Heute in den Feuilletons

Die Metapher vom langen Weg

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2010. In der FR erklärt Martha Nussbaum, warum es unnötig ist, für Passfotos die Burka abzunehmen. In der FAZ fragt Alice Schwarzer: Warum verteidigt ausgerechnet die Linke die Burka? Laut Welt suchen die Stadt Weimar und der Iran einen interkulturellen Kompromiss in der Holocaust-Frage. Im Kölner Stadt-Anzeiger erklärt der Politologe Samuel Salzborn, warum er glaubt, dass die Linkspartei auf dem Weg zur antisemitischen Partei ist. Im European gibt Götz Aly der Linken sowieso keine Chance. Die SZ stöhnt ganz allgemein über den Arbeitnehmer-Seelenverschleiß im rundum beschleunigten 21. Jahrhundert.

Welt, 20.07.2010

Die Stadt Weimar strebt eine Städtepartnerschaft mit der iranischen Stadt Schiras, der Heimat des Goethe-Idols Hafis, an. Voraussetzung sollte aber sein, dass die Delegationen aus dem Iran den Holocaust nicht leugnen. Dann kam eine Delegation, verweigerte den Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald - und Weimar hält dennoch an der neu gewonnen Freundschaft fest, berichtet Matthias Küntzel auf der Forumsseite: "Anfang dieser Woche bestätigte Fritz von Klinggräff, der Weimarer Pressesprecher, die Kurskorrektur. Man habe die Forderung, dass Buchenwald von Anfang an ein Bestandteil dieser Städtefreundschaft sein müsse, abgeschwächt und durch die 'Metapher vom 'langen Weg' ersetzt". Man brauche eine lange gemeinsame Strecke und müsse 'wie bei jedem interkulturellen Austausch sehen, wie Kompatibilität hergestellt wird'." (Anders ausgedrückt: Die einen sagen, es hat einen Holocaust gegeben, die anderen sagen, es hat keinen Holocaust gegeben. Die Wahrheit wird wie immer in der Mitte liegen!)

Im Feuilleton unterhält sich Christina Weiss mit Jürgen Flimm, dem 69-jährigen Noch-Chef in Salzburg und kommenden neuen Mann an der Berliner Staatsoper. Wieland Freund stellt die Website "I write like" vor, die per Algorithmus den Stil englisch schreibender Autoren untersucht.

Weitere Medien, 20.07.2010

Die Linkspartei ist auf dem besten Wege sich zu einer antisemitischen Partei zu entwickeln. Denn anders als andere Parteien schafft es die Linkspartei nicht, sich antisemitischer Tendenzen zu erwehren, meint der Politologe Samuel Salzborn im Gespräch mit Jan-Philipp Hein im Kölner Stadtanzeiger: "Statt zu diskutieren, wie die Positionen der drei 'Free-Gaza'-Teilnehmer mit den Grundsätzen der Partei zu vereinbaren sind, müssen sich deren Kritiker, etwa Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, parteiintern massiver Angriffe erwehren. Es stehen die am Pranger, die den Antisemitismus kritisieren."

Der Historiker Götz Aly meint dagegen im Gespräch mit dem jungkonservativen Magazin The European: "Die radikale, angeblich internationalistische Linke ist ein absterbendes Projekt. Sie hat sich vierzig Jahre lang mit allen möglichen Befreiungsorganisationen identifiziert, die später oft korrupt, nicht selten verbrecherisch und nur ausnahmsweise pragmatisch und politisch-emanzipatorisch erfolgreich wurden. Der Linksradikalismus, der sich aus der Antihaltung gegenüber Deutschland speist, lebt von Wahnbildern."

(Via Mioskito) Die Financial Times Deutschland bringt Zahlen von Amazon: "Der weltgrößte Online-Einzelhändler Amazon verkauft in den USA inzwischen deutlich mehr E-Books als gebundene Bücher. Im vergangenen Monat kamen auf 100 abgesetzte Hardcover-Ausgaben 180 elektronische Bücher, teilte Amazon am Montagabend mit." Mehr dazu in der New York Times.

(Via Gawker) Im Guardian berichtet Helena Smith, dass der griechische in korruptionsangelegenheiten recherchierende Journalist Sokrates Giolas ermordet wurde, vermutlich von der linken Terrorgruppe Sekte der Revolutionäre.

