Heute in den Feuilletons

Gestatten, Josef, auch genannt der schöne Josef

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2010. Das Christentum ist die Aufklärung, behauptet Bischof Marx in der FR. Martha Nussbaum erklärt in der New York Times, warum sie gegen das Burkaverbot ist. Die NZZ macht sich auf die Suche nach Widerstand gegen die Globalisierung in Wien und wird in einer Weinhandlung fündig. Die Welt ärgert sich über die Todesanzeige für Gerold Becker. Alle Zeitungen bringen ausführliche Nachrufe auf Günter Behnisch.

FR, 14.07.2010

Christian Schlüter führt ein ausführliches Interview mit dem liberalen katholischen Bischof Reinhard Marx, von dem wir erfahren, dass das Christentum "vernunftgeleitete Aufklärung (ist). Der Glaube vernebelt nicht die Vernunft, sondern macht sie heller. Von Beginn an hat das Christentum den Dialog mit den Philosophen gesucht. Ich will nicht sagen, dass wir in allen Zeiten dieses Niveau gehalten haben. Aber es ist doch vollkommen unbestreitbar, dass die für Europa entscheidende Aufklärung nicht erst im 18. Jahrhundert stattgefunden hat, sondern bereits in der Verkündigung des Evangeliums besteht, in der Bergpredigt, in dem Vaterunser und in der Geschichte vom verlorenen Sohn."

Weitere Artikel: Christian Thomas schreibt den Nachruf auf den Architekten Günter Behnisch. Joachim Lange besucht das Theater von Dessau, das von Schließung bedroht ist. Besprochen wird Richard Obermayers Roman "Das Fenster". Auf der Medienseite kommentiert Ulrike Simon die gestern vorgestellten ziemlich mauen Zahlen des deutschen Zeitungsmarktes.

TAZ, 14.07.2010

Klaus-Helge Donath berichtet über den Prozess gegen die Moskauer Kuratoren Andrei Jerofejew und Juri Samodurow. Dirk Knipphals schreibt zum Tod von Günter Behnisch. Auf der Medienseite findet es die "Kriegsberichterstatterin" Silke Burmester den Brief Martin Walsers an Bastian Schweinsteiger "peinlich". Auf der Tagesthemenseite führen Astrid Geisler und Philipp Gessler ein langes Gespräch mit Nicolas Berggruen, dem Käufer des Pleitekonzerns Karstadt, über die Moral Berggruens.

Besprochen wird Marie N'Diayes Roman "Drei starke Frauen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 14.07.2010

Die Philosophin Martha Nussbaum veröffentlicht in der New York Times eine akademische Abhandlung zum Burkaverbot in Frankreich. Sie ist dagegen und wartet am Ende sogar mit pragmatischen Lösungsansätzen auf: "A reasonable demand might be that a Muslim woman have a full face photo on her driver?s license or passport. With suitable protections for modesty during the photographic session, such a photo might possibly be required. However, we know by now that the face is a very bad identifier."

Aus den Blogs, 14.07.2010

Wolfgang Michal will in Carta zwar nicht an Behauptungen von Prince und von Matthias Horx glauben, das Internet sei mindestens so out wie MTV, aber Zweifel nagen auch an ihm: "Die Stimmung hat sich etwas gedreht. Die überschäumende Hoffnung, schnell eine ernstzunehmende Medien-, Kommunikations- und Partizipationsalternative im Netz aufbauen zu können, hat sich (vorerst) verflüchtigt ... Bei manchen 'digital natives' sind Desillusionierung und Erschöpfung an die Stelle von Begeisterung und Engagement getreten."

Fortschritt ist möglich! Laut Gawker, Telegraph und Independent hat der Oberste Gerichtshof von Bangladesch die Auspeitschung vergewaltigter Frauen verboten. Empörung hatte im Januar der Fall einer 16-jährigen Bangladescherin ausgelöst, die mit 101 Peitschenhieben dafür bestraft worden war, dass sie vergewaltigt und geschwängert wurde. Der Vergewaltiger ging frei aus. Darauf hin hatten lokale Menschenrechtsorganisationen eine Petition beim Obersten Gerichtshof eingereicht.

Open Culture meldet, dass alle Tarkowsky-Filme jetzt kostenlos im Netz zu sehen sind. Hier die Eisenbahn-Sequenz aus "Stalker", die jeden heutigen ICE-Reisenden vor Neid erblassen lässt.


NZZ, 14.07.2010

Andrea Roedig (ehemalige Kulturchefin des Freitag, wie am Ende des Artikels ausdrücklich festgehalten ist) hat in Wien charmante Widerstandsnester gegen die Globalisierung gefunden - Einzelhandelsgeschäfte, in denen die Zeit stehen geblieben ist. So geht's zum Bespiel in der Weinhandlung Löscher in der Franzensbrückenstraße zu: "Öffnungszeiten bei Löscher sind von 10 bis 12 und 16 bis 18 Uhr, aber auch um 15 Uhr geht erstaunlicherweise die Türe auf. Drinnen sitzt Heinz Höberl in einer unglaublichen Rauchhöhle, die mehr Leergut als volle Flaschen enthält, und spielt Schach mit einer nicht mehr frischen Gestalt, die sich als 'Gestatten, Josef, auch genannt der schöne Josef' vorstellt."

