Heute in den Feuilletons

Creme-weiße Fata Morgana aus Marmorspitzen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2010. Die NZZ hat die Nase platt. Vom Schaufenstergucken bei Hermes Paris. Amos Oz kommentiert in der New York Times die Vorfälle vor Gaza. The Daily Beast wundert sich über das Tempo der UNO bei Israel und ihre Langsamkeit bei Nordkorea. Meedia fragt: gibt es in Deutschland einen politisch-medialen Komplex? Die meisten Zeitungen sind aber noch ausgeschlafener als sonst: Die halbe Republik ist Fronleichnam.

NZZ, 03.06.2010

Ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht hat Marc Zitzmann im Institut du monde arabe in der Ausstellung "Orient-Hermes" erlebt. Sie zeigt Rekonstruktionen der Schaufenster, die Leila Menchari seit 32 Jahren für Hermes in Paris gestaltet: "Hier eine creme-weiße Fata Morgana aus Marmorspitzen, -fontänen und -möbeln, aus bestickten Handtaschen, Krokodilleder-Kreationen sowie einem jungfräulich-lilienfarbenen Pfau, die einen matten, unendlich zarten Schimmer verbreitet. Dort ein triumphal strahlender Thronsaal mit Palmen, Panthern, Löwen und Elefanten aus Silber, mit glänzenden Pelzen, Perlmutt-Taschen und Seidendraperien, mit einem gemalten, ziselierten und skulptierten Dekor, das schon deshalb nicht exzessiv wirkt, weil seine handwerklich stupend gearbeiteten Einzelelemente mit Künstlerhand zu einem harmonisch ausbalancierten Stillleben arrangiert wurden." Hier ein Beispiel:



Außerdem: Joachim Güntner hat gemeinsam mit einer kleinen Delegation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung dem "bewegenden metaphysischen Schauspiel" einer orthodoxen Messe in Istanbul beigewohnt.

Besprochen werden Calixto Bieitos eher "bescheidenes" beim Festival Nordische Impulse in Bergen aufgeführtes Oratorium "Voices - a modern passion", Daniel Alfredsons "biedere" Verfilmung "Vergebung" des letzten Teils von Stieg Larssons "Millennium"-Trilogie und Bücher, darunter Ryszard Kapuscinskis "Ein Paradies für Ethnographen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14Uhr)

Weitere Medien, 03.06.2010

Amos Oz' New York-Times-Kommentar zum Vorfall vor Gaza hatten wir vorgestern übersehen: "I do not discount the importance of force. Woe to the country that discounts the efficacy of force. Without it Israel would not be able to survive a single day. But we cannot allow ourselves to forget for even a moment that force is effective only as a preventative - to prevent the destruction and conquest of Israel, to protect our lives and freedom. Every attempt to use force not as a preventive measure, not in self-defense, but instead as a means of smashing problems and squashing ideas, will lead to more disasters." Auf deutsch steht der Text bei Qantara.

In der Jüdischen Allgemeinen berichtet Thekla Dannenberg vom deutsch-israelischen Autorentreffen in Berlin.
Stichwörter: Israel, Oz, Amos, Country

Tagesspiegel, 03.06.2010

Jan Schulz-Ojala resümiert ein Interview, das der iranische Regisseur Jafar Panahi ("Offside") nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis auf arte gegeben hat. Darin berichtet Panahi auch, dass er nachts zum Verhör über einen Film geholt wurde, den er angeblich in seiner Zelle drehe. "Hintergrund des Verhörs war offenbar, dass Panahi gegenüber Mitgefangenen davon gesprochen hatte, er habe fünf Filme gedreht, auf die er 'stolz' sei, und nun, in Gefangenschaft entwickle sich das Drehbuch zum 'Film meines Lebens'. Diese Äußerungen seien abgehört und von den Bewachern im Gefängnis als Hinweis auf eine eingeschmuggelte Kamera gedeutet worden. 'Alle Durchsuchungen, aller Druck sind nur Frucht ihrer Fantasie, ihrer Angst vor dem Kino', sagt Panahi in dem Interview. 'Schon an einen Film zu denken oder davon zu träumen, kann hier ein Verbrechen sein.'"
Stichwörter: Panahi, Jafar

Aus den Blogs, 03.06.2010

Der Historiker Andrew Roberts wundert sich in The Daily Beast über die UNO: "Back in March, 46 South Korean sailors were killed by a North Korean torpedo, but the UN Security Council has yet to meet to discuss the issue. It?s been equally relaxed about the revolution in Thailand and half a dozen other international hotspots that have claimed the lives of many more than 10 Turkish terrorists or would-be terrorists. Yet yesterday, within 24 hours of the flotilla being boarded by Israel, the Council was in full session hearing 11 hours of proposals that Israel be accorded pariah status."

Stefan Winterbauer kommentiert in seinem Blog auf Meedia noch einmal die Medien- und Politikerreaktionen auf den Rücktritt Horst Köhlers: "Köhler geht es bei seinem Rücktritt wie in seiner Amtszeit: Beliebt beim Volk, missverstanden und verschmäht von der politischen Kaste. Wobei die politische Kaste eigentlich eine politisch-mediale ist. Die Einheit der Bewertungen des Köhler-Rücktritts in Politik und Medien ist bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert wie die Distanz dieser Bewertungen von den Stimmen der Bevölkerung."

