Heute in den Feuilletons

Zitternde Nasenflügel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2010. Die Zeitungen hätten die Mohammed-Karikaturen abdrucken sollen, und zwar alle, meint der Philosoph Daniel Dennett im Tagesspiegel. Christian Wulff sollte aus dem Kuratorium der evangelikalen Organisation prochrist austreten, meint die Theologin Kirsten Dietrich im Deutschlandradio. Google hat einen Prozess gegen Viacom gewonnen und muss Videos nicht von Urheberrechtlern prüfen lassen, bevor sie hochgeladen werden, berichtet BoingBoing. In der FAZ befürwortet Gunnar Heinsohn einen Numerus clausus für Einwanderer. Die SZ ist gegen Kommunismus.

Tagesspiegel, 24.06.2010

Kai Kupferschmidt und Hartmut Wewetzer unterhalten sich mit dem ausgesprochen atheistischen Philosophen Daniel Dennett über die Tücken von Religion. Auch zu den Medien hat er etwas zu sagen: "Im Übrigen: Ich glaube, die Welt hat eine hervorragende Gelegenheit verpasst, als die Mohammedkarikaturen erschienen. Ich glaube, jede Zeitung, jedes Magazin, jede Nachrichtensendung hätte sofort diese Bilder zeigen sollen. In Wirklichkeit war das doch eine Machtergreifung der radikalen Muslime. Die liberalen Muslime, die in der Mehrheit sind, wollten unbedingt, dass wir etwas tun, aber wir haben nichts unternommen und so haben wir den besten Elementen im Islam den Teppich unter den Füßen weggezogen."

Weitere Medien, 24.06.2010

Frank Meyer führt für Dradio Kultur ein instruktives Gespräch mit der Theologin Kirsten Dietrich über Christian Wulff und seine Kuratoriumsmitgliedschaft bei der evangelikalen Bewegung prochrist. Da sollte er als Präsidentschaftskandidat austreten, findet sie: "Diese Religionen haben irrationale Elemente, und vor allen Dingen vertreten sie eine Eigengesetzlichkeit, die sagt, letztendlich ist Gott die höchste Autorität, die wir haben. Dafür stehen diese Gruppen. Und dafür steht aber meines Erachtens nicht der Bundespräsident - der sollte dafür stehen, dass wir in einem Rechtsstaat leben und dass da die Autorität liegt. Und deswegen finde ich es nicht richtig, ich finde es sogar nötig, dass Christian Wulff von diesem Amt zurücktritt." Hier noch eine mp3-Datei mit Stimmen aus Internetmedien (leider ohne Perlentaucher, der sich hier äußerte) zum Thema

Aus den Blogs, 24.06.2010

Google hat einen wichtigen Prozess geegen den Medienkonzern Viacom gewonnen und muss demnach nicht jedes private Video von Urheberrechtlern prüfen lassen, bevor es hochgeladen wird. Cory Doctorow erinnert in BoingBoing an hollywoodreife Intrigen während des Prozesses: "The lawsuit has been a circus. Filings in the case reveal that Viacom paid dozens of marketing companies to clandestinely upload its videos to YouTube (sometimes 'roughing them up' to make them look like pirate-chic leaks). Viacom uploaded so much of its content to YouTube that it actually lost track of which videos were 'really' pirated."

Blogger Deef Pirmasens fand die Idee der Welt kompakt, die Zeitung einen Tag lang ausschließlich von Bloggern schreiben zu lassen, eigentlich ganz lustig und fühlte sich erstmal geschmeichelt über die Anfrage der Redaktion, ob er nicht mitmachen wolle: "Dann erfuhr ich auf Nachfrage, dass die Welt kompakt zwar gerne meine Arbeitsleistung zur Befüllung ihrer Spezialausgabe hätte, dafür aber nichts bezahlen möchte."

Henryk M. Broder schreibt in der Achse des Guten eine kleine Hommage auf Joachim Gauck: "Der Ossi aus Rostock hat nicht nur die DDR unbeschädigt überstanden, er widerlegt auch alle Klischees, die an einem evangelischen Geistlichen haften. Er ist ein Charmeur und Genießer, dem Frauen zu Füßen liegen; ein großartiger Redner, der auch in hitzigsten Debatten die Nerven nicht verliert, ein pragmatischer Moralist, der nichts von anderen fordert, wozu er selber nicht bereit wäre, unverschämt ehrlich und schamlos gradlinig. Dass das 'dumme' Volk so einen gerne als Bundespräsidenten hätte, zeigt immerhin, dass es klüger ist als seine Vertreter, die auf einen biederen Berufspolitiker setzen."

