Heute in den Feuilletons

Feuilleton-Themen als Quotenkiller

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2010. In der Welt rettet der Germanist Karl-Heinz Göttert  das Deutsche vor seinen Rettern. Die NZZ stellt eine Studie zur Zukunft des Kulturjournalismus vor. In der SZ erzählt der Turkologe Klaus Kreiser, wie die Türken in Jerusalem vor dem Koch der englischen Offiziersmesse kapitulierten. Martyn Daniels  schimpft in seinem Blog auf die Verwerterindustrien, die das Chaos mit den "verwaisten Werken" selbst geschaffen haben. Und Prince teilt mit: "The internet is over."

Welt, 06.07.2010

Auf der Forumsseite widerspricht der Germanist Karl-Heinz Göttert energisch Ulrich Greiners in der Zeit geäußerten Befürchtung, die deutsche Sprache müsse vor der englischen gerettet werden (mehr hier). "Was Greiner ... meint, nämlich die angebliche Bedrohung, die durch den Gebrauch des Englischen in Wissenschaften und Alltag entsteht, ist eine Schimäre. Ich möchte einmal ein einziges Beispiel vorgeführt bekommen, aus dem hervorgeht, dass ein englischer und ein deutscher Satz (jenseits stilistisch-ästhetischer Gesichtspunkte) etwas anderes 'bedeuten'. Goethe hat es selbst bei der Poesie nicht geglaubt. Und nun spricht Greiner (mit Berufung auf Heinrich Detering) davon, dass nicht unbedingt den Natur-, wohl aber den Geisteswissenschaftlern mit dem Gebrauch des Englischen 'der Boden unter den Füßen weggezogen' werde. Natürlich wird er manchem weggezogen - aber eben deshalb, weil er zu wenig Englisch kann, nicht weil es sich um Englisch handelt."

Bei der Berlin-Biennale soll es, so Hans-Joachim Müller, nach dem Willen der Kuratorin Kathrin Rhomberg um Wirklichkeit gehen - ohne jede formale oder ästhetische Verschlüsselung. Vom Ergebnis ist der Kunstkritiker nicht recht überzeugt: "Es ist ein Missverständnis zu glauben, Künstler mit der Videokamera auf dem Stativ hätten gleichsam kraft Amtes mehr zu sagen, mehr zu zeigen als Fernsehreporter, und als besäßen ihre Worte und ihre Zeichen eine dichtere Wahrheitseinwaage, mehr Dringlichkeit und mehr argumentative Würde. Es ist ein Missverständnis so zu tun, als sei die Wirklichkeitskunst, die Gegenwartskunst, die Körperkunst ohne die verrätselte Metapher, den versponnenen Zauber, den poetischen Übermut zu haben."

Weitere Artikel: Thomas Lindemann hörte den Tonwechsel in John Cages Stück "Organ2/ASLSP" in der Burchardikirche. Suzanne Vega, die gerade mit ihren alten Songs auf Tournee ist, plaudert im Interview über ihre alten Songs. Dennis Sand stört sich an der Entwicklung der jetzt 17-jährigen Miley Cyrus, die ihm zuviel Sex hat. Paul Badde erzählt von Papst Coelestin V., dem einzigen Papst, der je zurücktrat und dessen Grab Benedikt XVI. gerade besucht hat. Manuel Brug berichtet vom Festival in Aix-en-Provence. Besprochen wird eine Ausstellung zur Wiedervereinigung im Deutschen Historischen Museum in Berlin.

Aus den Blogs, 06.07.2010

(Via Bewegte Lettern) Die Verwerterindustrien haben das Chaos mit den "Verwaisten Werken" durch immer längere Schutzfristen erst angerichtet und beschweren sich nun, wenn Akteure im Internet sich nicht darin zurechtfinden, schreibt Martyn Daniels in seinem Blog Brave New World: "Our own view is that it's somewhat hypocritical for a rights industry that calls foul on infringement not to have even the basics of a rights registry today. After all, how can an industry be taken seriously when it doesn't even cover the basics?"

