30.07.2010. Im Namen des Meeres klagt Michel Serres in der taz gegen BP. In Blogs und Medien wird weiter über Bezahlinhalte gestritten: Ohne öffentlich-rechtliche Inhalte im Netz könnten die Verleger ihre Angebote endlich zahlbar machen, hofft der Zeitschriftenlobbyist Wolfgang Fürstner im Tagesspiegel. Die SZ erklärt ihre Solidarität mit den Gentrifizierungsverlierern. Die FAZ sammelt öffentlich zugängliche Informationen zu Google und der CIA.
Aus den Blogs, 30.07.2010
Kevin Kelly stellt auf seinem Blog die Liste der besten amerikanischen Magazin-Artikel aller Zeiten zusammen ("He has found links to the text of each article",
staunt Mark Frauenfelder in BoingBoing) und fordert seine Leser auf, neue Vorschläge einzureichen.
Mehr dazu und auch einige Vorschläge des
Perlentauchers in unserem
Ententeich.
Und hier die bisherigen Top Five bei Kelly (zweimal David Foster Wallace!):
- David Foster Wallace,
"Federer As Religious Experience." The New York Times, Play Magazine, August 20, 2006.
- David Foster Wallace,
"Consider the Lobster." Gourmet Magazine, Aug 2004.
- Neal Stephenson,
"Mother Earth, Mother Board: Wiring the Planet." Wired, December 1996.
- Gay Talese,
"Frank Sinatra Has a Cold." Esquire, April 1966.
- Ron Rosenbaum,
"Secrets of the Little Blue Box." Esquire, October 1971.
- Jon Krakauer,
"Death of an Innocent: How Christopher McCandless Lost His Way in the Wilds." Outside Magazine, January 1993.
Der Medienwissenschaftler Stephan Weichert
gibt in einer bei
kress.de dokumentierten Rede seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Verleger
neue Torwächterpositionen errichten können: "Den Gratiswahn über Bezahlmodelle einzudämmen, wie es die Verlage immer wieder ankündigen, ist also überaus ambitioniert, aber mit einer
konzertierten Strategie könnte das vielleicht am Ende gelingen."
Dirk von Gehlen
stellt in seinem Blog dazu die Gegenfrage: "Das klingt gut und bringt in einer Rede sicher auch
zustimmendes Kopfnicken. Für mich folgt darauf jedoch die Anschlussfrage: Wenn das so ist, warum gibt es denn dann die Nachrichten der 'Verlagsriesen' noch
ohne Bezahlung im Netz? Weil sie plötzlich Web-Kommunisten geworden sind, die dem Gratis-Wahn erliegen und sich ohne Not fürs Verschenken entscheiden?" (Wozu anzumerken ist, dass die "Riesen"
FAZ,
SZ und auch die
Welt ihre Nachrichten
keineswegs kostenlos ins Netz stellen, denn die Bezahlmodelle sind in Deutschland nie aufgegeben worden, mehr
hier.)
Immer wieder zeigen sich deutsche Honoratioren gern an der Seite von
Finsterlingen aus Teheran. Das Blog
Free Iran Now meldet: "Der Teheraner Bürgermeister Mohammad Bagher Ghalibaf hat Hannover besucht und durfte sich bei der Gelegenheit auch gemeinsam mit dem iranischen Botschafter Ali Reza Sheikh-Attar in das
goldene Buch der Stadt eintragen - und ein
Foto mit
Gerhard Schröder gab es noch obendrauf."
FAZ, 30.07.2010
Detlev Borchers
stellt die neuesten Techniken vor, mit denen Datenbanken und öffentlich zugängliche Informationen zur Gewinnung von Informationen verknüpft werden. Nicht nur wissen diese "
Open Source Intelligence"-Systeme inzwischen große Teile dessen, was früher nur durch Spionage in Erfahrung zu bringen war. Es kommt auch zu den spannendsten beziehungsweise unheiligsten Allianzen: "Nun sorgt die Firma 'Recorded Future' für Schlagzeilen, weil der Suchmaschinenkonzern
Google und die Firma 'In-Q-Tel' in den Neustarter investierten. Hinter In-Q-Tel steht der amerikanische Geheimdienst
CIA, der in etliche Firmen investiert hat, die neue Wege der Informationsverarbeitung versprechen. Bei 'Recorded Future' soll die Vorhersage von Trends, '
Predictive Analysis' genannt, besonders präzise arbeiten."
Auf der Medienseite schildert der iranische
Schriftsteller Amir Cheheltan die Krise der etablierten
Medien im Iran, den Aufschwung des Internets, aber auch die verworrene Lage: "Dieser Tage genügt in Iran
ein Anruf, um das Erscheinen einer Zeitung zu verbieten; weder Anklageschrift noch Gerichtsverhandlung, weder eine Verteidigung noch ein Geschworenengericht, nichts von alledem. 2009 sind in Iran
neunzig Journalisten verhaftet worden, und kürzlich hat das Komitee zur Verteidigung von Journalisten mitgeteilt, dass ein Drittel der weltweit inhaftierten Reporter in Iran lebt."
