Heute in den Feuilletons

Kehlkopfgequietsche

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2010. In der NZZ erzählt Aatish Taseer, dass sich der Krieg der Islamisten zuallererst gegen die islamische Kultur richtet. Im Guardian liefert der Ayatollah Khamenei ein Beispiel. In der taz betont Azar Nafisi dass der Kampf gegen den Islamismus in erster Linie ein Kampf für Kultur ist. Medien und Blogs berichten über eine bevorstehende Steinigung im Iran. Christopher Hitchens schreibt in Slate über seinen Lungenkrebs. Die SZ kritisiert den Popanz der "Gentrifizierung", der gerade in Berlin jeden Fortschritt verhindert. Die FAZ berichtet über eine erstaunliche Wendung nach den Wikileaks-Enthüllungen zum Irak.

NZZ, 04.08.2010

Der britisch-indische Journalist Aatish Taseer, der in seinem Buch "Terra Islamica" die Welt seines pakistanischen Vaters ergründet, erklärt in einem sehr interessanten Artikel, warum sich der Zorn der Taliban gegen Pakistans Sufis richtet: "Im Falle Pakistans hat das Schema des Kulturkampfs zwischen westlicher und islamischer Welt das eigentliche große Thema der Landesgeschichte in den Hintergrund der Wahrnehmung gedrängt: Die allmähliche Erstickung der regionalen, synkretistischen Kultur durch einen triumphalistischen, globalen Islam, der einen neuen Geist der Rigidität und Intoleranz mit sich bringt. Es ist dieser Krieg - den die Pakistaner wie einen zweiten arabischen Eroberungsfeldzug empfinden -, der unlängst beim Selbstmordanschlag auf den Data-Sahib-Schrein in Lahore, eines der bedeutendsten sufistischen Heiligtümer der Region, 42 Todesopfer und rund 180 Verletzte forderte."

Felix Philipp Ingold entnimmt einer neuen Studie des russischen Historikers Arlen Bljum ("Vom Neolithikum zum Glawlit"), "dass die offiziell liquidierte Zensur inoffiziell nicht nur weiterbesteht, sondern zunehmend verschärft wird, eine Tendenz, die sich gerade auch darin zeigt, dass die Erforschung der sowjetischen Zensurgeschichte mehr und mehr behindert, teilweise sogar verunmöglicht wird. Von Bljum erfährt man dazu, dass manche Archive die Herausgabe ihrer Bestände neuerdings ablehnen mit der lapidaren Feststellung 'steht nicht z. V.' oder 'ist nicht themengerecht'."

Weiteres: Einen guten Start bescheinigt Claudia Schwartz dem neuen Chef Olivier Pere des morgen eröffnenden Filmfestivals von Locarno, auf dem auch Bruce LaBruces Aufregerfilm über einen schwulen Zombie "L.A. Zombie" zu sehen sein wird. Jürg Huber berichtet von den dem wiederentdeckten polnisch-sowjetischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg gewidmeten Bregenzer Festspielen. Besprochen werden Christian Mareks Geschichte Kleinasiens in der Antike und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 04.08.2010

Auf der Magazinseite widmet sich Daniel-Dylan Böhmer dem Fall der Iranerin Sakine Mohamadi Ashtiani, die von einem Gericht wegen Ehebruchs zum Tod durch Steinigung verurteilt wurde. Nach internationalen Protesten wurde die Vollstreckung zunächst ausgesetzt: "Gestern verkündete das Außenministerium, Teheran weise das Angebot Brasiliens zurück, Ashtiani nach einer Freilassung aufzunehmen. Das ist kein gutes Zeichen. Am heutigen Mittwoch ist ihr Anwalt zum Obersten Gericht in der Hauptstadt Teheran vorgeladen, und dort könnte ihm Ashtianis Begnadigung verkündet werden - oder dass sie gehängt wird oder auch gar nichts Neues."