Weitere Artikel: Corinne Elsesser schreibt zum Tod von Günter Behnisch. Besprochen werden Konzerte von Keith Jarrett und Chick Corea beim Jazzfestival Montreux, eine Neuübersetzung Ibn Battutas "Wunder des Morgenlandes".

Welt, 14.07.2010

Jetzt werde auch noch "Goethe missbraucht", ärgert sich Thomas Schmid über die Todesanzeigen für Gerold Becker, die den früheren Leiter der Odenwaldschule zum Opfer stilisiere. Herrisch und verächtlich gegenüber Beckers tatsächlichen Opfer seien die beigefügten Zeilen aus dem Goethe-Gedicht: "Die deutsche Reformpädagogik hat einen freiheitlichen, aber auch einen elitär-aristokratischen Zug: Man fühlt sich im Kreise derer, denen der Plebs nichts anhaben kann, die über dem Gesetz stehen. Die Todesanzeige ist ein düsteres Beispiel für diesen Geist. Es wäre schlimm, bliebe das das letzte Wort der Reformpädagogik."

Weiteres: Dankwart Guratzsch schreibt den Nachruf auf Günter Behnisch, den Architekten der Bonner Republik. Manuel Brug erinnert an den Vater des Balletts und aller Prinzessinnen-Träume, Marius Petipa, der heute vor hundert Jahren starb. Mit "aufrichtiger Freude" begrüßt Michael Pilz die Rückkehr der Pionierband Devo und ihr Album "Something for Everybody". Sandra Schlechter weist auf eine neue Geschäftsidee des Springer Verlags hin: Gemeinsam mit dem Wissenschaftsverlag de Gruyter und der Staatsbibliothek wurde die Vossische Zeitung digitalisiert, Bibliotheken und andere öffentliche Einrichtungen bekommen einen Zugang für 27.390 Euro, oder 5390 im Jahr.

Auf der Forumsseite beobachtet Wolf Lepenies einen neuen Aufschwung der Sozialdemokratie. Doch während in Europa ihre Vordenker wie Tony Judt mehr Staat fordern, setzt der indische Politologe Sunil Khilnani auf die Gesellschaft: "Khilnani hat darauf aufmerksam gemacht, dass es in Indien nicht nur einen Optimismus der Eliten und der Privilegierten gibt, sondern auch einen Optimismus der Unterklassen und der Benachteiligten."

SZ, 14.07.2010

Auf der Medienseite kommentiert Marc Felix Serrao eine "linke" Kampagne, die "rechte" Zeitungen aus den Kioskregalen verbannen will. Zu den Organisatoren gehören "antifaschistische" Gruppen, aber auch Jusos und Verdi. "Nun darf jeder gegen alles protestieren", meint Serrao. "Aber man fragt sich schon, was für ein Toleranzverständnis Organisationen wie Verdi und die Jusos haben, wenn sie propagieren, dass Positionen, die sie selbst ablehnen, de facto mundtot gemacht gehören."

Im Feuilleton bewundert Andrian Kreye die amerikanische Ideenwerkstatt namens TED-Konferenz, auch wenn er die "zukunftseuphorische Grundhaltung" der Teilnehmer mit Skepsis betrachtet und es nicht ganz fassen kann, dass Inhalte und das Konzept dieser Konferenz einfach übers Internet verschenkt werden. Laura Weissmüller schreibt den Nachruf auf den Architekten Günter Behnisch. Daneben gibt es kurze Zitate von Kollegen Behnischs (Zaha Hadid und Patrik Schumacher: "Wir sind zutiefst betrübt über Günter Behnischs Tod. Dies ist ein schrecklicher Verlust für uns alle.") Auf der Seite 3 würdigt Gerhard Matzig die Verdienste Behnischs.

Besprochen werden der Film "Eclipse - Biss zum Abendrot", Guy Cassiers' Dramatisierung von Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" in Avignon, eine Ausstellung mit Grafiken der Neuen Sachlichkeit im Berliner Kupferstichkabinett, Choreografien von Wayne McGregor und Jorma Elo mit dem Stuttgarter Ballett und Bücher, darunter der neue Roman von Nina Jäckle (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 14.07.2010

Julia Lauer hat eine vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung veranstaltete Tagung (Programm als pdf) zum Thema Antiziganismus, also rassistischer Vorurteile gegen Sinti und Roma, besucht. Zu ihrem Bedauern ging es allein um Rassismusdiskurse, die Frage dagegen, "wann, wo und unter welchen politischen, sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen Vorurteile gegen Roma virulent werden", wurde nicht beantwortet. Verena Lueken stellt beim Sommerurlaub in Griechenland fest, dass dort neuerdings eifrig quittiert wird. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod des Architekten Günter Behnisch.

Besprochen werden die New Yorker Aufführung von Peter Steins Zwölfstunden-"Dämonen" auf Governor's Island, Yona Kims Stuttgarter Inszenierung von Chaya Czernowins librettoloser Oper "Pnima", eine Ausstellung mit Druckgrafiken von Alex Katz in der Wiener Albertina, Brillante Mendozas in dieser Woche im Kino anlaufende Film "Lola" (mehr) und "Kinatay" (mehr) und Bücher, darunter Michael Imhofs Ratgeber "Behandlungsfehler in der Medizin - Was nun?" und Johanna Straubs Roman "Das Beste daran" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).