Aus den Blogs, 20.07.2010

Facebook-Gründer Marc Zuckerberg wird heute eines seiner seltenen Exklusivinterviews geben. Diane Sawyer wird ihn für ABC News in der Firmenzentrale besuchen. Zuckerberg, so Ben Parr in Mashable, wird versuchen das angeschlagene Image von Facebook zu verbessern: "Of course, there are risks: Sawyer is an experienced interviewer, and we doubt she will let Zuckerberg off the hook on the privacy issues that have plagued the company. One bad soundbyte could lead to a wave of bad press and kill the message."

Charles Simic
schreibt im Blog der New York Review of Books nochmal über die Fußball-WM. für die Deutschen ist auch was dabei: "Maradona, the Argentine coach, hugged and kissed each player, like an old friend he hadn?t seen in years, after he scored a goal or was substituted, but these public declarations of love did not help his side against the Germans who always seemed to be exceptionally motivated even though their coach, Joachim Löw, sat through most of the games with no expression on his face."

Ronnie Grob beobachtet als Blogger das Treiben in der Bundespressekonferenz: "Die Frage ist, wie sich die Institution dem Medienwandel gegenüber verhalten wird. Und wie sie sich entwickeln wird unter dem zunehmenden Druck von Kosten, Klickzahlen und Auflage, unter dem Verlage stehen. Noch steht die BPK wie ein grosser grauer Block im Parlamentsviertel. Darum herum stehen die vielen Journalisten, die Bundespolitik als Seifenoper inszenieren."

NZZ, 20.07.2010

Martin Meyer widmet sich in einer Glosse dem Zürcher Streit um die Kunstaktion "zürich transit maritim", die mittels eines Hafenkrans Meeresstimmung an der Limmat verbreiten will. Alfred Zimmerlin berichtet von der Eröffnung der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik mit Gerard Griseys Zyklus "Les Espaces Acoustiques".

Besprochen werden die Ausstellung über jüdische Spuren im Comic "Helden, Freaks und Superrabbis" im Jüdischen Museum Berlin, Dorothee Elmigers Debütroman "Einladung an die Waghalsigen", Ferdinand Schmatz' Lyrikband "quellen" und zwei Ausgaben von Averroes' "Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie".

FR, 20.07.2010

Die FR übernimmt aus der New York Times (Original hier) Martha Nussbaums Verteidigung der Burka, die sie im Grunde ja nicht einmal bei der Aufnahme von Passfotos stört ("wir wissen inzwischen, dass das Gesicht ein schlechtes Identifizierungsmittel ist."). Und sie erklärt ihre Bereitschaft, selbst entsprechend herumzulaufen: "In Indien trage ich meistens einen Salwar Kamiz aus Baumwolle, weil er wunderbar bequem ist und die völlige Verhüllung der Gliedmaßen den Staub fernhält und die Gefahr von Hautkrebs zumindest verringert."

Auf der Medienseite unterhält sich Ulrike Simon mit der Chefredakteurin der taz, Ines Pohl, die vor einem Jahr installiert wurde: "An die Respektlosigkeit vor dem Amt musste ich mich erstmal gewöhnen", kommentiert sie die Zustände in der inzwischen doch recht handzahmen Redaktion.

Weiteres: Judith von Sternburg war dabei, als Peter Kurzeck im Frankfurter Literaturhaus eine tausendseitigen Roan diktierte. Besprochen wird eine CD der Crash Test Dummies.

TAZ, 20.07.2010

Julia Große klärt uns darüber auf, dass Londons schöne neue blaue Radspur von der Barclays Bank gesponsort wurde. Besprochen werden eine Ausstellung mit Architekturaufnahmen aus zwei Jahrhunderten im wiederhergestellten Kaisersaal des Museums für Fotografie Berlin, das neue Album von The Drum, New Yorks "coolster Band" New Yorks, Katrin Seddigs Romandebüt "Runterkommen" sowie Maria und Miguel Gallardos Comic über Kinder mit Autismus "Maria und ich".

Auf Flimmern und Rauschen berichtet Rene Martens, dass Eric Fiedlers sehr beeindruckende Dokumentation über den türkischen Völkermord an den Armeniern im US-Kongress gezeigt wird (im NDR noch einmal im September).

Andreas Fanizadeh gibt auf tazzwei zu Protokoll, dass er mit der Bürgerbeteiligung eh durch ist: "Zur Verdeutlichung ein Auszug aus den kommenden Volksabstimmungskämpfen der Schweiz: 'Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht'; 'Für ein bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert durch Energielenkungsabgaben'; 'Wenden wir die Menschenrechte an auf Frauen und Männer = Schweiz'; 'Schutz vor Rasern'; 'Schluss mit der MwSt-Diskriminierung des Gastgewerbes!'"

Und Tom.

