Heute in den Feuilletons

Heiße Theorie der Amarna-Epoche

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2010. Es gibt kein geistiges Eigentum, sagt Jean-Luc Godard laut BoingBoing und spendet einem angeklagten Piraten tausend Euro. Der Blogger James Bridle hat bei beim Stichwort Iraq War in der Wikipedia auf den History Button gedrückt - und bekam ein zwölfbändiges Geschichtswerk. Die Zeitungen stürzen sich auf Cornelia Funkes neuen Roman "Reckless". In der SZ kritisiert der Skandinavistikprofessor Bernd Henningsen den "Meinungsfreiheits-Fundamentalismus" Angela Merkels, die Kurt Westergaard auszeichnete und damit den Rechtspopulisten zuarbeite.

NZZ, 14.09.2010

Der amerikanische Pastor Terry Jones, der mit einer angekündigten und dann abgesagten Koranverbrennung für Aufregung gesorgt hat, wusste genau, wie man mit den Medien umgeht, schreibt Angela Schader: "Die Medien schließlich hätten sich ein Beispiel an Hamzah Moin nehmen dürfen, der auf der Website 'Maniac Muslim' schon Anfang August satirisch über das erbärmliche Scheitern des 'Burn a Qur'an Day' berichtete. Die christlichen Eiferer, gewahr geworden, dass der Koran längst auch im Internet kursiert, fackeln in Moins fiktiver Reportage zwar treulich auch ihre PC und Laptops ab. Doch dann müssen sie vernehmen, dass Millionen von Muslimen den ganzen Koran auswendig können. 'Soviel ich weiß, ist es gegen das Gesetz, Menschen zu verbrennen, deshalb mussten wir aufhören - irgendwie war die Luft draußen', seufzt der hart geprüfte Pastor Jones am Ende."

Weiteres: Barbara Villiger Heilig resümiert die Zeit von Matthias Hartmann als Regisseur und Intendant in Wien und bemerkt, dass sich das Burgtheater unter ihm großer Beliebtheit erfreut. Michelle Ziegler berichtet, dass das Schweizer Tonkünstlerfest zum ersten Mal im Rahmen des Lucerne Festivals unter dem Titel "(Z)eidgenössisCH" stattfand, und Komponist Franz Furrer-Münch erhielt den Prix Marguerite Staehelin.

Besprochen werden die Spielzeiteröffnung des Basler Theaters, Max Frischs "Graf Öderland", und Bücher: Thomas Hettches Roman "Die Liebe der Väter", Angelica Ammars Werk "Die Zeit der grünen Mandeln" und Denis Johnsons Thriller "Keine Bewegung" (Mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 14.09.2010

Blamiert haben sich in der Sarrazin-Debatte vor allem die Medien, meint Peter Schneider. "Eine zweite Parallelgesellschaft zeigte sich da, die Parallelgesellschaft der Politiker und Meinungsführer, die ihre Kinder natürlich nicht auf Problemschulen mit 90 Prozent muslimischen Schülern schickt. Zu spät haben sie gemerkt, dass sie Sarrazin mit ihrer hysterischen Reaktion zu einem Volkshelden gemacht und die Kluft zwischen sich und einer Mehrheit, die nicht mehr schweigt, abermals vergrößert haben. Durch Sarrazins Erfolg verschreckt, fordern sie jetzt eine 'schonungslose Debatte über Integration' und beweisen damit erst einmal, dass sie das Thema jahrelang verschlafen hatten."

Auf der Medienseite berichtet Ulrike Simon (auch für die Berliner Zeitung), dass die taz-Korrespondenten in Streik getreten sind, nachdem die Chefredaktion ihre Verträge gekündigt hat, um sie durch neue zu ersetzen. Dabei sollen die Honorare angeglichen (und das heißt für viele: herabgesetzt) werden: "Manche erhalten nur 77 Cent pro Zeile, andere eine monatliche Pauschale auf Basis von 500, 800 oder 1000 Zeilen a 1,50 Euro. Künftig sollen alle gleich behandelt werden. Sie sollen eine Pauschale auf der Basis von 500 Zeilen a 1,50 Euro gezahlt bekommen; jede weitere Zeile soll mit 89 Cent honoriert werden."

