Heute in den Feuilletons

Das Gebaren der neuen Sozialkontrolleure

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2010. Freie Journalisten sollen nach Einführung eines Leistungsschutzrechts doch irgendwie bezahlen, wenn sie auf Zeitungsseiten im Netz recherchieren, fordert ein Verdi-Funktionär. Aber die Verlage sollen es ihnen dann zurückzahlen. Darauf setzt es in den Blogs Kritik an den Journalistengewerkschaften. Die SZ-Online appelliert im Schlusswort zu ihrer Serie "Wozu noch Journalismus" an die Medienpolitik. Und die NZZ kündigt an, ihr Netzangebot zahlbar zu machen.

NZZ, 10.08.2010

Zwar haben Bezahlmodelle bei Online-Ausgaben von Zeitungen bisher nicht recht funktioniert, berichtet Gordana Mijuk: "Dennoch plant in der Schweiz auch die NZZ-Gruppe, nächstes Jahr ein Gebührenmodell einzuführen. 'Wir müssen für hochwertige Inhalte Geld verlangen', sagt Peter Hogenkamp; er ist neuer Leiter Digitale Medien beim Verlagshaus. 'Sonst können wir künftig die Redaktionen nicht finanzieren.'"

Aldo Keel kann melden, dass die Isländer in Sprachangelegenheiten an ihrem rigorosen Purismus festhalten und auch weiterhin nur Namen zulassen, die dreimal in den Sagas auftauchen. Sonja Hildebrand erinnert an den Zürcher Meisterarchitekten Karl Moser, der nie der Forderung zum Kunstverzicht gefolgt war. Jan-Werner Müller schreibt den Nachruf auf den britischen Historiker Tony Judt.

Besprochen werden Patrick Modianos Roman "Place de l'Etoile" und Otfried Höffes Band zu "Thomas Hobbes" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 10.08.2010

(Via Freischreiber) Nun ist es also heraus: Wer künftig als Journalist auf Medienseiten im Netz recherchieren will, soll Verträge mit einer künftigen Verwertungsgesellschaft der Verlage schließen und nachweisen, dass er Journalist ist. Das wäre eine Folge des Leitungsschutzrechts, die der Ver.di Justiziar Wolfgang Schimmel im Interview mit dem Mediendienst Promedia (hier als pdf-Dokument) ausdrücklich befürwortet: "Es wäre nicht einfach, freie Journalisten im Gesetz von Vergütungsansprüchen freizustellen. Die Probleme fangen bereits an, wenn man versucht den Kreis der Begünstigten zu definieren: Journalismus ist eine ungeschützter Beruf, es gibt also - aus sehr guten Gründen übrigens - keiner Zulassung oder Genehmigungsverfahren. Die praktische Konsequenz ist, dass sich jede und jeder Journalist nennen kann. Die Verlage sind aber bereit, das Problem vertraglich zu lösen."

Ulrike Langer erzählt in ihrem Blog die "Chronologie eines Ausverkaufs" und kritisiert die Journalistengewerkschaften in der Frage des Leistungsschutzrechts: "Sehr schnell, allzu schnell, haben die Journalistengewerkschaften dju (ver.di) und DJV ihre grundsätzliche Zustimmung zum geplanten Leistungsschutzrecht (LSR) der Presseverleger gegeben. Mit der Begründung, was man schon nicht verhindern könne, darauf könne man zumindest im Interesse der Journalisten Einfluss nehmen. Die Wahrnehmung der Interessen freier Journalisten ist im Zuge der Debatte allerdings immer mehr unter die Räder geraten."

Welt, 10.08.2010

Der Designprofessor Friedrich von Borries erklärt in aller Ausführlichkeit, warum wir uns heute freiwillig von allerlei elektronischem Gerät - GPS, Videokameras - überwachen lassen: wegen "unserer eigenen Ansprüche an die uns fast schon totalitär umgebende Service- und Entertainement-Kultur". Besprochen werden Justin Cronins Vampirroman "Der Übergang" und eine "Elektra" in Salzburg.