In seinem jetzt auf Evangelisch.de residierenden Altpapier singt Matthias Dell dem "vielleicht größten lebenden Mediennewsaggregator aller Zeiten" ein Ständchen: Rüdiger Dingemann und seinem Perlentaucher-Medienticker.

NZZ, 24.06.2010

Von heftigen Verwerfungen in der russischen Kunstszene berichtet Sonja Margolina: Staats- und kirchenkritische Künstler haben sich mit dem Künstler Ilja Truschewski solidarisiert, der eine minderjährige Studentin vergewaltigt haben soll und sich jetzt auch noch unter dem Beifall etlicher Blogger und Künstlerkollegen über sie lustig macht. "Der Krieg aller gegen alle und das Putinsche Willkürregime sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die moralische Unterstützung für Truschewski zeigt, dass zumindest ein Teil der zeitgenössischen russischen Kunstszene den gesellschaftlichen und politischen Machtexzess sexy findet und bereit ist, daraus Kapital zu schlagen."

Belgien kulturpolitische Absurditäten erklärt der flämische Schriftsteller Erwin Mortier: Im flämischen Kampf um Gleichstellung sei Kultur das Symbol schlechthin, somit führen die wallonischen Kulturgüter -wie das Königliche Museum der Schönen Künste - ein entsprechend verwaistes Dasein. "Mit Ernüchterung stellt man vierzig Jahre später fest, dass die flämische Gemeinschaft zwar mit ungefähr dreißig Ländern kulturelle Abkommen geschlossen hat - darunter mit Riesen wie China und Indien -, dass aber gleichzeitig eine ähnliche Übereinkunft zwischen Flandern und Wallonien noch immer auf sich warten lässt."

Außerdem: Joachim Güntner hofft, dass Norbert Gstreins "Schlüsselroman" über Ulla Unseld-Berkewicz, "Die ganze Wahrheit", keine juristischen Konsequenzen hat. Besprochen werden ein prominent besetzter Liederabend mit Schumann und Schubert in Schwarzberg, Rebecca Millers Verfilmung ihres eigenen Erfolgsromans "The private lies of Pippa Lee" und Christine Pitzkes Roman "Der Sommer, in dem Folgendes geschah" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 24.06.2010

Werner Bloch besucht Minsk, die Hauptstadt der letzten Diktatur Europas und hat sich trotz allem recht wohl gefühlt: "Insgesamt ein Leben, das anderen Metropolen erstaunlich ähnelt - und, ja, Minsk ist eine wunderschöne Stadt. Stalinbarock nennt man die Architektur im Zentrum, aber das ist ungerecht. Es ist eher ein Rokoko, durchaus geschmackvoll, und verglichen mit anderen, früher völlig zerstörten Städten in Osteuropa ein ansehnliches Ensemble. Sieht man vom Palast der Republik ab, der an eher an Pjöngjang erinnert."

Weitere Artikel: Kurz vor Klagenfurt spricht Elmar Krekeler mit dem Creative-Writing-Professor Hanns-Josef Ortheil über die Schwierigkeiten, noch literarischen Nachwuchs zu finden ("unsere abgezockten Studenten schreiben sowieso nur noch Dramen. Die werden noch während der Niederschrift aufgeführt, und man verdient damit schnelles Geld") Gerhard Midding gratuliert Claude Chabrol zum Achtzigsten. Wieland Freund verweist auf britische Debatten um Sharon Dogars Roman "Annexed", der Anne Frank eine sexuelle Beziehung andichtet (mehr hier im Guardian).

Besprochen werden Stephan Elliotts Komödie "Easy Virtue" und Jakob Heins Stück "Johnny Chicago" mit Kurt Krömer in der Hauptrolle.

Auf der Forumsseite erklärt der Autor Volker Demuth, warum er an einen zyklischen Fortschrittsbegriff glaubt.

FR, 24.06.2010

Ganz und gar einzigartig findet Arno Widmann die Ausstellung über Pharao Sahure (2490 bis 2475) im Frankfurter Liebighaus. Welche Feinheit der Bildhauerkunst! "Der Besucher muss nahe herangehen, um zu sehen, wie genau die Handwerker vor viereinhalb Jahrtausenden arbeiteten. Zitternde Nasenflügel wurden aus dem Stein geschlagen. Die Federn eines Kopfschmucks, die feinsten Zweige eines Baumes. Man wird heute kaum jemanden finden, der das so gut kann. Es muss damals aber Tausende Bildhauer gegeben haben."

