Heute in den Feuilletons

Aber er hat eine gute Gesichtsfarbe

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2010. Aktualisiert um 11.30 h: Das Spiegel-Interview mit Daniel Schmitt über seinen Rückzug aus  Wikileaks steht jetzt online. Vaclav Havels Aufruf, Liu Xiaobo mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, sorgt in China für heftige Unruhe, berichtet die Welt. Die Welt interviewt außerdem noch einmal Necla Kelek und Monika Maron zur Sarrazin-Debatte, die sich freuen, dass nun endlich über Integration diskutiert wird. Ein Tweet von Wikileaks stößt nicht gerade auf die Sympathie von netzpolitikorg. Für die taz interviewt Gabriele Goettle den Spielsüchtigen Addi H.

Spiegel Online, 27.09.2010

Nachtrag um 11.39 h. Das heute viel zitierte Spiegel-Interview mit dem deutschen Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt steht jetzt online: "Ich muss das, wofür ich öffentlich einstehe, auch vertreten können. Deshalb bleibt mir momentan nur der geordnete Rückzug."

Welt, 27.09.2010

Vaclav Havel und andere Unterzeichner der Charta 77 haben in der New York Times dafür plädiert, dem chinesischen Dissidenten Liu Xioabo den Friedensnobelpreis zu verleihen, auch 120 chinesische Intellektuelle haben dies gefordert, wie die taz heute meldet. Johnny Erling verzeichnet große Unruhe bei den Pekinger Behörden, und Lius Frau Liu Xia berichtet ihm von den Bedingungen, unter denen der zu elf Jahren verurteilte Liu inhaftiert ist: "Liu teilt seine Zelle mit fünf Kriminellen. Er werde normal behandelt, sagt Liu Xia, und dürfe zweimal am Tag für eine Stunde Hofgang ins Freie. 'Wegen seines Magenleidens ist er sehr mager, aber er hat eine gute Gesichtsfarbe.' Für Liu gebe es keinen Arbeitsdienst. Der einstige Literaturdozent dürfe schreiben und lesen. Liu Xia brachte ihm zwölf Bücher mit, 'soviel, wie ich tragen kann'. Romane und Geschichtsbücher und eine in China gedruckte Bibel waren darunter. 'Ich darf ihm alle Bücher bringen, solange sie offiziell erschienen sind.'"

In der Randspalte meldet Matthias Wulff den erfolgreichen Verkauf der Kunstsammlung der Lehman Brothers. Besprochen werden die Dresdner Theateradaption von Uwe Tellkamps "Der Turm" und eine Ausstellung über Pablo Picasso als engagierten Künstler in Wien.

Auf der Forumsseite unterhält sich Andrea Seibel noch einmal mit Necla Kelek und Monika Maron über die Folgen der Sarrazin-Debatte, die immerhin schon dazu geführt hat, dass Neuköllns einst ebenso verfemter Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky zum Gegen-Sarrazin in der SPD aufgebaut wurde.

Kelek: "Die Notwendigkeit, über eine neue Sozial- und Bildungspolitik, über Integration und Islam zu sprechen, ist nun unbestritten. Doch ich sehe auch, dass die Mitverursacher der Integrationskrise - die Migrationsforscher, die Islamfunktionäre, die politischen Sozialarbeiter - sich im Moment wegducken und nur darauf warten, dass sich die Aufregung legt, um in ein paar Wochen an die Fleischtöpfe der Integrationsetats zurückzukehren."

Und Maron: "In den verschiedenen Talk-Runden wurden schöne, gebildete türkische oder iranische Frauen aufgeboten, die sich alle durch Sarrazin gekränkt fühlten, ohne dass ich im Geringsten verstehen konnte, warum, denn sie verkörpern ja die Integration, die er sich wünscht. Sie sind doch der Beweis dafür, dass jeder, der die Sprache beherrscht, der lernt, in unserer Gesellschaft alle Möglichkeiten hat. An meinem Eindruck, dass auf der muslimischen Seite die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik nicht sehr entwickelt ist, hat sich nichts geändert. Es bleibt vorwiegend bei Schuldzuweisungen und Forderungen an die deutsche Gesellschaft."

FR, 27.09.2010

Arno Widmann reist die nächsten Tage mit dem Fotografen David Oliveira "auf der Suche nach der Einheit" durch die Republik. Heute stehen sie vor dem 68-Bauarbeiter in der Berliner Karl-Liebknecht-Str. und bewundern eine Steuerberaterin in Charlottenburg. Auf der Medienseite fasst Marin Majica (auch für die Berliner Zeitung) das Spiegel-Interview mit dem ehemaligen Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt zusammen, der erklärt, warum er nicht mehr für Wikileaks arbeitet.

