Heute in den Feuilletons

Auf den Schwingen des Volkszorns

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2010. Oskar Pastior war ein IM der Securitate, berichtet die SZ und beruft sich auf einen Vortrag des Historikers Stefan Sienerth.  Der Perlentaucher dokumentiert einen Vortrag von Götz Aly zum Thema Flucht und Vertreibung: Nur die europäische Perspektive gibt wirklich Einblick in die Abgründe dieses Themas. Der polnische Historiker Tomasz Szarota meint in der FR: Viele deutsche Vertriebene waren nur Flüchtlinge.

FR, 17.09.2010

Der polnische Historiker Tomasz Szarota erklärt im Interview, dass nicht alle Deutsche, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westen ziehen mussten, "Vertriebene" waren. Viele sind geflüchtet, evakuiert oder umgesiedelt worden. Zum Beispiel in Oberschlesien: "Das, was man in diesen Gebieten als echte Vertreibung bezeichnen kann, dauerte nur sehr kurz, von Ende Juni 1945 bis Mitte Juli 1945. Vorher ging es um Flucht - und dabei waren weder die Polen noch die Russen die Vertreiber, es waren die Nazi-Behörden, die die Befehle gaben, das Gebiet zu evakuieren."

Ganz hingerissen ist Arno Widmann von Fritz J. Raddatz' heute erscheinenden "Tagebüchern", die laut Widman den "bösesten und verliebtesten, also den schönsten Blick" auf das intellektuelle Leben der Bundesrepublik werfen: "Man kann die Tagebücher auch als Endlos-Fortsetzungsroman über die Verkommenheit des Kulturbetriebs lesen. Hinter den großen Worten der Feuilletons stehen kaum mehr als die kleinen Eitelkeiten, die gezielten Gehässigkeiten um die Hackordnung streitender Konkurrenten. Die schönen Sätze werden gebildet aus den Ingredienzen Neid und Hass."

Weiteres: Die Debatte um Sarrazin lässt den Germanisten Manfred Schneider glauben, "tümelnde" Konservative suchten eine neue Heimat (dass Sarrazin laut einer Emnid-Umfrage besonders viele Anhänger bei der Links-Partei hat, erwähnt Schneider lieber gar nicht erst). Harry Nutt berichtet von der Eröffnung des Literaturfestivals Berlin. Jürgen Otten besucht die Nordic Music Days in Kopenhagen. Auf der Medienseite zeigt Julia Gerlach, wie die ägyptische Zeitung Al Ahram ein Foto fälschte, um Präsident Mubarak beim Einzug zu einem Empfang im Weißen Haus vor Barack Obama zu schieben.

Besprochen werden eine Ausstellung zum zehnjährigen Bestehen von Rimini Protokoll in Heidelberg und Daniel Millers Band "Fünfzehn Porträts aus dem London von heute" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Perlentaucher, 17.09.2010

In einem Vortrag untersucht Götz Aly die Geschichte von "Flucht, Vertreibung, 'Ethnische Säuberung'" (so der Titel des Symposions am DHM, mehr hier und hier als pdf)) in europäischem Kontext. Eines seiner Ergebnisse: "Nicht in der gnadenlosen deutschen Mordpraxis, nicht in der ungeheuerlichen Radikalität, wohl aber in einzelnen Grundgedanken und Zielsetzungen berührten sich die deutschen Praktiken mit der ethnokratischen Politik in anderen Staaten. Das erklärt die - unterschiedlich starke - Unterstützung der deutschen antijüdischen Politik in einzelnen besetzten und verbündeten Ländern und deren langfristigen Folgen."

Weitere Medien, 17.09.2010

(via 3 quarks daily) Scott Horton hat für Harper's Magazine den Nietzsche-Biografen Julian Young interviewt. So erklärt Young, was es mit der "tödlichen Beleidigung" auf sich hatte, die im Bruch mit Richard Wagner endete: "Wagner had long disapproved of Nietzsche?s close friendships with men - love he held could only exist between the sexes - and by 1877 he was offended by the developing anti-Wagnerian tenor of Nietzsche?s thought. To Nietzsche?s doctor he wrote that the cause of the patient?s many health problems - which included near blindness - was 'unnatural debauchery, with indications of pederasty.' His former disciple was, in other words, (a) incipiently gay and (b) going blind because he masturbated. Somehow Nietzsche learned not only of the existence of the letter but of its the exact wording. That was the 'deadly insult.'"
Stichwörter: Tenor, Wagner, Richard

