Heute in den Feuilletons

Christoph hatte mindestens 11 Dimensionen

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23.08.2010. Christoph Schlingensief ist tot. Die Feuilletons feiern ihn als Künstler jenseits der Kunst: "als wäre der Messias, dessen Rolle er als Künstler gespielt hatte, zum Heiland geworden",  als ins Scheitern Verliebten, aber auch als zart, verletzlich, zugeneigt. Schlingensief selber dachte bis zum Schluss pragmatisch und erzählt in einem Interview auf seinem Blog, wie er im Kino klauen lernte und diese Kunst im Theater perfektionierte.

Aus den Blogs, 23.08.2010

Schlingensiefs vorletzter Tweet verweist auf seinen letzten Blogeintrag:



Das Schlingensief-Blog bringt ein Gespräch zwischen Max Dax und Schlingensief aus Spex, in dem sich Schlingensief als Vorläufer der Mash-Up-Ästhetik entpuppt und erzählt, wie er im Film und im Theater "klaute": "Ich fühlte mich gezwungen, mich beim Klauen nicht erwischen zu lassen. Ich hatte Angst, mit unserem Vorgehen Urheberrechte zu verletzen. Also habe ich Originaldialoge geklaut, aber wir montierten sie bis zur Unkenntlichkeit neu... Heute wundere ich mich über mich selbst, dass ich damals so gehemmt war. Heute, in meiner Arbeit am Theater, verwurste ich hemmungslos Originalquellen und füge sie zu Neuem zusammen."
Stichwörter: Urheberrecht, Dax, Max

Berliner Zeitung, 23.08.2010

Ulrich Seidlers erster Impuls, als er hörte, dass Schlingensief gestorben ist? Schlingensief anrufen. "Herr Schlingensief, wie Sie wissen, sind Sie gestorben. Wie wir Sie kennen, werden Sie sich mit einer solchen Ungerechtigkeit nicht abfinden. Was wollen Sie dagegen tun?"

FR, 23.08.2010

Die FR trauert fast im ganzen Feuilleton um Christoph Schlingensief. Peter Michalzik erinnert sich sehr bewegt an Künstler und Mensch - "das größte Herz, das im Kunstbetrieb zu finden war": "Ja, Schlingensief war von sich selbst besessen, er war manisch. Aber er mochte so manisch und selbstbesessen sein, wie er wollte, am Ende ging es ihm doch vor allem um die Mitmenschen. In seiner selbst erfühlten und ausgedeuteten Religiosität, seiner Bereitschaft, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, für andere mitzuempfinden, hatte er Qualitäten, die über das Gebiet der Kunst hinaus gehen und nur durch religiöse Vorbilder beschrieben werden können. Er hasste falsche Töne und falsche Harmonie, er hasste Verlogenheit und Gesäusel. Da wollte er die Welt verändern. Und das war schön."

Außerdem versammelt die FR Stimmen zum Tod von Schlingensief. Abgedruckt werden auch zwei Interviews mit Schlingensief aus den Jahren 2004 und 2008. Daniel Kothenschulte widmet sich noch einmal Schlingensiefs Filmen.

Außerdem: Sylvia Staude hat sich die ersten Stücke beim Festival Tanz im August angesehen. In der Times mager erklärt Harry Nutt, wie man Jugendliche an die Kultur bringt.

NZZ, 23.08.2010

Barbara Villiger Heilig würdigt im Nachruf Christoph Schlingensief  als Gesamtkunstwerk. Eins der wichtigsten Themen in seinem Schaffen war "Krankheit" - nicht nur, aber auch die eigene, an der er schließlich starb: "Durch die Krankheit rückte in den Mittelpunkt seines Denkens das Leiden und die Kraft, welche daraus entstehen kann: als wäre der Messias, dessen Rolle er als Künstler gespielt hatte, zum Heiland geworden. Christoph Schlingensief war in jedem Sinn eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Scharlatan und Schamane."

Noch vor einem Monat hat die Thomas David ein sehr schönes Interview über die "Nanosekunden des Glücks" mit Schlingensief geführt, das wir für signandsight.com übersetzen durften.

Weitere Artikel: Brigitte Kramer berichtet über die Proteste gegen eine breite Autostraße, die durch Valencias denkmalgeschützten Vorort El Cabanyal gebaut werden soll. Historiker Georg Kreis beschreibt die Belagerung und Beschießung Straßburgs durch deutsche Truppen im Sommer 1870 als Vorläufer des "totalen Krieges".