Weitere Artikel: Andreas Kilb, der Chef-Schlossbeauftragte des
FAZ-Feuilletons,
fragt, warum nicht doch das
Kunstgewerbemuseum im zukünftigen Humboldt-Forum untergebracht werden sollte. Dirk Schümer
glossiert die wilde Entschlossenheit des italienischen Regionalministers, mit den rein
deutschprachigen Wanderwegsbeschilderungen in Südtirol aufzuräumen. Die wiedereröffneten
Kunstsammlungen Chemnitz hat Andreas Platthaus besichtigt. Schon bevor er Anfang nächsten Jahres ins Pergamon-Museum ziehen wird, konnte Camilla Blechen den in mühseliger Arbeit wiederhergestellten Tempelschmuck von
Tell Halaf bewundern. Den aktuellen Stand der amerikanischen Diskussion um die Immunität des
Heiligen Stuhls fasst Katja Gelinski zusammen.
Besprochen werden
Jossi Wielers Inszenierung einer dramatisierten Version von Stefan Zweigs Novelle "Angst" bei den Salzburger Festspielen (für "schandbar" hält allen Ernstes Gerhard Stadelmaier, was er da mit ansehen musste),
Dietrich Brüggemanns Film "Renn, wenn du kannst" und Bücher, darunter der Lyrikband "Buch der Niederlage" des chinesischen Autors
Bei Dao (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Tagesspiegel, 30.07.2010
Zeitschriftenlobbyist Wolfgang Fürstner
erklärt im Interview mit Joachim Huber, warum er die Angebote der
Öffentlich-Rechtlichen im Netz möglichst reduzieren möchte - um die
eigenen Bezahlangebote im Netz platzieren zu können: "Die Portale etablieren zurzeit eine digitale
gebührenfinanzierte Gratis-Presse, die in Zukunft beliebig ausgebaut werden kann. Da die private Presse, soll sie finanzierbar bleiben, künftig vermehrt auch digitale Ausgaben
verkaufen muss, ist eine solche Gratis-Presse eine existenzielle Gefährdung der Zukunft freier Presse."
TAZ, 30.07.2010
Im Interview mit Gernot Kamecke
erklärt der
Philosoph Michel Serres, der gerade in Berlin gastiert, warum er
Naturobjekte zu Rechtssubjekten machen will, so dass man zum Beispiel im Namen des Meeres
gegen BP klagen könnte: "Man stellt immer die Frage, wie wir die Umwelt verschmutzen, aber nie, warum. Ich gehe von einer Analyse des Verhaltens der Tiere aus, die durch Ausscheidungen die Grenzen ihrer Nischen markieren, und begründe darauf eine
Theorie des Eigentumsrechts. Das zentrale Axiom beruht auf der Doppeldeutigkeit des Begriffs propriete (Eigentum/Sauberkeit) und lässt sich vermutlich kaum ins Deutsche übertragen: Le propre, c'est le sale (ungefähr: Das Eigene ist das Verschmutzte). Etwas zu verschmutzen, bedeutet, sich etwas anzueignen, etwas in Besitz zu nehmen."
Weitere Artikel: Uh-Young Kim
erklärt, warum trotz Duisburg
Techno nicht tot ist. Joachim Lange
resümiert die erste Tage von Salzburg.
Und
Tom.
Weitere Medien, 30.07.2010
Google steht keineswegs mehr so konkurrenzlos da, wie immer noch gern behauptet wird, hat Fortune
herausgefunden. Hauptfeinde:
Apple und
Facebook.
NZZ, 30.07.2010
Der Zürcher Literaturwissenschaftler
Andreas Kilcher legt nochmals dar, dass der verbleibende
Kafka-Nachlass in einem Zürcher Safe, um den sich die ehemalige Sekretärin
Max Brods (die durch sporadische Verkäufe von Manuskripten reich geworden ist) und der Staat Israel streiten, keine großen Gehminisse mehr enthält - der Inhalt des Safes ist längst inventarisiert und wurde qua Kopien in der Kafka-Gesamtausgabe berücksichtigt. (Kafka-Biograf
Reiner Stach sah das kürzlich in der
Jüdischen Allgemeinen genauso)
Barbara Villiger-Heilig
erklärt, warum sie das
Schauspiel trotz des unvermeidlichen "Jedermann" für das Salzburger Stiefkind hält und stellt unmissverständlich klar, dass ihr
Peter Steins und
Klaus-Maria Brandauers "Ödipus auf Kolonos" auf die Nerven ging: "So nimmt die Sache ihren unerbittlichen dreistündigen Lauf in Steins redundant lehrerhafter, jeden Götternamen, jeden griechischen Schlüsselbegriff erklärender Eigenübersetzung, bis einem die
Ohren surren."
