Heute in den Feuilletons

Traum unserer Gene

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2010. In der Welt gibt Annabella Weisl, Chefin von Google Books Deutschland, Entwarnung: Es wird immer Bücher im Regal geben. Die SZ erlebt in Pakistan, wie ratlos die dortigen Intellektuellen den religiösen Fanatikern gegenüber stehen. Die taz erinnert an den Deluxe-Dandy Sebastian Horsley. Die NZZ porträtiert mit Milena Michiko Flasar ein prekäres, aber zweifellos auch großes literarisches Talent. Die FAZ entdeckt Lücken im Demokratie-Export für Afghanistan.

NZZ, 03.07.2010

Für Literatur und Kunst hat Karl-Markus Gauß Milena Michiko Flasars Buch über die Alzheimer Erkrankung ihrer Mutter gelesen und erlebt ein "prekäres", aber zweifellos auch großes Talent: "Auch das kann es geben, ein Buch, quälend reich an betulichen und altklugen Passagen, das man am Ende doch in dem sicheren Gefühl aus der Hand legt, gerade etwas ungewöhnlich Schönes gelesen zu haben. Je nachdem, ob der Ärger oder die Begeisterung überwiegt, wird man sagen, dass seine Verfasserin, die im österreichischen St. Pölten geborene Milena Michiko Flasar, erst dreissig oder immerhin bereits dreißig Jahre alt ist. So fein und aufmerksam weiss sie zu beobachten, so poetisch und überraschend zu formulieren, dass man die Welt, die sie schildert, verwundert aus ihren Augen zu betrachten beginnt; doch auf innige Episoden, stimmige Bilder folgen Passagen, die weniger von schöner Naivität als von intellektueller Schlichtheit zeugen."

Außerdem: Judith Klein schreibt zum 100. Geburtstag von H. G. Adler. Dolf Oehler überlegt, inwiefern Flauberts "Leiden an der Dummheit der Menschen" ihn schriftstellerisch produktiv machte.

Im Feuilleton ist Andrea Köhler ein bisschen traurig, dass der Vergnügungspark Coney Island jetzt modernisiert werden soll. Der Biochemiker Gottfried Schatz erklärt, dass auch wir Einfluss auf unsere Gene haben: "Wenn wir ins Leben treten, sind wir nicht Sklaven, sondern Traum unserer Gene." Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider ärgert sich über die phantasielose Bezeichnung Europas als "Schicksalsgemeinschaft". Die Tories geben sich plötzlich grün, meldet Marion Löhndorf. Besprochen werden Bücher, darunter Michel Onfrays bisher nur auf Französisch erschienene Abrechnung mit Freud "Le crepuscule d'une idole" und Michela Murgias Roman "Accabadora" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 03.07.2010

In seiner allmonatlichen "Weltinnenpolitik"-Kolumne macht sich nun auch Ulrich Beck Gedanken zur BP-Havarie und anderen ökologischen Zusammenhängen: "Jetzt allein auf BP einzuprügeln, ist billig. Deep Water Horizon ist das Symbol des schleichenden Niedergangs eines Weltexperimentes, eines Wachstumsmodells, das auf der Ausbeutung fossiler Ressourcen beruht und angesichts der ökologischen Krisen und des Klimawandels nun das Selbstvertrauen der Menschheit auf eine nicht reparable Weise erschüttert. Und die Pointe ist: Keiner kann sagen, er habe es nicht gewusst."

Weitere Artikel: Stefan Keim verabschiedet den seiner Ansicht nach gescheiterten Bochumer Theaterintendanten Elmar Goerden und ist zuversichtlich, dass sein Nachfolger Anselm Weber viel frischen Wind bringen wird. In ihrer US-Kolumne hat Marcia Pally jetzt nicht nur in groben Zügen den Fußball, sondern auch die Sache mit den Fahnen verstanden: Es geht um sexuelle Präferenzen.

Besprochen werden Christian Spucks Stuttgarter "Poppea//Poppea"-Choreografie in Stuttgart, ein Konzert des Arcanto-Quartetts auf Schloss Johannisberg, Kylie Minogues neues Album "Aphrodite" und Bücher, darunter Dorothee Elmingers Debütroman "Einladung an die Waghalsigen" und Marc Males' Noir-Comic "Die Packard Gang" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 03.07.2010

Klaus Walter erinnert sich an eine Begegnung mit dem britischen Deluxe-Dandy Sebastian Horsley, der vor ein paar Wochen starb, wie er lebte, nämlich an einer Überdosis Heroin: "Das High konnte er so schildern, dass man selbst Appetit bekommt. Reden tat er wie einer, der weiß, was auf ihn zukommt: 'Leute nehmen Drogen, weil Drogen funktionieren. Wenn eine Droge schon Ecstasy heißt, dann ist das Programm. Gäbe es eine Droge, die Despair heißt, du nimmst sie, endest in der Gosse und begehst Selbstmord, nein, das funktioniert nicht. Wenn du zu viel Drogen nimmst, dann stirbst du halt. So what! Es ist nur der Tod, nicht das Ende der Welt.'"