Besprochen werden eine Aufführung von Felicia Zellers "Astronauten" am Nationaltheater Mannheim, eine Ausstellung mit Fotos aus der Zeit vor Photoshop, "Not in Fashion", im Frankfurter MMK und die Uraufführung von Uwe Tellkamps "Turm" in Dresden.

NZZ, 27.09.2010

Alena Wagnerova ist durch Prag spaziert und stellt fest, dass die aggressive Baupolitik des Magistrats auf Kosten des historischen Stadtzentrums geht, das von den Einheimischen eh längst verlassen wurde: "Die Finanzmacht der Investoren spürt gewiss nicht nur Prag, betroffen sind alle europäischen Städte mit historischer Substanz. In Prag trifft sie aber auf den noch unverdauten Kapitalismus, eine ihre Identität suchende Gesellschaft, unzureichende Gesetze und einen korrupten Magistrat. Das macht das Spiel leicht. Die andere Seite dieses unguten Klimas sind schlecht vorbereitete Projekte, wie die Restaurierung der Karlsbrücke, deren historischer Substanz ein völlig unfähiges Bauunternehmen schweren Schaden zugefügt hat. Der Auftraggeber, der Prager Magistrat, wurde dafür zu einer Strafe in Höhe von 130.000 Euro verurteilt. Über die ebenso schlampig geplante Rekonstruktion des Klementinums, des größten Gebäudekomplexes in der Altstadt, wird inzwischen heftig diskutiert. Die Bestechungsgelder fließen schon in die Kalkulation solcher Projekte mit ein."

Weiteres: Naomi Bubis hat den Schweizer Unternehmer und Mäzen Branco Weiss durch Israel begleitet, wo dieser mit einer Stiftung Schulen für sozial benachteiligte Jugendliche einrichtet. Zur 200-Jahr-Feier der Veröffentlichung von Goethes Farbenlehre widmet sich die Präsentation "experimentum lucis" in der Berliner Humboldt-Universität Goethes experimentellem Nachweis der Farben des Schattens, berichtet Sieglinde Geisel. Geri Krebs hat das Filmfestival in San Sebastian besucht.

Besprochen werden Jiri Kylians Ballett "One of a Kind" in Basel und die Ausstellung von süditalienischer Volkskeramik im Völkerkundemuseum St. Gallen.

TAZ, 27.09.2010

Die taz macht eine Jubiläumsausgabe zu einem Jahr schwarzgelber Koalition und lässt zum Thema lauter Korrespondenten ausländischer Zeitungen schreiben. In einem späten Artikel zur Sarrazin-Debatte konstatiert Robert Misik, dass "Meinungsfreiheit" zu einem "rechten Kampfbegriff" geworden sei.

Im Kulturteil ist heute Gabriele-Goettle-Tag. Sie trifft den Spielsüchtigen Addi H.: "Als Erstes will ich mal sagen, was das Wichtigste ist bei einem Spieler. Dass er nicht auffällt als pathologischer Spieler. Spielsucht hat ein ganz schlechtes Ansehen, außerdem kann man eine Casinosperre kriegen."

Und Tom.

Aus den Blogs, 27.09.2010

Der deutsche Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt hört bekanntlich auf und hat im Spiegel Kritik an Julian Assange geäußert. Wikileaks twitterte darauf: "Spiegel report Schmitt resigned which is misleading. Schmitt was suspended a month ago." Markus Beckedahl kommentiert auf netzpolitik.org: "Klingt ja nicht gerade sympathisch vom Wikileaks-Account, der vermutlich von Assange betrieben wird. Apropos 'vor einem Monat': Da gestand Schmitt/Domscheid-Berg gegenüber News.de Fehler bei Wikileaks ein und distanzierte sich von der dämlichen Verleumdungs-Verschwörungstheorie, wonach irgendwelche Geheimdienste hinter der Sex-Affäre von Julian Assange stehen würden. Vielleicht führte das ja dazu, dass das Wasser übergelaufen ist und er deswegen 'beurlaubt' wurde. Passt ja zu der Aussage von ihm im Spiegel-Interview, dass Assange ihm vorgeworfen habe, den Gehorsam zu verweigern und illoyal zu sei."