Und: Auf der Weltmusikseite
porträtiert Knut Henkel den dominikanischen Musiker
Juan Luis Guerra, der auf seiner neuen CD die kubanischen Genres erneuert. Außerdem werden das senegalesische
Duo-Projekt Daara J Familyund die neue CD von
Laurie Anderson vorgestellt.
Welt, 30.07.2010
Auf zwei halben Seiten drängeln sich heute die Kurzrezensionen. Besprochen werden das neue, laut Michael Pilz sehr "großartige" Album
"Suburbs" von
Arcade Fire, die
Bühnenadaption von
Stefan Zweigs Novelle "Angst" in Salzburg und eine Ausstellung über die frühe chinesische Zivilisation in Peking. Zu lesen ist auch ein kurzer Auszug aus
Hemingways Eloge auf den
Stierkampf - "die einzige Kunst, in der sich der Künstler
in Lebensgefahr befindet".
nachtkritik, 30.07.2010
An
Karl Kraus' "Reklamefahrten zur Hölle"
fühlt sich Thomas Rothschild anlässlich der etwas frivolen Feiern erinnert, mit denen die Salzburger Festspiele an
Max Reinhardt erinnern. Überhaupt hat er da einige sehr wütende Anmerkungen zu machen: "Die Nachkommen haben sich
gut eingerichtet in den Wohnungen und auf den Arbeitsplätzen, die ihre Eltern und Großeltern einst
arisiert, aus denen sie die jüdische Konkurrenz ins Exil und in den Tod getrieben haben. Die Söhne und Töchter, Enkelinnen und Enkel organisieren Tagungen über die ausgerottete jüdische Kultur, halten Vorträge über die verjagten Juden, deren Rückkehr
niemals erbeten wurde, und lassen sich das Honorar auf ihr Konto überweisen."
FR, 30.07.2010
Der derzeit sehr gefeierte Anwalt und
Autor Ferdinand von Schirach erklärt im Interview mit Julia Kospach, warum
Wahrheit für ihn als Strafverteidiger so eine unbrauchbare Kategorie ist: "Der Anwalt möchte das wissen, was er für die Verteidigung braucht. Wenn mein Mandant mir sagt: 'Ich war's!', ist meine Verteidigung viel, viel schwieriger."
Auf der Medienseite
schreibt Daniel Bouhs über Leser-Reporter, die künftig ihre Bilder auch an kommerziellen Dienste verkaufen können.
Besprochen werden Jossi Wielers
Bühnenadaption von
Stefan Zweigs "Angst" in Salzburg (mit einer
sensationellen Elsie de Brauw, wie Peter Michalzik meint: "
Bravo!"), das
Album "The Defamation of Strickland Banks" des Rappers
Plan B,
Will Eisners Comic "Ein Vertrag mit Gott",
Jedediah Berrys Roman "Handbuch für Detektive" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
SZ, 30.07.2010
Wie wenig München von der
Gentrifizierung genannten Segregation der Stadtviertel nach Einkommensverhältnissen verschont bleibt,
schildert Jonathan Fischer. Die nötigen Gegenmaßnahmen verhindert die bayerische Staatsregierung. Und ob Einzelinitiativen viel ausrichten, ist die Frage: "'Die Leute suchen doch nach Gemeinschaft, nicht nach vier Geschmackssorten Latte Macchiato.' Doch ob solche
Solidaritäts-Inseln allein die Gesetze des Marktes aushebeln können? Stadtteilforscher gehen davon aus, dass in zehn Jahren ohnehin niemand mehr über schicke Viertel diskutiert. Die Stadt wird dann wesentlich gravierendere Probleme haben: Die Zusammenballung der
Gentrifizierungs-Verlierer am Stadtrand."
Weitere Artikel: Mit der Konzeptkünstlerin
Yoko Ono, die im Herbst mit einer Einzelausstellung nach Berlin kommt, unterhält sich Catrin Lorch. Gemeinsam mit Reinhard J. Brembeck wägt Lorch auch Vor- und Nachteile der Tatsache, dass über die Besetzung von
Chefposten in der bayerischen Kultur kaum in offenen Ausschreibungen, sondern "obrigkeitsstaatlich" entschieden wird. Oliver Herwig würdigt die alpine Avantgarde-Architektur in
Südtirol.
Besprochen werden
Jossi Wielers Inszenierung einer dramatisierten Fassung von Stefan Zweigs Novelle "Angst" bei den Salzburger Festspielen (Christine Dössel sieht "hochexaktes, fragiles Schauspielertheater" in einer zu distanzierten Inszenierung), die "Walküren"-Wiederaufführung in Bayreuth mit
Christian Thielemann am Dirigentenpult, dem - so Wolfgang Schreiber - "berufenen Wagner-Dirigenten der Gegenwart", die Ausstellung "
1990 - Der Weg zur Einheit" im
Deutschen Historischen Museum,
Dietrich Brüggemanns Rollstuhlfahrerdramödie "Renn, wenn du kannst" und Bücher, darunter zwei Bände mit Briefen von und an
Sigmund Freud (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).