Heute in den Feuilletons

Wir kennen solch opportunistisches Völkchen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2010. Mit offenem Mund verfolgten die Kritiker Peter Steins Inszenierung des "Ödipus auf Kolonos". Die einen staunten. Die anderen gähnten. Im Guardian trauert Tom McCarthy mit dem Telefon um die Toten. In der NZZ wappnet sich Leopold Federmair für den japanischen Winter. In der SZ zerlegt Andrea Camilleri den Berlusconismus mit Besteck des Kommunismus. Käufern des Ipad wird zu unerotischer Lektüre geraten.

Welt, 28.07.2010

Hin und weg ist Ulrich Weinzierl von Peter Steins Inszenierung des "Ödipus auf Kolonos" in Salzburg. Die Inszenierung: "die schönste Zumutung, die das deutschsprachige Theater derzeit zu bieten hat". Klaus Maria Brandauer als Ödipus: "ein großer, wunderbarer Schauspieler, einer der größten, die wir haben". Jürgen Holtz als Kreon: "ein Fiesling von Format ... Und kaum genug zu rühmen: die Leistung des Chors im Wechsel von Unisonopassagen und solistischen Einsprengseln. Stein zaubert aus dem humpelnden Altmänner-Dutzend ein Gruppenbild der Individualitäten, schwankend zwischen Weisheit und Geschwätzigkeit, Mut und Kleinmut. Wir kennen solch opportunistisches Völkchen, brauchen nur in den Spiegel zu schauen."

Außerdem: Der Kommissar Kluftinger aus den Allgäu-Krimis von Volker Klüpfel und Maichael Kobr soll Tatort-Kommissar werden, berichtet Wieland Freund. Die Ukraine wendet sich unter der neuen Regierung gerade von Polen ab und eher Ländern wie Weißrussland zu, meldet kopfschüttelnd Gerhard Gnauck. Paul Jandl schreibt zum Tod der Schriftstellerin Brigitte Schwaiger.

Thomas Vitzthum porträtiert den Organisten Cameron Carpenter, der trotz seiner Popstar-Attitüden ein Spieler von Format ist: "Vor allem seine Pedaltechnik sucht seinesgleichen." Man kann das hier überprüfen:


Weitere Medien, 28.07.2010

Einen seltsamen, aber interesssanten Essay veröffentlichte der Autor Tom McCarthy (den Zadie Smith vor zwei Jahren in der New York Review of Books feierte) am Samstag im Guardian. Es geht ihm um die Beziehungen des Romans zur Kommunikationstechnologie, und er hält es mit der Theorie des Germanisten Laurence Rickels, der Medien wie das Telefon als Medien der Absenz und Trauer begreift. McCarthys im Herbst erscheinender Roman "C" spielt in der Zeit der Erfindung des Telefons - und seine Recherchen bestätigten ihm Rickels' These: "Alexander Bell, der mit mechanischen Sprechgeräten aufwuchs (sein Vater leitete eine Schule für gehörlose Kinder), verlor in seiner Jugend einen Bruder. Danach schloss er einen Pakt mit dem ihm verbliebenen Bruder: Wenn der zweite von ihnen sterben würde, sollte der Überlebende versuchen, eine Vorrichtung zu erfinden, die in der Lage sein sollte, Schwingungen aus dem Grab zu empfangen - wenn es sie denn geben sollte. Dann starb der zweite Bruder tatsächlich, und Alexander erfand, natürlich, das Telefon."

(Via hemartin) Unzumutbar für Apple-Konsumenten! Vier erotische Romane sind aus den Bestsellerlisten des Ipad-Bookstores mysteriöserweise verschwunden, meldet der Telegraph: "The most popular author among Ipad users was, until yesterday, Carl East, a 55-year-old from Hull with more than 70 erotic books to his name. His titles, which are available for as little as 49p, were first, second and seventh in the chart before they disappeared." Alle weg!
(Buchcover via Gizmodo)

Aus den Blogs, 28.07.2010

Facebook kann man immer noch klebriger machen. Zum Beispiel mit dem neuen Amazon Feature für Facebook, berichtet Leena Rao in Techcrunch: "So if you like Radiohead, you can see which one of your friends also likes the band. You?ll also see upcoming birthdays and find your Facebook friends' Amazon Wish Lists more easily."
Stichwörter: Amazon, Facebook, Radiohead

FR, 28.07.2010

Peter Michalzik mochte Peter Steins Salzburger "Ödipus auf Kolonos" - abgesehen von Klaus Maria Brandauer - überhaupt nicht: "Letztendlich ist alles so inszeniert, als sei der alte Sophokles wieder auferstanden, schon dass er wirkliches Theater machen muss, ist für diesen großen Geist eine Kränkung. Naiv bis zur Hilflosigkeit gegenüber dem Text außer bei Chor und Brandauer."

Für Jens Balzer und Markus Schneider hat sich die Loveparade schon vor langer Zeit erledigt, nämlich ungefähr als die ersten FDP-Wagen mitfuhren. Und noch schlimmer: "Die Loveparade 2010 war von vornherein nicht nach dem Raum- und Bewegungs-Modell der Parade organisiert, sondern nach dem Modell des Internierungslagers."

Besprochen werden Christopher Nolans laut Daniel Kothenschulte "atemberaubend kunstvoller" Psycho-Thriller "Inception" und eine Aufführung von Mozarts "Zauberflöte" bei den Herrenchiemsee-Festspielen.