Hier die protestierenden Korrepondenten:



Im Feuilleton heute ausschließlich Rezensionen: Besprochen werden zwei Inszenierungen in Wien - Thomas Bernhards Heldenplatz und Grillparzers "Die Jüdin von Toledo" -, eine Aufführung von Mahlers Achter in Duisburg, Christof Loys Inszenierung von Verdis "Vesper" in Amsterdam, einige lokale Frankfurter Ereignisse und Bücher, darunter Franz Maciejewskis Buch "Echnaton oder die Erfindung des Monotheismus" (Hans Martin Lohmann begrüßt es im Aufmacher "uneingeschränkt, dass wir jetzt mit einer Echnaton-Deutung konfrontiert werden, die das semantische Feld neu aufrollt, indem sie Bild, Körpergedächtnis und Sinnlichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt und damit gewissermaßen eine 'heiße' Theorie der Amarna-Epoche präsentiert.")

TAZ, 14.09.2010

Aram Lintzel liest zwei amerikanische Bücher aus den "sogenannten Thing Studies und Material Culture Studies". Besprochen werden weiter die Gruppenausstellung "zur nachahmung empfohlen!" in den Berliner Uferhallen, Alain Mabanckous Roman "Black Bazar" und Anja Schwanhäußers ethnografische Studie "Kosmonauten des Underground" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 14.09.2010

In Interview mit Wieland Freund spricht Bestseller-Autorin Cornelia Funke über ihr neues Buch "Reckless" und die sich darin spiegelnde Märchenwelt der Brüder Grimm, die Funke allerdings bei aller Liebe für antifeministisch, spießig und reaktionär hält: "Märchen sagen oft: Glück ist, wenn du es als armer Bauer schaffst, eine reiche Prinzessin zu heiraten. Wenn du dich an allen rächst, die dir nur irgendwie im Weg sind und ihnen möglichst auch noch die Augen aushackst."

Weiteres: Manuel Brug hofft, dass Brett Deans Hamburger Öko-Oper "Bliss" kein Beispiel für eine schwarzgrüne Kunst ist. Arne Willander befasst sich in der Randglosse mit Harald Schmidts Rückkehr zu Sat1. Wolf Lepenies hat schon Erinnerungen "The Third Man" des New-Labour-Strippenziehers Peter Mandelson gelesen.

Auf der Meinungsseite findet es Clemens Wergin ganz richtig, was Thilo Sarrazin zum "überfürsorglichen Sozialstaat" schreibt, der nämlich auch seiner Ansicht nach "einen stetig wachsenden Teil der Gesellschaft zu Untätigkeit und Unproduktivität erzieht und Unterschichtexistenzen oft schon über mehrere Generationen hinweg verfestigt".

Aus den Blogs, 14.09.2010

(Via New York Times) James Bridle hat eine 12-bändige Ausgabe zur Historiografie zum Stichwort "Iraq War" in der Wikipedia zusammengestellt. Das heißt, er hat alle Ergänzungen, Einträge, Korrekturen usw. aufgelistet, die in der Zeit vom Dezember 2004 bis zum November 2009 gemacht wurden und sich über den "history"-Button des Wikipedia-Eintrags zurückverfolgen lassen. Genau so, meint er in seinem Blog booktwo.org, sollte man heute Geschichte schreiben: "This is what culture actually looks like: a process of argument, of dissenting and accreting opinion, of gradual and not always correct codification. And for the first time in history, we?re building a system that, perhaps only for a brief time but certainly for the moment, is capable of recording every single one of those infinitely valuable pieces of information. Everything should have a history button."

Und BoingBoing meldet: "Jean-Luc Godard donates ?1K for accused MP3 downloader's defense: 'There is no such thing as intellectual property.'"

Stefan Niggemeier kommentiert die Medien-Hypes der letzten Wochen: "Terry Jones war eine weltweite Nachricht, weil er in knappster Form die zunehmende Feindschaft vieler Amerikaner zum Islam symbolisierte. Aber er war es auch wegen des Nervenkitzels, dass die Berichterstattung dramatische Folgen haben könnte. Und aus dem schlichten Grund, dass andere Medien darüber berichtet haben. Journalisten halten für eine Nachricht, was andere Journalisten für eine Nachricht halten."

Weitere Medien, 14.09.2010

In Slate erinnert Christopher Hitchens noch einmal daran, dass bisher kein Priester der katholischen Kirche für seine sexuellen Verbrechen vor Gericht gestellt wurde: "With the impending arrival of Ratzinger on British soil, the recent disclosures of the putrid state of the church in Belgium have thrown the whole scandal into an even sharper relief. Consider: The now-resigned bishop of Bruges, Roger Vangheluwe, stands revealed by his own eventual confession as being guilty of incest as well as rape, having regularly 'abused' his male nephew between the ages of 5 and 18. The man's superior as head of the Belgian church, Cardinal Godfried Danneels, has been caught on tape urging the victim to keep quiet. A subsequent official report, commissioned by the country's secular authorities, has established that this level of morality was the rule throughout the hierarchy, with the church taking it upon itself to forgive the rapists and to lean upon their victims."