Weitere Artikel: Dirk Knipphals versucht das Ausmaß jenes Problems für die auswärtige Kulturpolitik zu umreißen, das den Namen Guido Westerwelle trägt. Im Anschluss an Judith Butler denkt Tülin Duman noch einmal über Rassismus in der schwullesbischen Community nach. Über Abzieh-Tattoos als heißester Modescheiß in Paris informiert Annabelle Hirsch. Katrin Bettina Müller stellt das von Künstlern mit Kreuzberger Schülern organisierte Theaterprojekt "X-Schulen" vor. Auszüge aus Gottfried Benns Briefen präsentiert Holger Hof, der gerade an einer Biografie des Dichters schreibt. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne interessiert sich Doris Akrap für Kleinbürger als Spione für Russland. Helmut Höge spekuliert übers nächtliche Eigenleben der Arbeitsgeräte in der taz-Redaktion.

Auf den vorderen Seiten diskutieren die Israel-Kritikerin Iris Hefets und Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden über Antisemitismus, Kritik an Israel und die Situation im Nahen Osten allgemein.

Besprochen werden und Bücher, darunter Mariana Lekys Roman "Die Herrenausstatterin" und Olivier Roys neueste Religionsstudie (Leseprobe) "Heilige Einfalt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 03.07.2010

Im Feuilleton feiert Silke Hohmann die von John Bock kuratierte Abschlussausstellung "FischGrätenMelkStand" der Temporären Kunsthalle in Berlin: "Der Künstler geht hervorragend mit den Arbeiten anderer Künstler um. Er gruppiert sie nach von ihm selbst erdachten Untertiteln: 'Schwarze Suppe im Tinnitus' ist ein fragiles Zusammenspiel aus einer Installation von Nina Canell und einer Wandarbeit von Ingrid Wiener, 'Mutter Tod mit Pepperoni' heißt das Duett von Martin Kippenberger und Heimo Zobernig: Die Wände sind gepflastert mit verkohlten Salamipizzen, dazwischen ein Restaurantteller mit typischer Kippenberger-Quatschinschrift, gegenüber ein Porträt des Künstlers, gekritzelt von Kollege Zobernig."

Außerdem: Sebastian Hammelehle stimmt sich mit Pablo Alabarces' argentinischer Soziologie "Für Messi sterben" auf das heutige Spiel ein. Manuel Brug befasst sich mit der Personalie Kent Nagano, dessen Vertrag zumindest nach Brugs Informationen nun doch verlängert werden soll.

Jacques Schuster begibt sich für die Literarische Welt auf fremdes Terrain und interviewt Annabella Weisl, Chefin von Google Books Deutschland, zum Stand der Digitalisierung und den Plänen für die cloud-basierte Google Edition, mit der sich Google als Anbieter in den Vertrieb begeben will. Was die Zukunft des Buches betrifft, kann Weisl, Schuster beruhigen: "Es wird verschiedene zusätzliche Formate des Buches geben. Derjenige, der wissenschaftlich arbeitet, wird seinen Handapparat online in der cloud haben. Am Strand wird sich auch in Zukunft das Taschenbuch bewähren. In der Küche würde ich ein gedrucktes Kochbuch einem iPad vorziehen. Das sinnliche Erlebnis mit der gebundenen Ausgabe eines Romans vor dem Kamin zu sitzen, lässt sich mit einem Laptop nur schwer abbilden. Darüber hinaus wird es immer Bücher geben, die für die eigene Biografie stehen. Diese Bücher kommen nach wie vor in das Regal."

Weiteres: Ulrich Weinzierl schreibt zum Hundertsten von H.G. Adler. Zu Gustav Mahlers 150. Geburtstag fragt Klaus Schultz bang: "Ist er, nun als eine der Jahrhundertgestalten, im Kulturbetrieb nicht um seine Intentionen, seinen Stachel gebracht?" Besprochen werden unter anderem als Bücher der Woche Philip Larkins "Jill" und Kingsley Amis' "Jim im Glück", Jose Saramagos letzter Roman "Die Reise des Elefanten" sowie Shlomo Sands Band "Die Erfindung des jüdischen Volkes".

FAZ, 03.07.2010

Für die letzte Seite schickt Friederike Böge eine Reportage aus Afghanistan. Nicht immer klappt es mit dem Demokratie-Export, hat sie zum Beispiel beim Medien-Workshop gelernt: "'Auf einer Skala von eins bis zehn', sagte die Moderatorin. 'Wie schwer ist es für euch, Informationen von den Taliban zu bekommen?' Fast alle Journalisten stellten sich in die Nähe des Zettels mit der Eins. Sehr leicht. 'Und wie schwer ist es für euch, Informationen von den internationalen Truppen und Hilfsorganisationen zu bekommen?' Die Journalisten bewegten sich in Richtung Zehn. Sehr schwer."