Weiteres: Zum Verkauf des amerikanischen Magazins Newsweek an den 92-jährigen Unternehmer Sidney Harman kolportiert Ansgar Graw hübsch boshafte Kommentare: "Früher verkaufte man alten Leuten an der Haustür Jahresabos, jetzt sind es ganze Verlage." Thomas Lindemann versammelt verschiedene Erklärungen für die poptheoretische Wiederbelebung der Untoten. Besprochen werden eine Ausstellung zur "Geschichte der Rekonstruktion" in der Münchner Pinakothek der Moderne und die neuen Alben von Plan B und Richard Ashcroft.

TAZ, 04.08.2010

Die Autorin und Literaturprofessorin Azar Nafisi darf im Iran weder publizieren noch lehren und lebt jetzt in den USA. Nach "Lolita lesen in Teheran" ist gerade ihr zweites Buch erschienen "Die schönen Lügen meiner Mutter" (Leseprobe). Im Interview erklärt sie, wie wichtig Kultur - die eigene und die fremde, westliche - für den Freiheitskampf im Iran ist: "Tyrannen - ganz gleich ob sie Hitler heißen oder Stalin oder Chomeini oder Chavez - wissen genau, wer ihre Feinde sind. Also waren ihre ersten Ziele im Iran die Kultur, die Menschenrechte und die Rechte des Einzelnen. Frauen und Minderheiten gehörten zu ihren Hauptopfern. Wie in China gab es eine Kulturrevolution. Durch sie sollten Menschen mundtot gemacht werden. Aber solange es die Universitäten gibt mit ihren Büchern, werden die Bücher gefährlich sein können. Denn genau hier werden die Opfer stark: Wo sie merken, dass die Gewalt gegen sie nicht aus der Stärke des Regimes resultiert, sondern aus seiner Angst." (Nafisi hat auch die internationale Kampagne gegen die Steinigung von Sakine Mohamadi Ashtiani lanciert).

Besprochen werden eine Ausstellung der Arbeiten von Mona Hatoum in der Berliner Akademie der Künste und die Erinnerungen von Suze Rotolo an das New York der 60er Jahre (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 04.08.2010

Keine Trennung zwischen Judikative und Exekutive gibt's in der Islamischen Republik Iran, erläutert Christopher Beam in Slate in einem Artikel mit dem Titel "How Does Stoning Work in Iran?": "If the conviction is based on the prisoner's confession, the law says, the presiding judge casts the first stone. If the conviction is based on witness testimony, the witnesses throw the first stones."

Ganz wichtig ist dem Autor und Übersetzer Leopold Federmair in seiner Lektüre von Fabjan Hafners Studie über Peter Handke und Slowenien auf Inadaequat, dass Handkes Serbien-Idolatrie nicht an seinem literarischen Ruhm kratzt: "Sicher ist nur, dass Handke mit einer Blut-und-Boden-Ideologie, sofern hier, und das ist fast unvermeidlich, historisch-politische Assoziationen suggeriert sind, nie etwas am Hut hatte. Aus einem ganz bestimmten Grund: Handke sieht sich seit seinen literarischen Anfängen als Antikriegsdichter, später dann als Epiker des Friedens, während der Faschismus ohne aggressive Gestik und Kriegsverherrlichung nicht das sein kann, was er ist." Es ist eben ganz was anderes, wenn man im Namen des Friedens über Leichen geht!

(via 3quarksdaily) Project Syndicate hat Norman Maneas Rede zur Verleihung des italienischen Nonino-Preises veröffentlicht. Der rumänische Schriftsteller denkt darin auch über die Zukunft der Literatur nach: "It is impossible to predict what place, if any, literature will have in the future. I don't dare to believe, as Dostoevsky did, that beauty can save our world. But we may hope that it can play a role in consoling and redeeming our loneliness. We may hope that its promise of beauty, its challenge of truth, its redefinition of goodness, its unpredictable playfulness will be difficult to abandon even in uncertain and dangerous times. The artist remains, no matter how childish it may seem, a secret laborer of love."