SZ, 14.09.2010

Ein Preis für Kurt Westergaard ist ein Preis für die dänischen Rechtspopulisten, meint auf Seite 2 der SZ der Berliner Skandinavistik-Professor Bernd Henningsen, den die SZ als den führenden Vertreter seines Fachs vorstellt. Er wendet sich gegen "Meinungsfreiheits-Fundamentalismus", kritisiert Angela Merkel und Joachim Gauck für die Potsdamer Preisverleihung letzte Woche und sagt an die Adresse des Zeichners: "Sicherlich, Westergaard kann denken und zeichnen, was er will. Wenn er aber meint, dass dies sein Bürgerrecht ist, muss er auch die Konsequenzen bedenken." (Die SZ hat sich unseres Wissens nie getraut, die Mohammed-Karikaturen abzudrucken, nahm sich aber mehrfach die Meinungsfreiheit, sie albern zu finden, mehr hier.)

Im Feuilleton erzählt der Drehbuchautor Andreas Quetsch, wie in der Enkelgeneration über Vertreibung diskutiert wird ("Im Fokus steht für die Jüngeren .., den 'blinden Fleck in der Familiengeschichte' anzugehen, wie die Journalistin und Sachbuchautorin Sabine Bode die Vertreibung nennt. Wer noch Großeltern zum Fragen hat, der fragt"). In der "Zwischenzeit" kritisiert Evelyn Roll die Übersetzung von Jonathan Franzens neuem Roman "Freiheit", die allzu schnell zusammengezimmert worden sei. Alexander Menden resümiert britische Diskussionen um die Kürzung von Kultursubventionen. Lothar Müller erzählt, wie die Arabisch-Übersetzerin Claudia Ott in der Ausstellung "Schätze des Aga Khan Museums" in Berlin auf die Spur eines Manuskripts der Erzählungen aus hundertundeiner Nacht stieß (mehr dazu hier).

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass Harald Schmidt zu Sat1 zurückgeht.

Besprochen werden Mahlers Achte mit 1.300 Musikern in Duisburg, Semih Kaplanoglus Film "Bal - Honig" (mehr hier), Franz Grillparzers "Die Jüdin von Toledo" in der Regie von Stephan Kimmig in Wien, eine Piranesi-Ausstellung in Venedig und Bücher, darunter Cornelia Funkes neuer Roman "Reckless" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 14.09.2010

Ein ziemlich begeisterter Tilmann Spreckelsen bespricht Cornelia Funkes neuen Roman "Reckless", den Beginn einer Reihe, in der sie Märchen verschiedener Länder neu erzählen will. Die Grimms sind als erste dran: Der Roman "erzählt von zwei Brüdern, die aus dem New York unserer Zeit in eine Parallelwelt gelangen, in der die Motive der Grimmschen Märchen überall präsent sind und gleichzeitig die Industrialisierung Einzug gehalten hat - sehr schön kommt das in einem Kapitel zusammen, das vom inneren Monolog einer Fee berichtet, die im Luxusabteil eines dampfbetriebenen Sonderzugs durch die Lande fährt."

Weitere Artikel: Stephan Sahm legt detailliert dar, warum das Kriterium "Hirntod" für die Erlaubnis zur Organentnahme sich als problematisch herausgestellt hat - und welche Alternativen erwogen werden. Levke Clausen entnimmt neuen Statistiken, dass mehr Menschen in Deutschland Kinder zu bekommen wünschen - ob die Bedingungen danach sind, ist jedoch alles andere als klar. In der Glosse berichtet Mark Siemons von einem wenig inspirierenden Theaterabend in Peking: Das Stück über die Peking-Menschen (die von vor 5000 Jahren) erwies sich nicht gerade als Knüller. Ingeborg Harms liest in deutschen Zeitschriften Texte über Gottfried Benn und Nelly Sachs.

Besprochen werden ein Konzert mit Mahlers "Achter" (Dirigent: Lorin Maazel) in der ehemaligen Kraftzentrale des Hüttenwerks in Duisburg, Uri Caines "Lamentations" auf dem Musikfest Stuttgart, Simon Solbergs Baseler Inszenierung von Max Frischs "Graf Öderland", eine Hermann-Glöckner-Ausstellung im Dresdner Kupferstichkabinett und weitere Bücher, darunter Elisabeth Plessens neuer Roman "Ida" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).