Martin Otto ärgert sich über eine blödsinnige Bemerkung des Linke-Abgeordneten Diether Dehm, der nach der Wahl des Bundespräsidenten einen Reporter anfuhr: "Was würden Sie denn machen, gesetzt, Sie hätten die Wahl zwischen Stalin und Hitler?" (mehr in der FR) Jürgen Dollase isst in Karlheinz Hausers Restaurant "Seven Seas". Dass Kent Nagano nicht mehr in München gewollt wird, findet Gerhard Rohde enttäuschend. Andreas Rossmann berichtet über die Eröffnung des Festivals Theater der Welt in Mülheim an der Ruhr. Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg über die Entlassung zweier Satiriker beim Staatssender France Inter, nachdem Nicolas Sarkozy sich über sie beschwert hatte.

In Bilder und Zeiten sucht Julia Spinola die jüdischen Wurzeln in Gustav Mahlers Musik. Hannes Hintermeier besucht die im Umbau befindliche Vatikanische Bibliothek. Kerstin Holm besucht einen deutschen Soldatenfriedhof in der russischen Stadt Belgorod, den der amerikanische Forscher Matthew Abicht mit Hilfe von Satellitenbildern entdeckt hat. Und Harrison Ford erklärt im Interview, warum er fast nie ins Kino geht: "In meinem Alter mag man auch einfach nicht mehr so oft aus dem Haus."

Besprochen werden die Roy-Lichtenstein-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, CDs von Dead Weather, Tom Gaebel, Jack Johnson (hier) sowie eine Aufnahme des iranischen Dastan-Ensembles und Bücher, darunter Marketa Pilatovas Roman "Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Frieder von Ammon Goethes Gedicht "In tausend Formen magst du dich verstecken" vor:

"In tausend Formen magst du dich verstecken,
Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich..."

SZ, 03.07.2010

Als tief verunsichert erlebt Tobias Matern das heutige Pakistan, dem es nicht gelingen will, sein Verhältnis zum Islam und seinen Extremisten wirklich zu klären. Das gelte für die Politik, aber gerade auch für das in einiger Stärke vorhandene intellektuelle Milieu: "Ein halbes Dutzend Liberaler diskutiert auf der Bühne von Lahore an diesem Abend noch über Kunst und Meinungsfreiheit in Zeiten des Krieges, über die 'Talibanisierung des Denkens', der alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst habe. Es ist kein wirkliches Gespräch, sondern die Aneinanderreihung viel zu lang geratener Vorträge von Denkern, die ein wenig wie das letzte Aufgebot im Kampf gegen - nein, nicht gegen den Terrorismus, gegen die selbstgewählte Zensur wirken."

Weitere Artikel: Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann antwortet auf einen Artikel, in dem Andreas Zielcke erklärte, Frauen seien in modernen Gesellschaft im Vorteil - und das sei möglicherweise gut so. Das Ziel, entgegnet Hurrelmann, müsse weiter "Geschlechtergleichheit" bleiben und Jungs hätten heute einfach ein Geschlechterbildproblem: "Es fehlen Modelle, wie man heute Mann sein kann." Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler unterhalten sich am Rande des Münchner Filmfests mit dem iranischen Filmemacher Abbas Kiarostami, der dort den CineMerit Award erhält. Helmut Mauro geht dem Zusammenhang von Heterosexualität und Männersport nach. Ein Projekt, bei dem Künstler mit Kreuzberger Schülern Theater machen stellt Peter Laudenbach vor. In Nachrichten aus London meldet Alexander Menden unter anderem, dass Charles Saatchi seine Galerie und 200 Kunstwerke dem Staat schenken will. Auf der Literaturseite wird ein Brief Hermann Hesses abgedruckt und kommentiert, in dem der Autor den Fußball wichtiger findet als jedenfalls zweitklassige Autoren.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende setzt sich Joachim Käppner mit dem Rechtsmittel der "Sicherungsverwahrung" auseinander, die das Wegsperren potenzieller Straftäter auch nach Verbüßung ihrer Strafe erlaubt - bzw. erlaubte, denn die europäische Rechtssprechung hat inzwischen heftige Bedenken dagegen. Markus Zydra berichtet, dass in Managerkreisen neuerdings "soziale Kompetenz" der letzte Schrei ist. Vor dem Bayerischen Volksentscheid zum Thema denkt Petra Steinberger über Rauchen und Nichtrauchen nach. Gabriela Herpell unterhält sich mit Eva Mattes über "Egozentriker".

Besprochen werden ein Konzert der "Kwaito"-Musiker Pastor Mbhobho und MGO in München, die Ausstellung "Fakes, Mistakes & Discoveries" in der National Gallery in London (Kia Vahland findet diese Ausstellung eigener Fehleinschätzungen durchaus nachahmenswert), Tom DiCillos Band-Doku "The Doors - When you're strange" und die von Thomas Keck und Jens Mehrle als "Berlinische Dramaturgie" herausgegebenen Gesprächsprotokolle mit Peter Hacks (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).