22.06.2010. Mit Wehmut erinnert sich die NZZ an die investigativen Qualitäten des DDR-Fernsehens... in den paar Monaten vor der Selbstauflösung. In der Berliner Zeitung erklärt Bernd Neumann, dass er weiter wacker fürs Berliner Stadtschloss kämpft, auch wenn es eine große Mehrheit nicht besonders interessiert. In der FR informiert Charles Taylor: Auch in Kanada gibt es sogenannte Islamkritiker. Die FAZ beneidet die Norweger: Ein ganzer Staat macht Gewinn. In der SZ kritisiert die Ethnologin Ingrid Thurner die Fastnacktheit der Europäerinnen.
NZZ, 22.06.2010
Im Medienteil
erinnert sich Christian Hunziger daran, dass auch das
DDR-Fernsehen - wenn auch erst seit September 1989 - durchaus kreativ,
investigativ und progressiv sein konnte. Aufregend, aber nicht einfach sei diese "anarchische" Lösung vom Propagandafernsehen gewesen, weiß auch der ehemalige stellvertretende Chefredakteur Reinhard Grieber: "Spannungsfrei war diese Zeit natürlich nicht. In Vertrauensabstimmungen entschieden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das Schicksal ihrer Vorgesetzten. 'Da wurden auch welche nach Hause geschickt', sagt Griebner. Immerhin waren 1987 laut der Wissenschafterin Wolff von den 347 Mitarbeitern im Bereich der für politischen Journalismus zuständigen Fernsehpublizistik fast die Hälfte Mitglied oder
Kandidat der SED gewesen. Gerade ältere Kollegen seien durch die neue Freiheit zutiefst verunsichert gewesen und hätten schon fast
um Anweisungen gebettelt, berichtet Griebner. Doch die bekamen sie von ihm nicht: 'Mir war es lieber, das Falsche zu tun als gar nichts.'"
Außerdem: Im Feuilleton denkt Uwe Justus Wenzel über
Judiths Butlers "verquere" Äußerungen zu rassistischen Statements in "homonationalen" Kreisen nach (
mehr dazu in der taz). Auch nach seinem Tod sorgt
Jose Saramago noch für
Polemik, berichtet Thomas Fischer: Präsident Cavaco Silva und Parlamentspräsident Gama blieben der Trauerfeier fern und das Vatikan-Blatt
L'
Osservatore Romano erinnert an einen "
extremistischen Populisten". Nach dem Ausbruch des Vulkans
Eyjafjalla soll nun ein anderer Gletscher in Island durch eine
Lichtinstallation zum Mahnmal gegen den Klimawandel werden, berichtet Aldo Keel. Der serbische Schriftsteller Bora Cosic
erinnert an den "Erotiker des Lebens"
Bogdan Bogdanovic.
Besprochen werden die "eruptive, archaisch-wilde"
Uraufführung der Choreografie "Continu" von
Sasha Waltz im
Zürcher Schiffbau und Bücher, darunter
Christa Wolfs "Stadt der Engel" (mehr dazu in unserer
Bücherschau hete ab 14 Uhr)
SZ, 22.06.2010
Auf der Seite drei prüft Eva-Elisabeth Fischer in Wuppertal, wie es weitergeht mit
Pina Bauschs Tanztheater: "Der Politiker Jung spricht von einem plötzlichen Machtvakuum und davon, dass man
Identitäten neu kreieren musste, immer unter der Vorgabe, dass Bauschs Nachlass
unantastbar sei."
Nicht die
muslimischen Frauen mit Kopftuch sind unterdrückt, sondern die
westlichen,
schreibt die
Ethnologin Ingrid Thurner im Feuilleton. Die wollen mit ihren Protesten gegen das Kopftuch nur davon ablenken, "dass sie an Geschlechtergerechtigkeit nicht viel mehr erreicht haben als
weibliche Fastnacktheit in fast allen öffentlichen Räumen und sprachlich unschöne
Binnen-Is in diversen Diskursen und Druckwerken." Die
SZ-Redakteurinnen bedanken sich.
Außerdem: Ira Mazzoni berichtet von Protesten gegen das Vorhaben der sächsischen Regierung "schätzungsweise
80 Prozent der derzeit anerkannten
Kultur-Denkmale ... aus der besonderen Fürsorgepflicht des Staates [zu] entlassen" (
mehr dazu von Nikolaus Bernau in der
Berliner Zeitung). Jörg Häntzschel stellt
"Treme" vor, die neue Fernsehserie des "The Wire"-Autors
David Simon. Roswitha Budeus-Budde war bei einer Tagung über "Jugendliteratur
ohne Tabus" in der Evangelischen Akademie in Tutzing. Burkhard Müller erinnert an das erste Kopiergerät von
Xerox vor fünfzig Jahren.