NZZ, 06.07.2010

"Kulturjournalismus verschwindet nicht. Er nimmt zu und fasert zugleich aus", lernt Ruedi Widmer auf der Medienseite in einer Studie der Uni Dortmund zur Zukunft des Feuilletons: "Viele scheinen zudem hin- und hergerissen zwischen der Flucht nach vorn - das Wall Street Journal hat seine Kulturredaktion kürzlich ausgebaut - und der Verabschiedung von Kulturredaktoren als Spezialisten vom Dienst. Ein Grund für letztere Strategie: Mainstream-Kulturmedien sind seit einiger Zeit mit Mediennutzungsanalysen konfrontiert, die einen Großteil der klassischen Feuilleton-Themen als 'Quotenkiller' qualifizieren. Das ist wiederum nicht im Sinn von Kulturveranstaltern, die auf Kulturberichterstattung im Sinne von 'coverage' angewiesen wären."

Weitere Artikel: Ärger im Nordatlantik meldet Aldo Keel, denn Grönland will die dänische Sprache verbannen, auch im Parlament soll künftig Grönländisch gesprochen werden. Schönheit zeigt sich in der Bedeutungslosigkeit, erfuhr Roman Bucheli beim Literaturfestival in Leukerbad. Andreas Klaeui berichtet vom Festival Theater der Welt in Mühlheim und Essen, Markus Ganz war auf dem Montreux Jazz Festival.

Besprochen werden ein Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich mit Bernard Haitink und Bruckners Neunter und Bücher, nämlich Tony Judts Essaysammlung "Das vergessene 20. Jahrhundert", Stefana Sabins Herzl-Monografie "Der Schriftsteller als Politiker" sowie die neuen Romane von Amelie Nothomb und Banana Yoshimoto (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 06.07.2010

(Via Mashable) Erstaunliche Ansichten über das Internet äußert Prince im Interview mit dem Daily Mirror: "The internet's like MTV. At one time, MTV was hip, and suddenly it became outdated." Princes eigene Aktivitäten im Netz beschreibt Jolie O-Dell in Mashable so: "Prince?s famous and longstanding battle against the web gained steam in 2007, when Prince declared his intention to file lawsuits against YouTube, eBay and the Pirate Bay for users' appropriation of his music. He's banned such sites from using his music, and he?s also refused to work with legal, legitimate outlets such as eMusic and iTunes. And don't try to find his official site; it?s been shut down, as well."

Clay Shirky sagt in einem großen Guardian-Porträt von Decca Aitkenhead etwas, das wie eine Antwort auf Prince klingt: "The whole, 'Is the internet a good thing or a bad thing'? We're done with that. It's just a thing. How to maximise its civic value, its public good - that's the really big challenge."

TAZ, 06.07.2010

David Denk porträtiert den Singer Songwriter Gisbert zu Knyphausen. Micha Brumlik knabbert in seiner Kolumne nochmal an der Aufstellung des "erzkonservativen Gauck" als Kandidat für das Bundspräsidentenamt durch die Grünen.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Menzels extremen Realismus" in Berlin, Ereignisse des Festivals "Theater der Welt" und Konzerte in Roskilde.

Und Tom.

FR, 06.07.2010

Gar nicht geheuer ist dem an der University of Notre Dame in Indiana lehrenden Germanisten Robert E. Norton die Renaissance Stefan Georges, die die politische Dimension seines Denkens komplett komplett ausblende: "Zum Glück gibt es ein effektives Korrektiv gegen eine allzu vorschnelle George-Begeisterung: nämlich die Lektüre seiner Gedichte. Denn mit der Leugnung seiner politischen Brisanz geht in der neuerlichen Wiederentdeckung Georges eine fast komplette Dethematisierung seiner Gedichte einher."

Besprochen werden Jeff Becks neues Album "Emotion and Commotion", ein Chopin-Abend mit Daniel Barenboim sowie drei Gedichtbände aus dem Hause Wagenbach.