Welt, 17.09.2010

Lustig: Es ist eine Neuausgabe von Jack Kerouacs "On the road" erschienen, und die Welt fährt die Strecke mit Google Street View ab. Außerdem bespricht Wieland Freund das Buch. In der Leitglosse mokiert sich Frank Schmiechen über den Blogger Sascha Lobo (Inhaber einer gutgehenden Frisur, so seine ironische Selbstbeschreibung), der es gewagt hat, einen Roman über den Internethype vor zehn Jahren vorzulegen. Außerdem unterhält sich Ulrich Exner mit dem Hannoverschen Intendanten Lars-Ole Walburg, der aus nostalgischen Gründen das Gorlebener Anti-Atom-Hüttendorf nachbauen ließ.

Presse, 17.09.2010

Anne-Catherine Simon hat Michel Houellebecqs neuen Roman "La carte et le territoire" gelesen und findet ihn großartig, milder zwar und fast schon humanistisch, aber großartig: "Houellebecq ist nun über fünfzig und alt geworden. Nun ist er besessen vom Tod wie früher vom Sex. Als Romanfigur taucht er zum ersten Mal auf, als Jed Martin ihn um einen Begleittext für den Katalog zu seiner Michelin-Ausstellung bittet. Martin besucht ihn in Irland, er trifft auf ein 'gequältes Häuflein Elend', eine 'alte Schildkröte', die sich für Sex kaum noch interessiert. Statt weiter thailändische Bordelle zu besuchen, werde er sich in die Heimat seiner Kindheit, das Departement Loiret, zurückziehen, sagt er - 'ich habe dort Baumhäuser gebaut, ich denke, ich kann wieder eine entsprechende Tätigkeit für mich finden. Die Jagd auf Biberratten?'"
Stichwörter: Irland, Sex, Houellebecq, Michel, Jagd

Aus den Blogs, 17.09.2010

(Via Lenerl) Der Albtraum jedes Spinnenfeinds. Das Discover-Magazine zeigt in seinem Blog das größte Spinnennetz der Welt, das ganze Flüsse überspannt:


NZZ, 17.09.2010

Kerstin Stremmel berichtet von der Quadriennale 2010 in Düsseldorf. Karin Leydecker betrachtet das Steinskulpturenmuseum des Pritzkerpreisträgers Tadao Ando in Bad Münster am Stein. In der Ukraine streitet man sich über die Geschichtspolitik, berichtet Ulrich M. Schmid. Knut Henkel stellt kubanische Musiker vor, die aus dem Exil zurückgekehrt sind, wie Raul Paz.

Besprochen werden Anton Corbijns Film "The American", ein Blues-Album von Lobi Traore und eine Ausstellung des Theaterkollektivs Rimini Protokoll im Heidelberger Kunstverein.

TAZ, 17.09.2010

Katharina Granzin berichtet von der Eröffnung des zehnten Internationalen Literaturfesivals in Berlin. Julian Weber resümiert den Kongress "Zero 'n' One" an der Berliner Akademie der Künste, der sich mit den Folgen der digitalen Wende in der Musik beschäftigte.

Besprochen werden das Album "Grinderman 2" von Nick Cave und seiner Band Grinderman sowie das Buch "Next BANG!" von Nobelpreisträger Pat Mooney über die Auswirkungen der Megatechnologie Geoengineering (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 17.09.2010

Jordan Mejias fasst eine New-Yorker-Reportage von Jane Meyer zusammen, die die enormen Anti-Obama-Anstrengungen und -Aufwendungen der erzlibertären Milliardärs-Brüder Koch beschreibt. Das ist, so Mejias, durchaus bezeichnend für die wachsende Einmischungslust der Reichen in die Politik: "Die Kochs behalten unbeirrbar ihren unternehmerischen Eigennutz im Auge, ob sie die Klimaerwärmung leugnen oder den Staat einzudämpfen versuchen. In diesem Balanceakt zwischen populistischer Empörung, die sie der Wall Street nicht weniger als Washington entgegenbringen müssen, und ihrem Superreichtum sind sie nicht mehr allein. Eine ganze Reihe von Millionären und Milliardären rechnet sich bei den Kongresswahlen Chancen aus, auf den Schwingen des Volkszorns ins Parlament getragen zu werden."