Weiteres: Christian Thomas erklärt in Times mager die neurophysiologischen Probleme des Torwarts vor dem Elfmeter: "Um auf einen Schuss von diesem, wie es oft heißt, ominösen Punkt zu reagieren, braucht es für den Willensruck in etwa den milliardensten Teil einer Sekunde." Daniel Kothenschulte gratuliert Claude Chabrol zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite meldet Daniel Bouhs, dass CNN der Agentur AP gekündigt hat und künftig selbst Nachrichten verkaufen will.
 
Besprochen werden Terence Kohlers Tanzkrimi "La Bayadere in München, das Anden-Drama "Altiplano" von Peter Brosens und Jessica Woodworth sowie ein Sammelalbum "Yes we can" mit Lieder über das verlassen Afrikas.
Stichwörter: AP, CNN, Widmann, Arno, Chabrol, Claude

TAZ, 24.06.2010

Cristina Nord feiert die langen Filme des außereuropäischen Kinos. Der philippinische Regisseur Lav Diaz oder der chinesische Filmemacher Wang Bing bringen es oft auf mehrere Stunden, arbeiten mit langen Einstellungen erzählen so von anderen Zeithorizonten und von Gesellschaften, in denen die vorindustrielle Erfahrung noch präsent ist: "'Erst mit den spanischen Kolonisatoren', sagt Diaz, 'hielt die Reglementierung der Zeit Einzug. Um sechs Uhr morgens muss man die oracion beten, um sieben Uhr zu arbeiten anfangen und so weiter. Aber wenn man sich heute auf den Philippinen umsieht, sieht man, dass die Filipinos immer noch viel rumhängen.'"

Besprochen werden die Ausstellung "Das Fundament der Kunst" im Arp Museum Rolandseck und die Show "Johnny Chicago" mit Kurt Krömer und Jakob Hein in der Berliner Volksbühne.

Und Tom.

FAZ, 24.06.2010

Der Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn macht knallharte Rechnungen auf zu den Chancen und Risiken von Ein- und Auswanderung im demografisch schwer gefährdeten Sozialstaat Deutschland: "Von hundert Nachwuchskräften, die das Land benötigt, werden fünfunddreißig nie geboren, wandern zehn aus und schaffen fünfzehn keine Berufsausbildung. ... Die 160.000 Auswanderer, die Deutschland jährlich verlassen, nehmen 80.000 Hartz-IV-Müttern mit jeweils zwei Kindern den Versorger. Denn eine solche Mutter kostet bis zum fünfzigsten Lebensjahr 415.000 Euro, also die Steuern von zwei Vollerwerbstätigen." Heinsons Schlussfolgerung: Es ist höchste Zeit für viel stärkere Qualitätsauslese bei der Einwanderung: "Erfolgreiche Einwanderungspolitik ... ist scharf antirassistisch, achtet aber streng auf Qualifikationen."

Weitere Artikel: Der Politologe Peter Graf Kielmansegg erklärt, warum Kurt Biedenkopf völlig recht hat mit seiner Forderung zur völligen Freigabe der Präsidentenwahl. In der Glosse kann Dirk Schümer mit dem lateinische Sprüche klopfenden flämischen Nationalisten Bart de Wever schon lange mithalten. In der WM-Kolumne lobt wiederum Schümer die schlechten Schiedsrichter, weil sie das Spiel so viel näher ans wahre Leben rücken. Von einem Vortrag des Informatikers David Gelernter, zu dem die FAZ miteingeladen hatte, berichtet Michael Hanfeld. (Online gibt es einen längeren Text dazu von Thomas Thiel.) Gina Thomas schreibt einen kurzen Nachruf auf den Philosophen Anthony Quinton. Auf der Kinoseite unterhält sich Rüdiger Suchsland mit dem Regisseur Andrei Ujica, der aus tausend Stunden Dokumentarmaterial ein kommentarloses Porträt des Diktators Nicolae Ceauscescu montiert hat (hier die Kritik von Verena Lueken nach der Aufführung in Cannes).

