Heute in den Feuilletons

Selbstbezogener Koloss

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2010. In der Zeit liest Jürgen Habermas deutschen Politikern in der Krise die Leviten. Außerdem fordert die Zeit eine Regulierung des Netzes durch den Staat. In der FR bestreitet Avi Primor, dass es einen neuen Antisemitismus gibt. Der Freitag liest ein Manifest, das der radikalen Linken den "lebendigen Schwung der Jugend" zurückgeben möchte. Auf Facebook wurde ein "Everybody Draws Mohammed Day" ausgerufen. Der FAZ wurde bei Andrej Ujicas aus Originalaufnahmen montierter "Autobiografia lui Nicolae Ceaucescu", die in Cannes gezeigt wurde, ziemlich unheimlich zumute.

Weitere Medien, 20.05.2010

(via Jezebel) Gerade erst hat Googles Eric Schmidt das Ipad für Google zum Modell erklärt. Jetzt wollen sie Steve Jobs auch als Moralapostel nachfolgen. Wie Sarah Kershaw in der New York Times berichtet, darf die Webseite CougarLife.com - eine Partnerbörse für Frauen, die jüngere Männer suchen - keine Anzeigen mehr bei Google schalten, weil sie nicht "familienfreundlich" sei. Genauer: das ganze Konzept von Cougar-Dating sei nicht familienfreundlich. Weiter Google-Anzeigen schalten darf aber ArrangementSeekers.com, eine Schwesterwebseite von CougarLife, die sich so beschreibt: "the original Sugar Daddy service catering to ambitious and attractive girls seeking successful and generous benefactors to fulfill their lifestyle needs!"

FR, 20.05.2010

Im Interview mit Christian Thomas spricht der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, über den Appell an die Vernunft, den er gemeinsam mit europäischen Intellektuellen lanciert hat, über eine europäische Sicherheitstruppe in der Westbank und den seiner Meinung nach nicht wachsenden, aber vertrackter werdenden Antisemitismus: "Ich behaupte, dass der Antisemitismus nicht nur nicht zunimmt, er geht zurück. Es gibt heute einerseits eine sehr große Empfindlichkeit gegenüber solchen Entwicklungen. Es gibt andererseits die Kritik an Israel, und da glaube ich allerdings, dass Antisemiten heute, wo Antisemitismus nicht mehr salonfähig ist, sich mit angeblich sachlichen Argumenten decken. Ein dritter Aspekt ist der neue Antisemitismus in Teilen der Muslime in Europa, weniger in Deutschland als in Belgien und Frankreich."

Weiteres: Für Daniel Kothenschulte ragt aus der Flut schlechter Filme in Cannes nur der von anderen Kritikern eher geschmähte Film "Biutiful" von Alejandro Gonzalez Inarritu heraus: "Und einen besseren Darsteller als Javier Bardem wird man auch nicht finden." Christine Pries schreibt den Nachruf auf den Soziologen Ludwig von Friedeburg.

Besprochen werden Mia Hansen-Loves Film "Der Vater meiner Kinder", Haim Tabakmans Film über orthodoxe Schwule in Jerusalem "Du sollst nicht lieben", Dale Duesings Inszenierung von Chabriers "L'Etoile" an der Berliner Staatsoper und John Irvings neuer Roman "Letzte Nacht in Twisted River" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Freitag, 20.05.2010

Florian Schmid zitiert aus einem millenaristischen Text, der sich in der extremen Linken zum Bestseller entwickelt hat, dem Manifest "The Coming Insurrection", dessen Original zunächst in Frankreich erschien: "Es ist nicht mehr die Zeit den Zusammenbruch vorherzusehen oder seine erfreuliche Möglichkeit zu erläutern. Früher oder später wird er eintreten; es gilt, sich darauf vorzubereiten. Es geht nicht darum, das Schema dafür zu entwerfen, was ein Aufstand sein sollte, sondern darum, die Möglichkeit des Aufruhrs auf das zurückzuführen, was er nie hätte aufhören sollen zu sein: der lebendige Schwung der Jugend ebenso sehr wie die populäre Weisheit." Der Text ist auch im Netz nachzulesen. Schmid liefert interessante Hintergründe zu dem Text, der möglicherweise unter dem Eindruck der Unruhen in der Banlieue von Julien Coupat, einem Freund Giorgio Agambens verfasst wurde.