Weitere Artikel: Die nur mühsam verschleierte ("erweitertes Konzept") Absage an die geplante deutsche Künstlerakademie in Istanbul begreift Andreas Kilb als Menetekel für die zukünftige Kulturpolitik im Westerwelle-Außenministerium: nach der fruchtbaren Zusammenarbeit der Ministerien in der großen Koalition werde jetzt wohl wieder nach "Gutsherrenart" regiert. In ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne erklärt Constanze Kurz, warum die neuen PIN-Kreditkarten alles andere als missbrauchssicher sind. Patrick Bahners glossiert die Vorwürfe der Zeit-Interviewer an Innenminister Thomas de Maiziere, er verhalte sich eigentlich wie ein Zeit-Journalist und also zu reflektierend für einen aktiven Politiker.

Über den wiedergewonnenen Ostflügel und die Restauration des Berliner Naturkundemuseums freut sich Regina Mönch. Oliver Tolmein erläutert einen Entscheid der Münchner Staatsanwaltschaft, der zur Ansicht gelangt, der Wille zum Suizid sei auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit anzuerkennen - auch ein Arzt sei dann nicht zu Wiederbelebungsmaßnahmen verpflichtet. Fortgesetzt werden Elke Heidenreichs Shanghaier "Ring"-Notate: "Wir aber gehen Frühlingsrollen essen und trinken dazu nach deutschem Reinheitsgebot gebrautes Tsingtau-Bier." Auf der Medienseite berichtet Detlef Borchers über die von Geert Lovink und Patrice Riemens aufgestellten zehn kritischen Thesen zu WikiLeaks.

Besprochen werden ein Konzert der Morning Benders in Köln, die Cosima-von-Bonin-Ausstellung im Kunsthaus Bregenz und Bücher, darunter (ein böser Verriss) Sascha Lobos Romandebüt "Strohfeuer" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.09.2010

Oskar Pastior hat im Jahr 1961 eine Verpflichtungserklärung als IM der Securitate unterschrieben, berichten Lother Müller und Christopher Schmidt auf Seite eins. Der Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, Stefan Sienerth, hat die Erklärung entdeckt. Er wird am Sonntag einen Vortrag zum Thema halten. "Zwar hat der Wissenschaftler nur einen einzigen Bericht gefunden, in dem Pastior eine Person belastet. Aber 'in all diesen Jahren lässt sich kein einziger Versuch Pastiors verzeichnen, dem rumänischen Geheimdienst die Mitarbeit aufzukündigen, irgendetwas zu unternehmen, um sich von dieser seelischen Last zu befreien', schreibt er in dem Manuskript." Pastior ist die Hauptfigur in Herta Müllers letztem Roan "Atemschaukel". Müller und Schmidt vermuten, dass die Securitate Pastior wegen seiner Homosexualität erpressen konnte.

Im Feuilleton macht sich Alex Rühle Gedanken zur Frage, ob es zur Steigerung der Geburtenrate in Deutschland nicht einer ganz anderen "Arbeitskultur" bedürfte. Franziska Augstein hat in der Berliner American Academy den Afghanistan-Experten Ahmed Rashid erlebt, der für Gespräche mit den Taliban plädiert. Peter Geimer nimmt die aktuellen Kunstfälschungsskandale zum Anlass einer Meditation darüber, was der "Sturz in den Orkus" für als Fälschungen erkannte Werke über unser Kunstverständnis zu sagen hat. Aus Anlass von dessen bevorstehender Seligsprechung porträtiert Alexander Kissler den englischen Kardinal und Dichter John Henry Newman. Nicht mehr als "gelehrtes Proseminar-Niveau" hatte die Literaturfestival-Eröffnungsrede des spanischen Autors Juan Goytisolo für Hans-Peter Kunisch. (Auf der Website übrigens eine Bildergalerie vom Eintreffen Liao Yiwus in Berlin.) Auf der Literaturseite beklagt Florian Welle, dass Wolfdietrich Schnurre nicht mehr gelesen wird.

Besprochen werden Roger Waters' Auftaktkonzert zur "The Wall"-Jubiläumstour in Toronto, der Besuch des Kunstmuseums Bern in der Hypo-Kunsthalle München und Marc Rothemunds Film "Groupies bleiben nicht zum Frühstück" (mehr).