FAZ, 27.09.2010

Im Aufmacher sammelt Jordan Mejias die Gedanken anderer zum Film "The Social Network" (Trailer) von Aaron Sorkin und David Fincher, der sich sehr deutlich an die Geschichte von Facebook und Mark Zuckerberg anlehnt und nächste Woche in den USA startet. Auf der zweiten Seite des Feuilletons liest Friederike Haupt zugleich David Kirkpatricks Buch "The Facebook Effect" (Auszug), das im Gegensatz zu dem Film "erschreckend affirmativ" sei. "Nichtsdestotrotz informieren die ersten Kapitel unterhaltsam und weitgehend umfassend über die Gründungsgeschichte." Als Gegengift empfiehlt sie Ben Mezrichs Buch "The Accidental Billionaires" (Auszug).

Weitere Artikel: Jürg Altwegg weist auf ein in Frankreich erschienenes Lexikon literarischer Beleidigungen hin. "Erschreckende Kaderstrukturen" macht Detlef Borchers bei Wikileaks aus: Der deutsche Mitgründer Daniel Schmitt teilte im Spiegel mit, dass er aussteigt - und der Twitterdienst von Wikileaks erklärte postwendend, Schmitt sei bereits vor einem Monat abgesetzt worden. Andreas Rossmann besucht Fotoausstellungen im Beiprogramm der Kölner Branchenmesse Photokina. Frank Pergande hat in Neubrandenburg der Dankesrede Christa Wolfs für den Uwe-Johnson-Preis zugehört - in der sie offenbar sehr persönlich über ihr Verhältnis zu Johnson sprach. Und der Schriftsteller Rolf Dobelli erklärt den Begriff des "Social Proof".

Besprochen werden Ben Afflecks neuer Film "The Town", eine "Minna von Barnhelm" in Frankfurt, Hans Werner Henzes Jugendoper "Gisela! Oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks" und Bücher, darunter Friederike Mayröckers "ich bin in der Anstalt - Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk".

SZ, 27.09.2010

Jens-Christian Rabe sieht sich im Aufmacher umstellt von einem "triumphalen Vulgärliberalismus", als dessen Quellen er das neueste Heft des Merkur, einen Artikel der FAZ (er nennt Frank Schirrmacher nicht, spielt aber auf seinen Artikel in der vorletzten FAZ am Sonntag an) und ein Philosophentreffen in Lech ausmacht. Klaus Brill legt dar, warum der Begriff der "Sudetendeutschen" der "vergiftete Begriff aus einer vergifteten Zeit" ist, und schlägt stattdessen vor, von "Deutsch-Böhmen" oder "Tschechodeutschen" zu sprechen - und er freut sich, dass auch die Tschechen das Thema aufgreifen und in Usti nad Labem, dem ehemaligen Aussig ein "Museum der deutschsprachigen Bürger der böhmischen Länder" gründen. Kai Strittmatter fragt, wer eigentlich dafür verantwortlich ist, dass das feierlich annoncierte Projekt einer deutschen Künstlerakademie in Istanbul still und heimlich beerdigt wurde. Gemeldet wird, dass das Zürcher "Nagelhaus"-Projekt ebenfalls beerdigt wird. Lothar Müller spricht mit dem Zürcher Philologen Andreas Kilcher über den Streit um die verbleibenden Kafka-Manuskripte, die von der israelischen Nationalbibliothek und dem Literaturarchiv Marbach beansprucht werden - Unbekanntes dürfte Kaum dabei sein: "Faktum ist, dass nahezu alles Material der Safes publiziert ist, bis auf einige Zeichnungen Kafkas." Günter Kowa resümiert Streitigkeiten um Funktion und Ausstellungsstrategie des wieder eröffneten Angermuseums in Erfurt. In den "Nachrichten aus dem Netz" verweist Michael Mooerstedt auf Joseph Reagles Buch "Good Faith Collaboration" (mehr hier) über Wikipedia.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Uwe Tellkamps Roman "Der Turm", natürlich in Dresden, eine "Penthesilea" am Münchner Residenztheater, neue DVDs, die Uraufführung von Hans Werner Henzes Jugendoper "Gisela", zwei Ausstellungen der koreanischen Gwangju Biennale (mehr hier und hier), ein Dokumentarfilm über die die Bhagwan-Sekte und ihren Guru (mehr hier) und Bücher, darunter Pierre Bourdieus "Algerische Skizzen".

Auf der Medienseite schreibt Gunnar Hermann über den Machtkampf be Wikileaks.