Besprochen werden die Ausstellung "Joan Miro. Die Farben der Poesie" im Baden-Badener Museum Frieder Burda, die Aufführung von Gustav Mahlers Neunter Sinfonie beim Lucerne Festival und die Vater-Biografie "Verschwundener Journalist" von Eva Züchner.

TAZ, 23.08.2010

"Christoph Schlingensief war ein Teil jener Kraft, die stets das Gute will, daran scheitert und trotzdem weitermacht", schreibt Daniel Schulz im Aufmacher der Zeitung und vermisst schon jetzt seine vorbildliche Heiterkeit: "Er hatte etwas, was der sauertöpfischen deutschen Linken von Klaus Ernst bis Günter Grass heute so oft fehlt. Trotz eines wanderpredigerartigen Habitus besaß Schlingensief eine so große Lust am Anarchischen und am Ausprobieren, dass die Angst zu scheitern davor kapitulieren musste. Arbeitslose in den Wolfgangsee springen lassen, ein Operndorf in Burkina Faso."

Den ausführlichen Nachruf liefert Katrin Bettina Müller auf den Tagesthemen, mit besonderem Blick auf die Theaterinszenierungen, in denen er die Angst vor dem Tod verhandelte und das "Unglück der Krankheit" in das Glück verwandelte, "von allen geliebt zu werden".

Im Feuilleton unterhält sich Doris Akrap mit dem Kulturwissenschaftler Volkmar Billig über die Faszination für Inseln als einen Ort, "an dem der Mensch zu finden glaubt, was ihm im Lauf der Zivilisation verloren gegangen ist". Besprochen werden die Ausstellung "Voyeurismus" in Londons Tate Modern und Richard Linklaters Film "Me and Orson Welles".

Und Tom.

Welt, 23.08.2010

Andreas Rosenfelder würdigt im Nachruf Christoph Schlingensiefs Charme und Aktionismus. Man habe ihn deshalb oft "als Medienclown missverstanden. Dabei erinnerte er die zutiefst abgeklärte Kulturszene einfach nur daran, dass Handeln möglich ist, ohne jeden Sinn für Widersprüche über Bord zu werfen. Einmal, das war in Köln nach einer etwas verkrampften Podiumsdiskussion über 'Die Kraft der Negation', ahmte Schlingensief abends in einer Cocktailbar eine Aktion von Joseph Beuys nach, die ihn für sein Leben geprägt hat: 'Ja ja ja ja ja', seufzte er immer wieder mit geschlossenen Augen, und im Wechsel dazu: 'Nee nee nee nee nee.' Niemand hat mehr Zweifel, mehr nackte Angst in seine Kunst eingebracht als Schlingensief."

Auch die Stimmen einiger Weggefährten Schlingensiefs wurden gesammelt. Luc Bondy: "Wir leben in einer gesättigten Kultur voller Pessimismus. Dagegen ist Schlingensief aufgetreten: parzivalhaft und vor allem als Kämpfer, der seine Projekte mit Inbrunst anging." Elfriede Jelinek: "Schlingensief war einer der größten Künstler, die je gelebt haben." Katharina Wagner: "Alles wurde hier in Bayreuth nach Schlingensief offener, flexibler." Hans Ulrich Obrist: "Wenn ein Künstler ein Staatskrise auslösen kann, so dachte ich immer, dann nur Christoph. Über ihn zu sprechen ist, wie über die Super String Theorie zu sprechen, auch Christoph hatte mindestens 11 Dimensionen."

Im Feuilleton sieht Alan Posener die schwarze Pädagogik der DDR wieder aufleben: in Westschulen. Wegen des Lehrerüberhangs im Osten kommen nämlich immer mehr Ost-Pädagogen in den Westen. "'Dabei entdecken Ur-Konservative und Ex-Kommunisten überraschende Übereinstimmungen', sagt ein West-Berliner Fachleiter für Geschichte. 'Sie sind autoritär, misstrauen der Eigenverantwortlichkeit der Schüler, schielen auf den nächsten Vergleichstest, stellen Kontrolle vor Vertrauen.'"

Weitere Artikel: Deutsche Museumsdirektoren fliehen wegen der miesen Arbeitsbedingungen zunehmend ins Ausland, meldet Stefan Koldehoff. In einer zweiten Meldung informiert er uns über den Diebstahl von van Goghs Gemälde "Vase mit Blumen" aus dem "Mohammed Mahmoud Khalil & His Wife Museum" in Kairo. Matthias Heine würdigt das Neue Testament als Roman. Thomas Lindemann berichtet von der GamesCon über neue Trends bei Videospielen. Dennis Sand beobachtet die Übertragung von Wagners "Walküre" auf dem Bayreuther Volksfestplatz. Besprochen wird Willy Deckers Inszenierung der theatralischen Erzählung "Leila und Madschnun" in Bochum zur Eröffnung der Ruhrtriennale.