FAZ, 20.07.2010

Feuilletonaufmachend positioniert sich Alice Schwarzer eindeutig für das Verbot von Burka, Nikab und Tschador. Und sie glaubt, dass die Linke im Umgang mit dem Islam grundsätzlich auf dem ganz falschen Dampfer ist: "Auffallend ist, dass in ganz Europa die Linke den Kampf gegen die Islamisierung den Konservativen beziehungsweise Rechten überlässt. Mit dem Resultat, dass die Rechte dies zum Teil populistisch funktionalisiert und missbraucht. Und die Linke? Die relativiert mit einer solchen falschen Toleranz nicht nur mühsam errungene westliche Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung, sondern ignoriert auch die berechtigten Ängste der Bevölkerung."

Weitere Artikel: Als "Glück für viele Kinder" begreift Regina Mönch den Ausgang des Hamburger Volksentscheids. Obwohl er nicht der Ansicht ist, dass sie ihren Job zu Amtszeiten gut gemacht hätte, ärgert sich Niklas Maak über den Rücktritt der Hamburger Kultursenatorin Karin von Welck im Windschatten ihres Chefs. Dirk Schümer berichtet vom Fund eines Gemäldes mit noch sehr unklaren Caravaggio-Anteilen in Rom. Paul Ingendaay glossiert den Sachverhalt, dass Molekularoch Ferran Adria in einer Umfrage zur spanischen Künstlerpersönlichkeit mit der größten "Strahlkraft" sogar noch vor Pedro Almodovar gelandet ist. Bitter beschwert sich Andreas Rossmann, weil das, was beim "Theater der Welt"-Festival zur Aufführung kam, seiner Idee von Theater meist wenig entsprach. Holger Noltze befindet vor dem am kommenden Sonntag beginnenden ersten richtigen post-Wolfgang-Wagner-Jahr in Bayreuth: "Es ist ein bisschen wie Suhrkamp nach Unseld". Lena Bopp war dabei als der Schriftsteller Peter Kurzeck in Frankfurt in aller Öffentlichkeit (zwei Gäste) seinen neuen Roman "Vorabend" zu diktieren begann.

Besprochen werden Mark Lewis' bisher noch nicht übersetzter Finanzkrisenerlebnisbericht "The Big Short" und der Band "Mafeking Road und andere Erzählungen" des nach Meinung von Tobias Döring dringend zu entdeckenden südafrikanischen Autors Herman Charles Bosman (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 20.07.2010

Wenn wir unkonzentrierter werden, liegt das nicht unbedingt am Internet, meint Alex Rühle. "Zu großen Teilen ist es ganz normaler Arbeitnehmer-Seelenverschleiß des rundum beschleunigten 21. Jahrhunderts ... Immer weniger Leute wagen es, ihren sogenannten Abwesenheitsagenten anzuschalten, schließlich signalisiert der, dass man jetzt Feierabend habe. Der geregelte Arbeitstag aber, die Fünftagewoche mit privatem Feierabend muten mittlerweile so behaglich anachronistisch an wie Helmut Kohls wärmende Strickjacke, die im Haus der Deutschen Geschichte liegt".

Alexander Kissler fürchtet, dass mit dem BGH-Urteil zur Embryonen-Diagnostik (mehr hier) "jener Umschwung hin zu einem szientistischen, einem harten Naturalismus stattgefunden hat, vor dem zu warnen Jürgen Habermas nicht müde wird. Der werdende Mensch wird aufgrund seiner naturalen Grundausstattung leben gelassen oder nicht. Das richtige oder falsche Genom entscheidet über das Recht auf Existenz."

Außerdem: Christian Gampert berichtet über eine Veranstaltung im Literaturarchiv Marbach zu "Kunstfreiheit und Zensur". Helmut Mauro hörte ein Konzert mit Werken von Brahms, Krenek und Schmidt beim Styriarte Festival in Graz. Das Musikfestival von Bad Kissingen lässt Lieder von Eichendorff neu vertonen, erzählt Wolfgang Schreiber.

Besprochen werden eine Ausstellung mit der Straßenkunst von Francis Alys in der Londoner Tate Modern, Brillante Mendozas Filme "Kinatay" und "Lola" (Rainer Gansera kennt kein Pardon mit dem Regisseur: "Im Kern ist er ein misanthroper Zyniker."), eine Schau über Renaissancebildhauer im römischen Palazzo Venezia, Aufführungen beim Festival "Theater der Welt" und Bücher, darunter Ulrike Draesners Roman "Vorliebe" (mehr in unser Bücherschau heute ab 14 Uhr).