Aus den Blogs, 20.05.2010

Auf Facebook wurde ein "Everybody Draw Mohammed Day" ausgerufen, der in Pakistan zur Sperrung von Facebook geführt hat. Hier ein Blog zum Anlass und hier eine der vielen Karikaturen von Fans dieser Seite:



Gundolf S. Freyermuth legt auf Carta einen umfassenden Essay mit vielen Links zu bisherigen Reaktioen auf das Ipad vor: "Eine Ansicht eint Fans wie Feinde des iPad: dass der erste - mit Mängeln, leidlich - funktionierende Touch-Tafel-PC einen radikalen Bruch bedeutet, eine nachhaltige Wende."

Noch eine Meldung über Google, eine gute diesmal: Laut Heise und laut dem Guardian will Google einen neuen Videostandard für das Internet schaffen. Zu diesem Zweck hat es den Videocodec VP8 unter Open-Source-Lizenz gestellt. Auf diese Weise lassen sich Videos ohne Lizenzgebühren direkt aus dem Browser abspielen.

NZZ, 20.05.2010

Roman Hollenstein hat beim Architekturfestival Batim Mibifnim einen Blick hinter die Fassaden des "coolen Bauhaus-Chic" von Tel Aviv werfen können. Andrea Köhler meldet, dass die überhörte Seherin Kassandra in den USA zur neuen Symbol avanciert.

Besprochen werden der dramatische Alpenfilm "Coeur animal" der Schweizer Filmemacherin Severine Cornamusaz', Silvio Soldinis Liebesgeschichte "Cosa voglio di piu", Sarah Kirschs Prosaband "Krähengeschwätz" und Vladimir Vertlibs Roman "Am Morgen des zwölften Tages" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 20.05.2010

Tilman Baumgärtel besuchte das Filmmuseum von Rangun, der größten Stadt in Birma (Myanmar), und berichtet über die Filmszene des Landes, die unter Zensur und Geldmangel leidet; ein neuer Film soll nun das birmesische Kino auch international salonfähig machen: "Shadows of the past", geschrieben und produziert von dem in der Schweiz lebenden Exilbirmesen Aung Thura. Cristina Nord sah in Cannes Jia Zhangkes Film "Shang Hai Zhuan Qi" ("I Wish I Knew") und "Los labios" ("Die Lippen") von Ivan Fund und Santiago Loza.

Besprochen werden die DVD des Spielfilmdebüts von Christine Molloy und Joe Lawlor "Helen", der Film "Der Vater meiner Kinder" von Mia Hansen-Love, der erste Band einer Neuauflage der Werke von US-Comic-Legende Will Eisner mit den drei Hauptwerken "Ein Vertrag mit Gott", "Lebenskraft" und "Dropsie Avenue" und eine Auswahl von Reden und Schriften des Ideologiekritikers Wolfgang Pohrt (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Tagesthemenseite unterhält sich Lia Petridis Maiello mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, der eine Finanztransaktionssteuer befürwortet.

Und Tom.

Welt, 20.05.2010

Regis Debray, alter Kämpe der eher prokommunistischen Linken in Frankreich, hat ein "israelkritisches" Buch geschrieben, "Lettre a un ami israelien", berichtet Sascha Lehnartz und zitiert aus den inzwischen üblichen Argumenten gegen das Land: "Er kritisiert den erinnerungspolitischen Umgang mit der Shoah: Die Tragik des Nahen Ostens liege darin, dass die Araber für die Shoah blind seien, die Juden aber seien 'verblendet durch die Shoah'. In Frankreich mache das ritualisierte Gedenken an den Holocaust eine Kritik am gegenwärtigen Israel so gut wie unmöglich, glaubt Debray." Hier eine Antwort Claude Lanzmanns auf Debray.