Besprochen werden
Sasha Waltz' Choreografie "Continu" bei den Zürcher Festspielen,
Kristof Schreufs CD "Bourgeois With Guitar", die
Comic-
Ausstellung "Rude Britannia" in der
Tate Britain, ein frühes
Passionsoratorium von Bach mit den Thomanern und Bücher, darunter
Ingo Schulzes italienische Skizzen "Orangen und Engel" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Aus den Blogs, 22.06.2010
Thomas Knüwer
nimmt auf
Indiskretion Ehrensache ein Video auseinander, mit den
Zeitschriftenverleger bei Werbekunden werben, "Print wirkt". Zehn Behauptungen werden da aufgestellt, eine davon: "Zwei Drittel aller deutschen Journalisten arbeiten für Print." Und Knüwers Kommentar: "Stimmt. Aber schon vor den
Abbauwellen der vergangenen zwei Jahre ist ihre Zahl dramatisch gesunken - und immer weniger Journalisten können von ihrer Arbeit
leben."
Rudolf Maresch
unterhält sich auf
Telepolis mit Volker Oppman des E-Book-Anbieters
textunes über die Zukunft des elektronischen Publizierens: "Das Kuriose ist hier, dass der Vorreiter USA in Sachen multimedialer Formate dem alten Kontinent hinterherhinkt. Denn gerade die Größe von Marktteilnehmern wie Amazon oder Apple ist nämlich zugleich auch deren Schwäche - sie müssen nämlich zwangsläufig
auf Masse setzen, was wiederum ein hohes Maß an Standardisierung erfordert. Das heißt, neue, innovative
Impulse und Werkformen kommen von anderen - in England beispielsweise von
VOOK oder
Missing Ink Studios."
Wolfgang Michal
macht sich in
Carta Hoffnungen auf das Leistungsschutzrecht. Die Verlage werden es mit
Abmahnungen durchsetzen müssen, meint er: "Schon bald nach den ersten Abmahnwellen (und den flächendeckend zugestellten Abgabenbescheiden) könnten sich die Pressekonzerne einer
Boykottbewegung gegenüber sehen, die kräftig an der Rendite nagt. Das Leistungsschutzrecht könnte also den Medienwandel (unfreiwillig) beschleunigen und einen
positiven Effekt auf das Netz ausüben."
Mehr zur Online-Strategie dr Verlage auch bei
neunetz.
Carta
zitiert auch aus einer Rede
Horst Köhlers zum Jubiläum der
Bundespressekonferenz, die nun endlich verständlich macht, warum die Presse ihn so
ungnädig verabschiedet hat. Gesagt hat er: "Verleger und Redaktionen sollten
innere Einkehr halten. Und sie werden verstehen, dass am Anfang der deutschen Pressekrise die Qualitätskrise steht; die
sinkende Leistung so vieler Zeitungen, die es zuwege gebracht haben, dass das Publikum sich mit ihnen
langweilt, statt anzuregen. Die Zeit für eine
innere Reform der deutschen Presse, einen Prozess der Selbstreinigung, ist überreif."
Berliner Zeitung, 22.06.2010
Birgit Walter
unterhält sich mit Bundeskulturminister
Bernd Neumann (68), der sich auch zum verschobenen Baubeginn des Stadtschlosses äußert: "Es ist ja offenbar noch nicht gelungen, eine große Mehrheit für den Wiederaufbau des Schlosses zu gewinnen, geschweige denn für das Humboldt-Forum. Trotzdem
kämpfe ich für das Schloss."
Weitere Medien, 22.06.2010
Helen Mirren, die für das
New York Magazine nackt posierte,
erklärt dort auch ihre Bewunderung für
Lady Gaga: "I love the way she's elevated pop to performance art, or dragged performance art down to pop, or maybe made a wonderful amalgam of the two."