Weitere Medien, 04.08.2010

Christopher Hitchens schreibt in Vanity Fair über seinen Speiseröhrenkrebs: "I have more than once in my time woken up feeling like death. But nothing prepared me for the early morning last June when I came to consciousness feeling as if I were actually shackled to my own corpse. The whole cave of my chest and thorax seemed to have been hollowed out and then refilled with slow-drying cement. I could faintly hear myself breathe but could not manage to inflate my lungs."

(via BoingBoing) Im Iran hat der oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei jetzt erklärt, dass Musik (und, darf man annehmen, auch jede andere Kunst) total nutzlos ist für die iranische Jugend, berichtet der Guardian. "Khamenei said: 'Although music is halal, promoting and teaching it is not compatible with the highest values of the sacred regime of the Islamic Republic.' Khamenei's comments came in response to a request for a ruling by a 21-year-old follower of his, who was thinking of starting music lessons, but wanted to know if they were acceptable according to Islam, the semi-official Fars news agency reported. 'It's better that our dear youth spend their valuable time in learning science and essential and useful skills and fill their time with sport and healthy recreations instead of music,' he said."

FR, 04.08.2010

Jens Balzer ist absolut hingerissen von der CD, die Blixa Bargeld und Carsten Nicolai alias Alva Noto unter dem Namen Anbb veröffentlicht haben. Bargeld war mit den Einstürzenden Neubauten zuletzt stagniert, meint Balzer. "Wie anders mit Nicolai! Gegen dessen gleichmütige Kälte strahlt Bargelds Gesang umso heller, in 'One' ebenso wie in dem herzzerreißenden 'Bernsteinzimmer', in dem er sich gegen einen Vielklang sirrender Störtöne durchsetzen muss. Selbst Bargelds charakteristisch-hohes Kehlkopfgequietsche, zwischenzeitig längst zur Marotte verkommen, ist plötzlich wieder ein Ereignis des Klangs: als verwandle der Sänger sich selbst in einen Maschinenton. Und man höre, wie beschwingt er zum Knackern eines defekten Filters den nihilistischen Südstaatenklassiker 'I Wish I Was A Mole In The Ground' intoniert: als ob in einer Techno-After-Hour nun Johnny Cash von den Toten ersteht."

Hier spielen die beiden "I Wish I Was ..." bei einem Konzert in Kopenhagen 2009:




Weiteres: Harry Nutt wandert über den Berliner Schlossplatz und rekapituliert noch einmal dessen jüngste Geschichte. Besprochen werden ein Alma und Gustav Mahler gewidmeter Abend beim Rheingau Musik Festival und Bücher, nämlich Angela Rohrs Reportagen und Erzählungen über den Gulag "Der Vogel", David Fannings Biografie des polnisch-russischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg und Stephan Wackwitz' Essayband "Fifth Avenue" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 04.08.2010

Ein echtes Premiumpublikumsproblem spricht Helmut Mauro in der Besprechung der Solo- und Kammermusikabende von Salzburg an: "Allerdings wurden manche Abende mit drei Stunden und mehr dann auch ein wenig lang. Eine Luxus-Besetzung wie Argerich & Friends erzwingt stets höchste Aufmerksamkeit, man möchte doch keinen Ton vermissen." Und dann noch Kissin: "Wo aber hat er diesen einsamen, in romantischer Isolationshaft verharrenden Chopin kennengelernt?"

Jens Bisky kritisiert in einem lesenswerten Essay zu den urbanistischen Problemen Berlins den Popanz der "Gentrifizierung", der oft beschworen wird, um jede Veränderung in der Stadt zu verhindern. Eines der Beispiele: das unsägliche Kunsthaus Tacheles, dessen "Künstler" sich auf keinen Fall räumen lassen wollen, obwohl anderswo in der Stadt genug Platz für sie wäre: "Die Frage bleibt dennoch, was das Kunsthaus anderes ist als eine Art Avantgardisten-Streichelzoo für Berlin-Besucher. In bester Lage führt man hier vor, was Touristen gern für authentische Berliner Atmosphäre halten... Die protestierenden Tacheles-Künstler handeln nicht anders als die griechischen Lkw-Fahrer oder die deutschen Apotheker: Man verteidigt Privilegien und Marktzutrittsbarrieren."