NZZ, 28.07.2010

Der Autor Leopold Federmair schildert seine Erfahrungen mit dem bereits seit fünfzehn Jahren andauernden japanischen Winter, in dem die Krise zur normalen Lebensform wurde: "Japaner sind vorsichtig beim Gebrauch des Worts "nein", sie federn es mit allerlei Zusatzausdrücken ab. Das große Nein ist in der japanischen Geschichte kaum anzutreffen. Anders als in Europa gab es keine Revolutionen, die breite Volksmassen ergriffen hätten. Auch in den letzten fünfzehn Jahren regte sich kaum Widerstand wegen persönlicher Einbußen. Gehaltskürzungen werden wortlos hingenommen, gleichbleibende Preise ist man gewohnt".

Weiteres: Mona Sarkis schwärmt von dem libanesischen Star-Kabarettisten Ziad al-Rahbani und hält fest: "Entgegen gewissen Annahmen sind Araber offensichtlich durchaus humorbegabt." Besprochen werden Bücher, darunter Hans Wollers Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, ein Band über die Cembalistin Wanda Landowska und György Sebestyens Roman "Thennberg" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 28.07.2010

Auf der Meinungsseite denkt Georg Seeßlen angesichts der Katastrophe von Duisburg über die hedonistische Masse als moralisches Problem nach: "Zunächst mussten ja die Bilder schockieren, nach denen die Leute weitertanzten und feierten und Kasperiaden vor der Kamera aufführten, ganz nah am Unfallort. Wir wurden besänftigt: Man habe das Fest weitergehen lassen, um weitere Panik zu verhindern. Doch die Gleichzeitigkeit von Katastrophe und besinnungslosem 'Spaß' ist so nicht wirklich zu beschreiben."

Im Kulturteil porträtiert Sabine Leucht die niederländische Schauspielerin Elsie de Brauw, die gerade in einer Inszenierung von Stefan Zweigs Novelle "Angst" bei den Salzburger Festspielen auftritt. Rudolf Walther erzählt eine kleine Geschichte der Schweiz. Dirk Knipphals staunt über die Wunderwerke von Pixar im allgemeinen und über "Toy Story 3" im besonderen. Ralf Leonhard schreibt den Nachruf auf Brigitte Schwaiger. Auf der Medienseite vergleicht Boe. die Darstellung der von Wikileaks bereitgestellten Afghanistan-Dokumente bei New York Times, Guardian und Spiegel.

Und Tom.

FAZ, 28.07.2010

"Großes Theater", gibt's heute kaum noch, meint Gerhard Stadelmaier zu Peter Steins "Ödipus auf Kolonos": "Es geht darum in diesem Wahnsinnsspiel, verhängt von Wahnsinnsgöttern, wer besser spielt. Und Brandauer zeigt, dass Ödipus ein großartiger Spieler ist - noch im größten Elend."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann begrüßt Heinrich Heine in ihm fremder bayerischer Umgebung: der Kunstspießerversammlung Walhalla. In der Glosse schüttelt Andreas Kilb den Kopf über Oliver Stone, der, bis er es sich vorsichtshalber doch anders überlegte, glaubte, dass die jüdische Lobby in den USA für die Überschätzung des Holocaustverantwortlich sei. Von einer Konferenz von Moralpsychologen, bei der Gott dann doch nicht vorbeischaute, berichtet Jordan Mejias.

Besprochen werden das Salzburg-Eröffnungskonzert der Wiener Philharmoniker mit Beethoven, Boulez und Bruckner unter Daniel Barenboim, die Ausstellung "Gebaute Utopie" in den Franckeschen Stiftungen Halle, Christopher Nolans Traumtheorie-Blockbuster "Inception" (mehr) und Bücher, darunter die Neuausgabe von Hans Sahls Exil-Schlüsselwerk "Die Wenigen und die Vielen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 28.07.2010

Krimiautor Andrea Camilleri bekennt sich im Gespräch mit Andrea Bachstein als Kommunist zu erkennen und liefert zum Phänomen des Berlusconismus in Italien eine entsprechende Erklärung: "Dieser italienische Schlamassel existiert seit Jahrzehnten. Nach meiner Ansicht gibt es vor allem einen fortschreitenden Verfall der Moral in der bestimmenden Klasse, die die Bevölkerung stark beeinflusst hat."

Christine Dössel hat bei Peter Steins Salzburger Inszenierung des "Ödipus auf Kolonos" mit Klaus-Maria Brandauer kräftig gegähnt: "Fast drei Stunden Diskurstragödie - passiert ja kaum etwas in diesem Lebensrückschaustück - ohne Kürzungen und Pause, mit nur einem einzigen Kraftschauspieler auf der Bühne."

Weitere Artikel: Gerhard Matzig fragt in einem Kommentar zu den Duisburger Ereignissen: "Welche Strafe steht auf 'Großmannssucht'?". Andreas Zielcke macht im Aufmacher zu den Afghanistan-Dokumenten die skeptischen Anmerkungen einer Zeitung, die nicht zu den auserkorenen zählte. Roswitha Budeus-Budde unterhält sich mit dem Jugendbuchautor Joseph Lemasolai Lekuton, der seine Jugend bei den Massai verbrachte und darüber ein erfolgreiches Buch schrieb.

Besprochen werden Christopher Nolans Film "Inception" (mehr hier), Konzerte bei Festivals in Erl und auf dem Herrenchiemsee, eine Ausstellung des "Simplicissimus"-Künstlers Karl Arnold in der Berlinischen Galerie in Berlin, das Eröffnungskonzert der Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim in Salzburg und Bücher, darunter Annika Scheffels Debütroman "Ben" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).