Weiteres: Tilman Krause kolportiert Gerüchte, dass Suhrkamp nun doch nicht in das Nicolai-Haus in einer der zugigsten Gegenden Berlins ziehen wird. Hanns-Georg Rodek berichtet aus Cannes. Besprochen wird eine Ausstellung mit koreanischer Propagandakunst in Wien.

SZ, 20.05.2010

Schwer deprimierend findet Tobias Kniebe nach wie vor die in Cannes gezeigten Wettbewerbsfilme. Volker Breidecker wurde von der Redaktion zu einer Reportage in das kommende Buchmessengastland Argentinien geschickt. Jens Bisky empfiehlt den Besuch der gerade ihren Hundertsten feiernden Liebermann-Villa (Website), einer "Oase der Schönheit und des kultivierten Daseins inmitten der Segelclub- und Seeblickapartment-Schäbigkeit" in ihrer Havel-Umgebung. Über eine in Australien mit viel Erfolg gelaufene Reihe neuer deutscher Filme informiert Anke Sterneborg. Henning Klüver schreibt zum Tod des italienischen Autors Eduardo Sanguineti.

Besprochen werden das Auftaktkonzert der gemeinsamen Tour von Steve Winwood und Eric Clapton in Birmingham, die Uraufführung von Bernhard Langs Oper "Montezuma" in Mannheim, ein Münchner Konzert des Pianisten Herbert Schuch, ein vom Künstlerkollektiv Superschool inszenierter Bühnenabend zum Thema Internet im Berliner Gorki-Theater, die Ausstellung "The Song of the Line" mit Werken Stephan von Huenes in der Hamburger Kunsthalle, Sam Gabarskis Zeitreise-Film "Vertraute Fremde" und Mia Hansen-Loves Geschichte eines Filmproduzenten und seiner Familie "Der Vater meiner Kinder" und Bücher, darunter Alain de Bottons Bericht "Airport - Eine Woche in Heathrow" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 20.05.2010

Einen ganz außerordentlichen, in einer Sondervorstellung gezeigten Film hat Verena Lueken in Cannes gesehen. Andrej Ujicas aus Originalaufnahmen montierte "Autobiografia lui Nicolae Ceaucescu": "Keine Dokumentation, kein Spielfilm in dem Sinne, dass Schauspieler aufträten, außer dem großen Diktator selbst. Nach eineinhalb Stunden möchte man ihn erschießen, um den Jubel und das Klatschen der Völker, vor die er tritt, abzuschalten; die Ovationen des eigenen Volkes, das, wie es scheint, vollständig zu seinen Reden erschien; die der Chinesen, die für ihn singen und tanzen und klatschen und kreischen wie auch die Nordkoreaner, die einen mit Blüten in den Händen, die anderen mit Schirmen, und immer eine Menge Krach veranstaltend."

Weitere Artikel: Mit den angekündigten Kürzungen für das Goethe-Institut sieht Andreas Kilb schon die schrecklichen Zeiten unter Joschka Fischer wiederkehren. In der Glosse zweifelt Hubert Spiegel am poetischen Sachverstand des ersten offiziellen Wimbledon-Turnierdichters. Die fünf für den Stückemarkt des Theatertreffens ausgewählten Autorinnen und Autoren stellt Irene Bazinger vor. Johannes Warda schildert, dass in Mainz ein klassischer Zwanzigerjahre-Bau einem neuen Archäologiezentrum weichen soll. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod von Olivier Messiaens Frau und erster Interpretin Yvonne Loriod. Es gibt zwei weitere Nachrufe, einen auf den Sozialwissenschaftler und Politiker Ludwig von Friedeburg, den anderen auf den italienischen Autor Edoardo Sanguineti. Auf der Kinoseite berichtet Hans-Jörg Rother vom Jüdischen Filmfestival in Berlin. Rüdiger Suchsland informiert über die Nebenreihen in Cannes, unter denen die "Quinzaine" unter neuer Leitung allerdings bitter enttäuschte.