Welt, 22.06.2010
Erst das Albertinum, dann das Heimatdorf Waltersdorf bei Dresden. Auch hier hat
Gerhard Richter eine kleine Ausstellung, arrangiert vom ehemaligen Dresdner Studienkollege
Helmut Heinze. Kolja Reichert
begleitet ihn: "'Es ist so schön dass du gekommen bist, vielen Dank!', strahlt Heinze, während er dem alten Freund beide Hände drückt. Dem scheinen die Worte zu fehlen, er lacht nur, blickt unsicher in die Runde. Die Welt, in der er seit fünfzig Jahren unterwegs ist, verlangt einem Star Coolness ab, es gibt für jede Situation das richtige Verhalten."
Weitere Artikel: Tim Ackermann
kommentiert den Entschluss des berühmten Malers
Daniel Richter, wegen der verfehlten Hamburger Kulturpolitik von Hamburg
nach Berlin zu ziehen. Wieland Freund
macht sich Sorgen um die Amerikaner, die nun auch noch den trockenen Reizen der
sozialdemokratischen Schwedenkrimis a la Mankell zum Opfer zu fallen scheinen. Peter Beddies
besucht die
Pixar-Studios in Emeryville, wo Fortsetzungen bekannter Filme, aber offensichtlich wenig neue Ideen verwirklicht werden. Hanns-Martin Schönherr-Mann
liest einen Band mit späten Vorlesungen
Foucaults. Und Paul Jandl
schreibt zum Tod des Architekten und Bildhauers
Bogdan Bogdanovivic.
Auf der Meinungsseite
geht die Schauspielerin
Sema Meray recht kritisch mit der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland ins Gericht und fordert mehr
Mut zur Integration.
FR, 22.06.2010
In einem langen Gespräch
unterhält sich Christian Schlüter mit dem kanadischen
Philosophen Charles Taylor über Religion, Aufklärung und die
Säkularisierung. Einig sind sie sich, wenn es um die "sogenannten Islamkritiker" geht: "Die gibt es in Kanada auch. Erstaunlich ist vor allem, dass immer wieder Vertreter des liberalen Bürgertums in dieses Lamento verfallen. Man ist offen für alles mögliche, aber sobald die Rede auf die bei uns lebenden Muslime kommt, ist
Schluss mit lustig: Menschen islamischen Glaubens seien voraufgeklärt, hätten ein prekäres Verhältnis zur Gewalt, würden Frauen unterdrücken und ansonsten nur so tun, als passten sie sich unserer Kultur an. Mit anderen Worten, uns fallen immer sehr viele, mehr oder wenige gute Gründe ein, uns nicht eingehender mit Muslimen zu beschäftigen, statt darüber nachzudenken, was wir
von ihnen lernen könnten."
Weiteres: Auf der Medienseite erinnert Peer Schader die
ARD daran, dass sie mit ihren
Digitalsendern ein junges innovationsfreudiges Publikum ansprechen soll und nicht nur als "
Abspielplattform für die sowie so schon produzierten Programme" fungieren. In Times mager
widmet sich Sylvia Staude der Tier- und Menschenliebe.
Besprochen werden die
Ausstellungen der
Berlin Biennale (die Tobi Müller zeigte, wie schlecht sich in Kreuzberg die Wirklichkeit kuratieren lässt) und
Ismail Kadares neuer
Roman "Ein folgenschwerer Abend" (siehe auch unsere
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
TAZ, 22.06.2010
Tom Schimmeck
meldet in der
tazzwei personelle Veränderungen nach der
Machtergreifung der Leitmedien: "'Die Machtübernahme durch die Leitmedien', erläuterte Diekmanns Vorgänger Dirk Kurbjuweit (ex Spiegel) vor ausgewählten Schreibsoldaten im Cafe Einstein Unter den Linden, habe man 'eben hier' bei einem zufälligen Treffen führender Alpha-Journalisten '
spontan beschlossen'. Allen Anwesenden sei ein Putsch plötzlich 'als einzig logische Folge' ihrer Kommentare und insbesondere des
Spiegel-Titels vom 14. Juni ('Aufhören!') erschienen. 'Wir hatten Rot-Grün, Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb heruntergeschrieben. Jetzt mussten wir selbst ran.' Die 'Trümmerfrau Angela Merkel' habe ihn angesichts der '
Scherben ihrer Kanzlerschaft' persönlich um Ablösung gebeten. Seine Entscheidung, bereits nach wenigen Tagen ins zweite Glied zurückzutreten, erklärte Kurbjuweit mit 'notorischer Nachdenklichkeit': 'Ich bin
zu sensibel für die Führung einer Junta.'"