TAZ, 10.08.2010

In ihrem Nachruf auf Tony Judt erzählt die lange in Wien Philosophie lehrende Isolde Charim folgende Episode: "Als er im Juni 2007 in Wien einen Vortrag unter dem Titel 'Is Israel (still) good for the Jews?' hielt, mussten wir Saalschutz anfordern. In der ersten Reihe saß sein damals 10-jähriger Sohn. In der Diskussion meldete sich dieser zu Wort: 'Als dein Sohn habe ich miterlebt, wie du als Antizionist und als Jude voller Selbsthass kritisiert wurdest. Haben diese Leute einfach nur Angst zuzugeben, dass Israel auf einem falschen Weg ist oder glauben sie immer noch an Israel?'"

Besprochen werden eine Ausstellung über die Kleidung der Königin Luise in Paretz und Kai A. Konrads und Holger Zschäpitz' Studie "Schulden ohne Sühne? Warum der Absturz der Staatsfinanzen uns alle trifft" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf den vorderen Seiten berichten Sven-Michael Veit und Wolf Schmidt über die Schließung der Moschee im Hamburger Stadtteil St. Georg. Sie war seit Jahren ein Treffpunkt islamischer Fanatiker, auch die Attentäter des 11. September 2001 trafen sich dort. "Den Zeitpunkt des Verbots des Hamburger Moscheevereins erklärten Innensenator Ahlhaus und Lothar Bergmann, der Leiter der Antiterrorkoordinierungsstelle in der Innenbehörde, damit, dass die Unterlagen 'gerichtsfest sein mussten'. Das habe monatelanger intensiver Vorarbeiten bedurft, schließlich sei Deutschland 'ja ein Rechtsstaat'."

Und Tom.

Berliner Zeitung, 10.08.2010

Der Blogger Peter Glaser findet nicht, dass man den obersten App-Begutachter Steve Jobs als Zensor betrachten kann: "Liebe Programmierer, schreibt eure Software für den Browser, nicht für den App-Store, in dem Apple sein Hausrecht wahrnimmt. Dass es in Disneyland in den Souvenirshops keine Sexhefte gibt, ist keine Zensur."

Weitere Medien, 10.08.2010

Vor dem Hintergrund Netzneutralitätsdebatte um Google und Verizon schreibt Lawrence Lessig in der New York Times über die grundsätzliche Bedeutung der Netzneutralität: "As much as anything else, the economic success of the Internet comes from its architecture. The architecture, and the competitive forces it assures, is the only interesting thing at stake in this battle over 'network neutrality.' And yet, the most senior economic advisers in the White House don't seem to know what that means. They could, if they took the time. Barbara van Schewick's extraordinary new book, 'Internet Architecture and Innovation,' is perhaps the best explication of this point so far for those who should be studying these hard, new policy questions."

Bei dem Deal zwischen Google und Verizon ist die Netzneutralität nicht in Gefahr, glaubt Richard Adams im Guardian und erklärt, worum es dabei genau geht: "In a nutshell the two companies are putting forward a system of regulation that suits them both, as you might expect. One cynical way of reading this is to think of Google and Verizon as two syndicates carving out a piece of the action: Google gets a commitment to net neutrality over the standard, wired internet that people access via computers at home or at work, while Verizon gets far weaker regulation on wireless networks accessed via smartphones."

Hier die entscheidende Passage aus dem Op-Ed, das Google-Chef Eric Schmidt und und Verizon Ivan Seidenberg in der Washington Post geschrieben haben: "With respect to wireless broadband networks, we agree that the rapidly evolving wireless Internet is a different kind of network, with unique technical and operational challenges, demanding different consideration than wireline networks."

Valleywag setzt Links zu Gizmodo und Salon, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigen.

FR, 10.08.2010

Darja Klingenberg erzählt, wie Wladimir Putin Kritik an der Regierung aufnimmt. Es läuft einem kalt den Rücken runter. Einem Blogger, der sich über die Waldbrände und das Krisenmanagement aufregte, antwortete Putin: "Im Großen und Ganzen bin ich mit Ihnen einverstanden. Sie sind ein bewundernswert geradliniger und aufrichtiger Mensch. Einfach ein Prachtkerl. Und Sie sind zweifelsfrei ein begnadeter Autor. Der von seinem Schreiben ganz sicher ebenso gut wie Lenins Lieblingsschriftsteller Gorki leben könnte... Bei Hinterlegung Ihrer Adresse bekommen Sie vom Gouverneur unverzüglich Ihre Alarmglocke. Aufrichtig, Ihr Wladimir Putin."

