdings die Hauptfigur, Jesus: "Als Theaterfigur taugt er nicht, weil er zu gut ist. Das macht ihn langweilig."

Außerdem: In der Randglosse verzeichnet Manuel Brug bei den Berliner Philharmonikern trotz multimedialer Offensive einen schweren programmatischen Rollback unter Simon Rattle. Martin Kropp berichtet von schweren Baumängeln an Hamburgs halbfertiger Elbphilharmonie, die ein Prüfbericht der Architekten Herzog und de Meuron schon jetzt festgestellt haben will (Schuld seien aber nicht die Architekten, sondern Hochtief). Wieland Freund entdeckt im Internet die Real Person Fiction als Untergenre der Fanfiction und begräbt sie auch gleich wieder: "Real Person Fiction ist Trash aus dem Sumpf von Teenie-Träumen, Prosa aus ungelüfteten Räumen, in denen ständig ein Bildschirm flimmert."

Besprochen werden Christoph Schlingensiefs Brüsseler Inszenierung von Luigi Nonos "Via Intolleranza II", die in Cannes gezeigten Filme von Christoph Hochhäusler und Edward Ferguson und Jean-Stephane Bron, Produktionen der Münchner Musiktheaterbiennale und eine große Ausstellung Jean-Michel Basquiats in der Fondation Beyeler.

FAZ, 17.05.2010

Halb Laudatio auf die mit dem Joana-Maria-Gorvin-Preis geehrte Schauspielerin Jutta Lampe, halb Lamento über das Theater von heute ist Botho Strauß' auf zwei Seiten abgedruckte Rede: "Es besteht kein Zweifel: Gute, faszinierende Schauspieler gibt es in Hülle und Fülle und mehr davon in jedem Range als zu unseren schwierigen Umbruchzeiten, da so manches Talent von den Ansprüchen eines sogenannten politischen Bewusstseins gehemmt wurde. Der Nachwuchs ist üppig und sein frühreifes Können weit ungezwungener und facettenreicher als seinerzeit. Im Grunde könnte das Theater ein nicht abreißendes Schauspieler-Fest sein. Doch gewinnen diese nur selten die Oberhand auf der Bühne, und wenn, dann handelt es sich oft um schnellfertige Virtuosen, kein Dämon plagt sie, und kein in sie vernarrter Regisseur entwickelt und betreut sie."

Jordan Mejias referiert einen in The Atlantic erschienenen Artikel von James Fallows (hier eine ganz aktuelle Fortsetzung), in dem es um die Rettung der Printmedien durch - ausgerechnet, wird mancher sagen - Google geht: "Hörten Medienkonzerne auf, großen Journalismus anzubieten, so die durchaus eigennützigen Überlegungen im Hause Google, dann gäbe es auch für die tollste Suchmaschine nichts Interessantes zu verlinken. Einige der klügsten Köpfe des Unternehmens suchen darum nach einem Weg aus der gegenwärtigen Krise, und zwar gemeinsam mit Zeitungsverlagen." (Die Ergebnisse sind allerdings bislang eher vage und die Vorschläge laufen aufs freie Experimentieren hinaus.)

Weitere Artikel: Aus Cannes berichtet Verena Lueken über Mike Leighs neuen Film "Another Year", den sie mochte, und über Neues von Woody Allen und Christoph Hochhäusler, das sie beides enttäuschte. In der Glosse erinnert Kerstin Holm an Boris Asafjew, den "Gründervater sowjetischer Musiktheorie". Die Geburtstagsglückwünsche der Woche gehen an die Sängerin Grace Jones (60), den Germanisten und FAZ-Autor Ernst Osterkamp (60), die Künstlerin Valie Export (70), den Musikologen Christoph Wolff (70), den Linguisten Peter Eisenberg (70), den Architekturkritiker Friedrich Achleitner (80) und die Tanzpädagogin Waltraud Luley (95).

Besprochen werden Christian Stückls Neuinszenierung der Oberammergauer Passionsspiele, ein für Julia Spinola nicht recht überzeugender Konzertabend, für den Claudio Abbado zu den Berliner Philharmonikern zurückkehrte, die Ausstellung "The Art of Illumination" mit dem Stundenbuch der Brüder Limburg im Metropolitan Museum in New York, und Bücher, darunter Ottfried Höffes philosophische Studie zu "Thomas Hobbes" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.05.2010

Geburtstagsgrüße zum Siebzigsten übermittelt Gottfried Knapp der Performancekünstlerin Valie Export (Website), die in den 60er und 70er Jahren vor allem mit ihrem "Tapp- und Tastkino" (mehr) und der "Aktionshose Genitalpanik" (ein Video) für Aufsehen sorgte. Das Kunstarchiv ubu.com hat einige ihrer Filmarbeiten.

Außerdem: Andreas Zielcke attestiert den Verantwortlichen des europäischen Hilfspakets "selbstverschuldete politische Verdummung" und Lernunfähigkeit. Trotz qualvollem Heilandstod verließ Christine Dössel "beschwingten Herzens" in Oberammergau die, wie sie befindet, "sehr gut gemachten" und "philosemitischsten Passionsspiele der Geschichte" (Jesus wird als hebräisch betender Jude, Judas' Handeln als Verzweiflungstat dargestellt). Till Briegleb berichtet vom Zweifel der "Freunde der Kunsthalle" daran, dass die Hamburger Kunsthalle allein wegen Brandschutzmaßnahmen bis November geschlossen bleibt. Jonathan Fischer referiert die Positionen in der Diskussion um diesen bereits im Februar in der Huffington Post erschienen Artikel des in Princeton African American Studies lehrenden Eddie Glaude, demzufolge die "Black Church" als einstiges soziales Gewissen mittlerweile strikt konservativ auftrete. Susan Vahabzadeh berichtet vom Filmfestival in Cannes, wo die frisch restaurierte Fassung von Luchino Viscontis "Der Leopard" manche Neuproduktion alt aussehen lässt.

Besprochen werden neue DVDs, Christoph Schlingensiefs Theaterabend zur Eröffnung des Kunstenfestivalsdesarts in Brüssel, in dessen Verlauf er seine Erfahrungen aus dem afrikanischen Operndorf-Projekt (siehe auch sehr regelmäßig hier) in die Oper "Via Intolleranza II" spiegelt (mehr), und Bücher, darunter ein neues Buch über den Fall Kaspar Hauser (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).