Der Wiener Aktionist und Kindsvergewaltiger
Otto Mühl , dem das
Leopoldmuseum gerade eine Ausstellung anlässlich seines 85. Geburtstags widmet, hat in einem offenen Brief seine Opfer um Entschuldigung gebeten, berichtet Isolde Charim und
stellt fest: "Eindeutig ist: das mit dem Tabubruch, das mit dem Überschreiten der Grenzen jener Ordnung, die damals '
Spießertum' hieß, hat nicht geklappt. Was die RAF im Politischen, das ist Otto Mühl im Sexuellen: der Punkt, an dem
die Sache mit der Befreiung in ihr Gegenteil kippt."
Weiteres: Frederik Caselitz
stellt die HipHop-Szene des in Drogenkriegen und Finanzkrise versinkenden
Mexiko vor. Besprochen wird eine
Ausstellung der Fotografin
Marianne Breslauer in der
Berlinischen Galerie.
Und
Tom.
FAZ, 22.06.2010
Matthias Hannemann gibt sich große Mühe, Dinge zu finden, die faul sind im glücklichen
Ölstaate Norwegen. Er kommt auf diese und jene Kleinigkeit, klagt über "Moralinsäure" und "Staatsgläubigkeit", kann dann aber doch nicht umhin, die beeindruckenden Zahlen zu nennen: "Ohne ein Energiegeschäft, aus dem ein Drittel der staatlichen Einnahmen stammt, gäbe es in Norwegen keinen
Fonds, in dem das Königreich für die Dürrezeiten spart. 2.833.149.959.935 Kronen ist dieser Fonds wert, war am Wochenanfang zu lesen. Eine Zahl, ebenso unvorstellbar wie jene auf der
Schuldenuhr in Berlin, die 1.721.285.211.786 Euro im Minus zeigt, während Norwegen umgerechnet
360 Milliarden Euro im Plus liegt."
Weitere Artikel: Aus Anlass des nun erschienenen Abschlussbands der zehnbändigen deutschen Ausgabe von
Neil Gaimans legendären "Sandman"-
Comics porträtiert David Gern Projekt und Autor. In der Glosse kommentiert Swantje Karich die Flucht des Künstlers
Daniel Richter von Hamburg Richtung Berlin aus Protest gegen die Hamburger Kulturpolitik (
mehr hier). Von der
Theaterbiennale in Mainz und Wiesbaden berichtet Tilman Spreckelsen. In eine erstaunliche Zahl von historischen und politischen Kontexten
bringt Jürg Altwegg das Auf und - derzeit doch eher: - Ab der
französischen Nationalmannschaft. Paul Ingendaay schreibt zum Tod der "bekanntesten kulturellen Figur des heutigen Mexiko", des Journalisten, Schriftstellers und Kinokritikers
Carlos Monsivais. Einen kurzen Nachruf auf den serbischen Architekten und Autor
Bogdan Bogdanovic hat Doris Lippitsch verfasst.
Sehr ausführlich unterhält sich auf der Medienseite Frank Schirrmacher mit
Spiegel-Chefredakteur
Matthias Müller von Blumencron über den Journalismus in der Internet-Ära, und zwar von den Compuserve-Anfängen bis zum iPad (
nicht diesem), das die Zeitungen und das verwirrte Hirn des Lesers retten soll. Und die
Geschäftsgrundlage im Netz? Hängt von der Frage ab, "wie entwickelt sich die
Werbung", meint Müller von Blumencron. "Bleibt das Vertrauen in etablierte Marken und Informationen, in hochwertige Qualität? Eine Zeitlang ging das wunderbar. Dann kam das Web 2.0. Am Anfang wurde es von der Werbeindustrie ignoriert, mittlerweile findet sie das interessant. Es ist also eine
gewaltige Konkurrenz an Werbefläche dazugekommen, das drückt auf die Preise."
Besprochen werden ein schwermetallisches
Gipfeltreffen der Bands
Megadeth,
Metallica,
Slayer und
Anthrax auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Milovice bei Prag,
Richard Jones'
"Meistersinger"-Inszenierung in Cardiff (Gina Thomas freut sich, dass der "ehemalige Regie-Revolutionär" Jones hier endlich "Regie-Vernunft" angenommen hat), die
Konrad-Zuse-Ausstellung im
Deutschen Museum, die Ausstellung "Cortazar, Onetti, Paz.
Suhrkamps großer Süden" in
Marbach und Bücher, darunter
Michael Scharangs Roman "Komödie des Alterns" (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).