Besprochen werden Aufführungen von klassischen Choreografien Merce Cunninghams und Trisha Browns in Paris, die Ausstellung "Dreamlands" im Pariser Centre Pompidou, ein vom Pianisten Robert Levin eingepieltes Album mit Musik von Henri Dutilleux, Mia Hansen-Loves Film "Der Vater meiner Kinder" (mehr) und Bücher, darunter Peter Manseaus Roman "Bibliothek der unerfüllten Träume" und Jürgen Knieps Geschichte der Filmzensur in Deutschland mit dem Titel "Keine Jugendfreigabe!" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 20.05.2010

Im Aufmacher des Feuilletons liest Weltgeist Jürgen Habermas Deutschlands "schlappen politischen Eliten" die Leviten, weil sie sich mit bisher ungeahnter Indifferenz von einem Rettungspaket zum nächsten hangelt, ohne auch nur den geringsten Gestaltungswillen zu zeigen: "Die um sich selbst kreisende und normativ anspruchslose Mentalität eines selbstbezogenen Kolosses in der Mitte Europas ist nicht einmal ein Garant dafür, dass die Europäische Union in ihrem schwankenden Status quo erhalten bleibt." Weit und breit, seufzt Habermas, keine Spur vom Bewusstsein der tiefen Zäsur! "Es geht nicht nur um 'griechische Schummeleien' und um spanische 'Wohlstandsillusionen', sondern um eine wirtschaftspolitische Angleichung der Entwicklungsniveaus innerhalb eines Währungsgebiets mit heterogenen Volkswirtschaften."

Und der österreichische Schriftsteller Robert Menasse diagnostiziert unter Merkel einen neuen deutschen Nationalismus, der ihm mehr Angst einjagt als die griechischen Schulden. Für deutsche Banken machte die Kanzlerin "ohne viel Federlesens 400 Milliarden Euro" locker, Hilfen für Griechenland gewährte sie erst nach der NRW-Wahl und in Verbindung mit deutschen Rüstungsgeschäften: "Was ist das für eine Europapolitik, die auf der einen Seite Verhandlungen mit der Türkei in Hinblick auf einen möglichen EU-Beitritt führt und zugleich ein auf dem Boden liegendes EU-Mitgliedsland zu einer teuren militärischen Aufrüstung gegen die Türkei zwingt?"

Weiteres: Alexander Camman hat mit dem Experten des Süden Dieter Richter auf einer mediterranen Restaurant-Tour europäische Probleme besprochen. Peter Kümmel berichtet von einem Theaterabend, mit dem das alte West-Berlin sich und seine Schauspiel-Legende Jutta Lampe feierte. Der Kunsthistoriker Hans Belting versucht, etwaige Verwirrungen um die Begriffe moderner und zeitgenössischer Kunst aufzuklären. Nina May berichtet vom Leipziger Streit um die "Wirkungsästhetik" des Regisseurs Sebastian Hartmann, die sie ungefähr so umreißt: "Hartmann quält die Zuschauer oft, um sie die Grausamkeit des Stoffes erfahren zu lassen." Nach einer "Woche des plumpen Mitleidskinos" und banaler Politparabeln atmet Katja Nicodemus in Cannes bei den Filmen von Mike Leigh und Abbas Kiarostami auf.

Besprochen werden Klaus Schedls bei der Münchner Biennale aufgeführte Yanomami-Oper "Amazonas", ein Gastspiel des Diavolo Theaters aus Los Angeles beim Movimentos Festival in Wolfsburg und Bücher, darunter Robin Lane Fox' "Die klassische Welt" und Josteins Gaarders Roman "Die Frau mit dem roten Tuch" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Titelseite der Zeit fordert Heinrich Wefing in Sachen Google eine "intelligente und selbstbewusste Regulierung des Netzes durch den Staat": "Denn auch in der digitalen Welt führt der Verzicht auf Regulierung gerade nicht zu einem Zugewinn an Freiheit, sondern bloß dazu, dass sich der Stärkere, der Lautere, der besser Organisierte durchsetzt."