Weitere Artikel: Henning Klüver erinnert an den Terroranschlag auf den Bahnhof Bologna vor dreißig Jahren, der bis heute nicht völlig aufgeklärt ist.

Bresprochen werden der Film "Mother" (mehr hier) des jungen koreanischen Regisseurs Bong Joon Ho, eine Dennis-Hopper-Ausstellung in Los Angeles und Bücher, darunter Heinrich Deterings Essay "Der Antichrist und der Gekreuzigte" über Friedrich Nietzsches letzte Texte.

Und hier noch eine qualitätsjournalistische Bildstrecke der SZ-Online-Kulturabteilung: "Frau im Bild". Wer einem so viel Gutes beschert, der ist schon ein Leistungsschutzrecht wert!


FAZ, 04.08.2010

"Eine erstaunliche Wendung" nehme derzeit die Diskussion um WikiLeaks, berichtet Detlef Borchers im Medienteil und skizziert ein unheimliches Überwachungsszenario: So spreche viel dafür, dass der mittlerweile inhaftierte Soldat Bradley Manning, der WikiLeaks das Material für das Video "Collateral Murder" zugespielt haben soll, sich keineswegs, wie bislang verlautet, dem Ex-Hacker Adrian Lamo anvertraut und damit selbst ausgeliefert habe. Vielmehr sei er von diesem regelrecht ertappt worden: Lamo, so Borchers unter Berufung auf diesen Artikel auf Forbes.com, arbeite für Project Vigilant, eine privatwirtschaftlich unterstützte Organisation, die den Netzwerkverkehr der 12 größten Internetprovider der USA dauerüberwache: "Täglich soll Vigilant die Aktivitäten von mehr als 250 Millionen IP-Adressen speichern und imstande sein, 'über jeden Namen, jedes Pseudonym oder jede IP-Adresse einen Bericht zu erstellen'. [...] Stimmen die Angaben (...), ist Bradley Manning nicht mehr der allzu naive Soldat, der sich einem überraschten Dritten anvertraute. Stimmen die Angaben, werden amerikanische Bürger in größerem Stil überwacht als bisher angenommen." (Hier ein Bericht mit weiterführenden Links von Glenn Greenwald für Salon)

Weitere Artikel: Mit seinem Urteil zur Stärkung der Rechte lediger Väter hat das Verfassungsgericht dem im Herbst erscheinenden Roman "Die Liebe der Väter" von Thomas Hettche "ungeahnte Aktualität verliehen", findet Sandra Kegel. Aus Anlass des Stierkampfverbots in Katalanien blickt Paul Ingendaay in die Kulturgeschichte der "Tauromachie". Restlos begeistert ist Bert Rebhandl von der US-Serie "Breaking Bad", in der ein mit Krebs diagnostizierter Chemielehrer in Drogen macht, um für seine Familie vorzusorgen. Gemeldet wird, dass das heute beginnende Filmfestival Locarno den italienischen Regisseur Francesco Rosi für sein Lebenswerk auszeichnet (hier unser Filmkritiker Ekkehard Knörer über Rosis Filme).

Besprochen werden der koreanische Film "Mother" (mehr), Dennis Kellys sehr eigene Version des "Prinz von Homburg" im Londoner Donmar Warehouse, zwei frisch auf DVD veröffentlichte Filme von Bertrand Tavernier, die vierzehnstündige Dokumentationsserie "The War" von Kevin Burns, eine Aufführung von Francesco Gasparinis barocken Opern im österreichischen Damtschach, die Wiederaufnahme des "Rings" und der "Meistersinger" in Bayreuth und Bücher, darunter "Liebe, Lust und Last", Eva-Maria Silies' Zeitgeistgeschichte der Pille in Deutschland (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).