Auf der Medienseite schildert, wie wenig kritischer Journalismus im Venezuela des Hugo Chavez noch möglich ist (online haben wir den Artikel nur in der Berliner Zeitung gefunden). "Vor ein paar Wochen hatte Adriana Nunez, eine junge Reporterin des TV-Senders Televen, die seltene Gelegenheit, Chavez bei einer Pressekonferenz zu befragen. Alle Kanäle waren live auf Sendung, Nunez war nervös. Sie wollte wissen, was es mit dem 'kommunalen Parlamentarismus' auf sich hat, ob die Gehaltssteigerung für die Soldaten auf andere Staatsbedienstete ausgeweitet wird und was eigentlich die Kubaner genau in der venezolanischen Armee machen. Chavez entgegnete, er wisse 20 bessere Fragen. Dann zog er über die Eigentümer des Kanals her, sie seien Putschisten und Oligarchen. Ein Begriff durfte auch nicht fehlen: Medienterrorismus."

SZ, 06.07.2010

Der Turkologe Klaus Kreiser schreibt ein Hintergrundstück über das Verhältnis der Türkei zu Jerusalem, das die Osmanen im Jahr 1917 aufgeben mussten: "Nur der Ölberg wurde noch kurz von einer türkischen Nachhut gegen die 60. Division der Engländer verteidigt. Das vom Bürgermeister überreichte Kapitulationsschreiben war ein flüchtig auf Rechenpapier geschriebener Zettel, der versehentlich zuerst dem Koch der englischen Offiziersmesse übergeben wurde, der sich auf der Suche nach frischen Eiern befand."

Weitere Artikel: In der "Zwischenzeit" meditiert Gustav Seibt über Goethe, Burke, Gentz und den "ersten Vorschein des Totalitarismus" in Gestalt von Napoleon. Robert Probst verfolgte ein Symposion zum Thema "Bewachung und Ausführung - Alltag der Täter in nationalsozialistischen Lagern" in der "Topografie des Terrors" (mehr hier). Karin Hellwig berichtet, dass in Yale das womöglich früheste Gemälde von Diego Velazquez, eine "Erziehung der Jungfrau Maria", entdeckt wurde (mehr dazu im Ars Magazin). Auf der Literaturseite berichtet Andre Weikard über das Unwesen der sogenannten "Zuschussverlage".

Besprochen werdem eine Dramatisierung von Christian Krachts "Ich werde hier sein im Sonnenschein..." am Staatstheater Stuttgart und die Neupräsentation der Berliner Sammlung etruskischer und römischer Kunst im Alten Museum (mehr hier).

FAZ, 06.07.2010

Sehr erfreut zeigt sich Christian Geyer über die per Volksentscheid herbeigeführte Ausweitung der Nichtraucherzone in Bayern. Mark Siemons schildert, wie man in China mit Begeisterung auf die Fußball-WM reagiert - die deutsche Mannschaft kommt als "Muster eines triumphierenden Kollektivismus" besonders gut an. In der Glosse meldet Dirk Schümer, dass in Dänemark das Nationaltrauma der Schlachtniederlage gegen Deutschland an den Düppeler Schanzen als Riesenserie verfilmt wird. Alexandra Kemmerer fasst die Anhörungen der von Barack Obama für den Supreme Court nominierten Elena Kagan zusammen und glaubt, dass Kagan mit ihrer dabei demonstrierten Zurückhaltung und Verbindlichkeit viele überzeugt haben dürfte. Klaus Englert begutachtet mit recht skeptischem Blick das von Philippe Starck zum Kultur- und Freizeitzentrum umdesignte ehemalige Weinlager Alhondiga in Bilbao.

Besprochen werden Jonathan Kents "Don Giovanni"-Inszenierung in Glyndebourne, die Ausstellung "Body and Soul" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, die neue Dauerausstellung "Italia Antiqua. Etrusker und Römer in Berlin" im Alten Museum Berlin, zwei Ausstellungen zur Geschichte der Mode im Metropolitan und im Brooklyn Museum in New York, und Bücher, darunter Binnie Kirshenbaums Roman "Die Geschichte von Henry und mir" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).