Besprochen werden die in Moskau zu sehende Dokumentartheateraufführung "Eine Stunde, achtzehn Minuten", die vorführt, wie es in russischen Gefängnissen zugeht (mehr dazu in der Berliner Zeitung), die Münchner Uraufführung von Terence Kohlers kriminalliterarisch inspirierter Choreografie "Serie Noire", eine Ausstellung junger italienischer Kunst in der Berliner Botschaft Italiens (mehr hier als pdf), Seyfi Teomans Debütfilm "Summer Book", neue Einspielungen der Sinfonien von Sergej Tanejew, und Bücher, darunter Erich Loests neue Erzählung "Wäschekorb" und Ingrid Buchlohs Versuch, den NS-Regisseur "Veit Harlan" in einem günstigeren Licht darzustellen (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 24.06.2010

An der Berliner Volksbühne findet an diesem Wochenende eine große Kommunismus-Konferenz statt. Jens Bisky versteht in der Angelegenheit eher keinen Spaß, für ihn hat die Geschichte den Kommunismus unrettbar ruiniert: "Den Jakobinern wird man wenigstens die entschädigungslose Abschaffung der Feudallasten als historische Leistung zugute halten wollen. Und den Kommunisten? Wurden nicht überall, wo sie an die Macht kamen, der Mehrheit Freiheit, Bürgerrechte und Wohlstand auf der Höhe des Möglichen verwehrt? Fand nicht in allen 'Diktaturen des Proletariats' Fortschritt nur als Fortschritt vom Kommunismus weg statt? Besteht nicht das emanzipatorische Erbe dieser Länder im Abschütteln des kommunistischen Jochs?"

Weitere Artikel: Laura Weissmüller kann melden, dass der rechte Römer Bürgermeister Gianni Alemanno nun immerhin eine Mauer des ihm schon immer zuwidren, von Richard Meier erbauten Museums der Ara Pacis abreißen lassen darf. Den mit dem Filmmusikpreis des br ausgezeichneten Hollywood-Komponisten Howard Shore stellt Helmut Mauro näher vor. Susan Vahabzadeh gratuliert dem Regisseur Claude Chabrol in einem umfassenden Porträt auf der ersten Seite zum Achtzigsten. Glückwünsche gibt es auch für den Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens, der siebzig wird.

Besprochen werden ein Konzert-Marathon mit Bruckner-Sinfonien der von Daniel Barenboim dirgierten Berliner Staatskapelle, Terence Kohlers Münchner Uraufführung seiner "Serie Noire"-Choreografie, der "Johnny Chicago"-Abend mit Komiker Kurt Krömer an der Berliner Volksbühne, der Anden-Spielfilm "Altiplano" und Stephan Elliotts Noel-Coward-Adaption "Easy Virtue" sowie Bücher, darunter Anna Mitgutschs Roman "Wenn du wiederkommst" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 24.06.2010

Konservatismus hat Konjunktur, stellt die Zeit mit Entsetzen fest (wofür ihr Joachim Gauck ein Beleg ist!) und rückt dem Gegner von drei Seiten zuleibe: Jens Jessen enthüllt seine fundamentalsten Wahrheiten ("Der Konservative fürchtet den Fortschritt", "Der Konservative ist kein Reaktionär"), Florian Illies erklärt das Phänomen Karl-Theodor zu Guttenberg, und Ijoma Mangold inspiziert den Gefühlshaushalt des Konservativen.

Weitere Themen: Andreas Isenschmid besucht Patrick Modiano, dessen Erstling "Place de l'Etoile" von 1968 nun auf Deutsch erscheint. Florian Illies ist mit der Neugestaltung des Dresdner Albertinums unzufrieden, die Geschichte der sächsischen Kunst werde hier nicht schlüssig erzählt. Bartholomäus Grill vermisst ein klärendes Wort Sepp Blatters über das Verhältnis der Fifa zum Apartheid-Regime. Tobias Timm spricht mit dem Fotokünstler Jeff Wall, dem die Dresdner Kunstsammlungen derzeit eine große Ausstellung widmen. Stefan Hentz unterhält sich mit Herbie Hancock über den Frieden, die Macht der Musik und seine CD "The Imagine Project" (hier kann man die Stücke hören). Peter Kümmel bestaunt die Metamorphose der Bunzreplik in Schland. Evelyn Finger schreibt den Nachruf auf Portugals Großschriftsteller Jose Saramago.

Besprochen werden Seyfi Teoman türkischer Film "Summer Book" und Bücher, darunter Hans Joachim Schädlichs Roman "Kokoschkins Reise" und ein Lexikon der Vertreibungen (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im vorderen Teil reist Andrea Böhm fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit durch den Kongo. Im Dossier befasst sich Sabine Rückert mit Jörg Kachelmann, der seit drei Monaten in Untersuchungshaft sitzt, obwohl die Beweise gegen ihn bröckeln.