Weiteres: Peter Schneider schickt Impressionen aus New York, wo er sich unter anderem sein Portemonnaie hat klauen lassen und U-Bahn gefahren ist: "Die New Yorker subway unternimmt einen Groß-Angriff auf alle fünf Sinne des Benutzers." Besprochen werden eine eine introvertierte "Elektra" von Richard Strauss in Salzburg und Peter Kempers Basis-Biografie Muhammad Alis (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 10.08.2010

Jens Bisky macht sich im Aufmacher Gedanken über die gegenwärtige Lage des deutschen Mittelstands. Christine Dössel wurde von der Redaktion der SZ nach Epidauros geschickt, wo sie im Rahmen des Hellenic Festivals eine "Othello"-Inszenierung Thomes Ostermeiers sah, die sie aber nicht vollends überzeugte. Rudolf Neumaier erklärt, wie es kommt, dass wir - zusätzlich zur Kirchensteuer - nach einem Konkordat von 1803 auch noch die Gehälter von Kirchenoberen zahlen (eine Summe nennt er nicht, aber laut dem Holtzbrinck-Nachrichtenportal Noows.de, das wir bei dieser Gelegenheit entdecken, sind es immerhin 460 Millionen Euro jährlich). Richard Fleming erklärt, wie die in Kolumbien populäre Champeta-Musik aus Westafrika in die Karibik gelangt ist. Gustav Seibt erzählt die Geschichte des Muskauer Parks, der zur Zeit wegen des Neiße-Hochwassers überflutet ist. Peter Henning besucht den Autor Paul Nizon in Paris. Fritz Göttler schreibt zum Tod der Schauspielerin Patricia Neal.

Besprochen werden Strauss' "Elektra" in Salzburg und eine Ausstellung über die Wohnbauten des Roten Wien ebendort.

Mit einem erstaunlich kraftlosen Schlusswort beenden Stephan Weichert, Leif Kramp und Hans-Jürgen Jakobs ihre endlose SZ-Online-Reihe "Wozu noch Journalismus". Zwar plädieren sie gegen ein Leistungsschutzrecht, aber am Ende bleibt doch nur der Appell an die Politik: "Es ist, so glauben wir, gerade Aufgabe der Medienpolitik, die generelle Funktion des Journalismus als 'Vierte Gewalt' sicherzustellen, um mittelfristig einem weiteren Rückgang des demokratischen und zivilgesellschaftlichen Engagements entgegenzuwirken."

FAZ, 10.08.2010

Im Medienteil schreibt Norbert Schneider, Direktor der "Landesanstalt für Medien NRW", einen besorgten Essay über den digitalen Menschen als einen aus Datenmengen geformten, geldwerten Abdruck seines analogen Pendants, den sich Datenakkumulateure insgeheim zusammenbasteln. Und deren Regulierung fordert Schneider nachdrücklich: "Der Grund liegt auf der Hand. Noch unöffentlicher, noch geheimer als die Finanzwirtschaft ist derzeit nur noch das Gebaren der neuen Sozialkontrolleure. Niemand weiß genau, welche Daten sie sammeln und welchen Weg sie nehmen. Niemand kann sagen, wo sie lagern, und nur in seltenen Fällen, wie lange. Kein Wunder, dass ich annehmen muss, dass meine Daten, nachdem sie mich verlassen haben, jederzeit gegen mich oder zum Nutzen anderer verwendet werden können."

Weitere Artikel: Jordan Mejias fasst die Kontroversen (zum Beispiel hier) um den jüngsten Spendenwillen einiger US-Milliardäre (mehr) zusammen. Marcus Jauer mokiert sich über den radioaktiv strahlenden Prenzlauer Berg (mehr). Martin Otto fasst die Münchner Tagung "Literaturwissenschaftliche Annäherungen an Recht und Gesetz" zusammen. Klaus Englert berichtet von Protesten gegen den Bau einer Verkehrsschneise durch Valencias historisches Stadtviertel. Nachgerufen wird der Schauspielerin Patricia Neal.

Besprochen werden die Ausstellung "Uncanny - Surrealism and Graphic Design" in Brno, eine Aufführung der Richard-Strauss-Oper "Elektra" in Salzburg und Bücher, darunter "Letzte Stories" von Franz Dobler (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).