Im Titel-Magazin stellt Brigitte Helbling den chinesischen Comic-Künstler Benjamin Zhang Bin vor, der seine jugendlichen Helden in James-Dean-artiger Verwirrung zeichnet: "Fragen. Zum Beispiel die Künstlerfiguren, die es in allen drei Geschichten gibt: Außenseiter, Rebellen, besessene Existenzen. Was ist von ihnen zu halten? In zwei der drei Geschichten haben diese Figuren ein echtes Problem mit Körpergeruch. Ihre nähere Umgebung hält es aus diesem Grund mit ihnen kaum aus. Der Gestank ist nicht der einzige Anlass, aber das klare olfaktorische Signal, ihnen 'Egoismus', 'Versagen' und die Unfähigkeit, sich ihrer Umgebung 'anzupassen' vorzuwerfen. Diese Künstlerexistenzen sind in einem tiefgreifenden Sinn Asoziale. - Natürlich sind es Asoziale! Hallo Chinesen?"

In Open Democracy freut sich Clementine Cecil, dass ein Meisterstück konstruktivistischer Architektur, das Melnikov-Haus, renoviert und nun wohl auch Staatsmuseum wird: "Moscow's Avant-garde legacy has suffered ever since 1932, when Neo-Classicism became the official style and modernism was all but outlawed. Melnikov's other buildings, including his famous workers' clubs, all built in the late 1920s, have enjoyed little maintenance since their construction, and they have often been distorted with later additions and insensitive repairs. Melnikov's buildings are all listed as monuments although only on the lowest level. Dasha Zhukova's successful new art gallery Garage, a construction by Melnikov with a roof by Vladimir Shukhov, has gone some way to promote his significance within Russia." (Hier noch Fotos von den Arbeiterclubs Svoboda und Rusakov)

Welt, 03.06.2010

Die Artikel der Welt scheinen nur noch in den Iphone-Apps zugänglich zu sein. Zu verlinken waren sie heute morgen jedenfalls nicht mal für Kenner.

Bald gibt es womöglich zwei Frauen in den höchsten Ämtern, und es fühlt sich gar nicht so aufregend an. Pete Praschl fragt im Aufmacher, ob hierin die eigentliche Sensation liegt. Andreas Rosenfelder wundert sich, dass die Popkritik (gerade die diskurslastige) mit Lena Meyer-Landrut nichts anzufangen weiß. Berthold Seewald spürt in der Glosse Politikeräußerungen nach, die auf eine Verschiebung der Bauarbeiten für das Berliner Stadtschloss schließen lassen. Marko Martin kommt auf die akademischen Abschlussarbeiten des neuen Präsidenten der Humbodt-Uni, Jan-Hendrik Olbertz zurück und findet den aufwendigen marxistisch-leninistischen Theorieschwulst darin keineswegs nur der Zeit geschuldet - weniger wäre möglich gewesen. Die Autorin Kathrin Schmidt gratuliert der Villa Massimo in Rom zum hundertjährigen Bestehen.

TAZ, 03.06.2010

Uwe Mattheiss stellt die mit den Theaterformen in Braunschweig koproduzierte Installation "Exhibit A: Deutsch-Südwestafrika" des südafrikanische Theatermachers Brett Bailey vor, die jetzt bei den Wiener Festwochen im Völkerkundemuseum zu sehen war. "Jetzt schauen die Exponate zurück. Baileys Mitspieler aus Namibia, aber auch in Deutschland und Österreich lebende AfrikanerInnen entwerfen lebende Bilder, die sich auf den ersten Blick kaum von den Arrangements unterscheiden, in denen völkerkundliche Sammlungen noch heute ihre Fund- und Beutestücke dem Publikum präsentieren. Selbst die Texttafeln daneben ahmen präzise die pseudoobjektive Kuratorensprache aus den einschlägigen Institutionen nach."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst der indischen Ureinwohner im Pariser Musee du quai Branly, Oren Movermans Regiedebüt "The Messenger" über zwei Männer, die den Angehörigen von im Irak gefallenen Soldaten die Todesnachricht überbringen, Vincenzo Natalis Horrorfilm "Splice" mit Zwitterwesen aus Mensch und Tier, der dritte Film der in Deutschland lebenden mongolischen Filmemacherin Byambasuren Davaa "Das Lied von den zwei Pferden" und die DVD von Claude Lanzmanns "Sobibor, 14. Oktober 1943".

In tazzwei informiert Andreas Speit über den Ausschluss unbequemer Journalisten vom Parteitag der NPD. Maik Nolte stieß auf Judenhetze im Netz, nachdem Israel Lena beim Songcontest mit null Punkten bedachte. Frank Schäfer besuchte das Abschlusskonzert der Abschiedstournee der Scorpions in Hannover. Auf der Medienseite klagt "STG" über die proisraelische Tendenz der Berichterstattung in Springer-Medien.

Und Tom.