SZ, 23.08.2010

Christine Dössel und Egbert Tholl erinnern auf Seite 3 der SZ an Christoph Schlingensiefs letztes Spekaktel "Via Intolleranza II" bei den Münchner Opernfestspielen und sein Projekt eines Bayreuth für Burkina Faso: "Schlingensiefs Energie, dem kranken Körper abgerungen, machte die Aufführung zu einem aufwühlenden Erlebnis. Aber nicht nur das. Radikal rechnete Schlingensief mit seiner eigenen Hybris ab, er könnte etwas bewirken. Der Traum des Operndorfes, er lebte zwar in der Aufführung, und er lebt weiter, auch nach Schlingensiefs Tod. Aber man darf nichts erwarten. Immer hat Europa etwas von Afrika erwartet und hat es nur bekommen, wenn es sich dieses Etwas mit Gewalt nahm."

Weitere Artikel: Im Aufmacher freut sich Jens Bisky über die neue Kleist-Ausgabe bei Hanser, die übrigens von dem "Radikalphilologen" Roland Reuß mit betreut wurde. Barbara Gärtner fragt, was nun aus dem deutschen Biennale-Pavillon in Venedig wird, der nächstes Jahr von Christoph Schlingensief bespielt werden sollte. In den "Nachrichten aus dem Netz" erzählt Niklas Hofmann, wie aus den Interviewäußerungen eines jungen Mannes, der seine Schwester vor er einer Vergewaltigung retten konnte, bei Youtube ein Riesenhit wurde. Kai Strittmatter erzählt, dass das Künstlerhaus in der Traumvilla Tarabya in Istanbul, das letztes Jahr schon als visionäres Projekt der deutschen auswärtigen Kulturpolitik und der deutsch-türkischen Zusammenarbeit gefeiert wurde, nun an internen Widerständen des Auswärtigen Amts zu scheitern droht.

Besprochen werden die Kulturhauptstadt-Ausstellung "Emscherkunst 2010 - eine Insel für die Kunst" (mehr hier), Mahlers Neunte unter Claudio Abbado in Luzern, die Eröffnung des Schwerpunkts Islam bei der Ruhrtriennale mit dem von Albert Ostermaier und dem Komponisten Samir Odeh-Tamimi verantworteten Versepos "Leila und Madschnun" und Bücher, darunter Hilary Mantels historischer Roman "Wölfe" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.08.2010

In seinem Nachruf würdigt Michael Althen nicht weniger als den Künstler den Menschen Christoph Schlingensief: "Das war eben auch Schlingensief. Zart, verletzlich, zugeneigt. Das war er immer schon gewesen. Auch wenn man es nicht immer gesehen hat, weil sich das Grelle, das Getriebene, die Provokation davorgeschoben hat. Aber wer ihn erlebt hat, wie er jeden, dem er begegnete, in seine Gegenwart einband, wie er auf Leute zuging, als sei keine Zeit vergangen, seit man sich das letzte Mal gesehen hat, wusste, wie zugewandt er den Menschen war - und wie groß sein Herz." Mit kurzen Reminiszenzen kommen außerdem Jossi Wieler, Christian Thielemann, Klaus Biesenbach und Susanne Gaensheimer zu Wort.

Weitere Artikel: Im Interview begreift Christoph Ingenhoven, Architekt des heftig umstrittenen Bahnhofsprojekts "Stuttgart 21", den Widerstand gegen das Vorhaben als symptomatisch für "aktuell grassierende Kritik an der Moderne schlechthin". Mit maßvoller Freundlichkeit und nur etwas hochgezogener Braue blickt Jochen Hieber auf das Bayreuther Popularisierungsprojekt "Wagner Viewing", bei dem die Massen in allerdings "bisweilen fahrlässiger Freizeitkleidung" umsonst und draußen zur Liveübertragung vom Grünen Hügel zusammenkommen. In der Glosse stellt Mark Siemons China als das Land der 42.000 Umfrageinstitute vor.

Besprochen werden Albert Ostermaiers und Samir Odeh-Tamimis bei der Ruhrtriennale uraufgeführte Gegenwartsversion des mittelalterliche Versepos' "Leila und Madschnun", "A Carta de Jamaica", das Kunstprojekt der Goethe-Institute zur Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit der Länder Südamerikas, und Bücher, darunter die deutsche Erstübersetzung von J.R.R. Tolkiens "Edda"-Nachdichtung (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).