28.09.2010. Die FR erzählt die Geschichte des nigerianischen Zimmermädchens B.O. in Halle. In der Welt fürchtet Michael Wolffsohn: Wenn sie könnten, würden Medien und Politiker das Volk abwählen. Die NZZ fragt mit dem Merkur: Betreibt der Sozialstaat die Abschaffung der Selbständigkeit? (findet allerdings: eher nicht). Die SZ verfolgte eine Tagung über "Die Securitate in Siebenbürgen", wo auch über Oskar Pastior diskutiert wurde.
NZZ, 28.09.2010
Joachim Güntner
hat sich den
Merkur und seine Kritik am
deutschen Sozialstaat zu Gemüte geführt, die ihm fast ein wenig zu harsch ausfällt: "'Vater Staat will nämlich nicht, dass seine Kinder erwachsen werden', behauptet der auf Männlichkeit und Eigentum pochende Polemiker
Norbert Bolz, und das einschlägig bekannte Querdenker-Duo
Dirk Maxeiner und
Michael Miersch assistiert ihm mit vielfältigen Belegen dafür, wie der Vorsorgestaat ständig neue Problemgruppen definiert, die der Betreuung bedürfen: Raucher, Trinker, Übergewichtige, Autofahrer (Bitte anschnallen!), Mediensüchtige, Kaufsüchtige und so fort. Der 'Merkur' ist durchdrungen von der bösen Gewissheit, dass der Sozialstaat '
die Abschaffung der Selbständigkeit' (Wolfgang Kersting) betreibt, unsere Mentalität tief umgeprägt hat und Bürgerlichkeit ebenso verhindert, wie er Gemeinsinn und Solidarität durch die
Anonymität seines Solidarsystems zerstört (Klaus Hartung)."
Weiteres: Klaus Bartels sinniert über Herkunft und Bedeutung des Begriffs "
Integration". Aldo Keel porträtiert die finnische Schriftstellerin
Sofi Oksanen. Urs Hafner war bei der Jubiläumsveranstaltung zum 50-jährigen Bestehen des
Berner Instituts für Soziologie. Dirk Pilz
resümiert den Saisonauftakt des
Dresdner Staatsschauspiels, und Thomas Schacher hörte das
Gemeaux-Quartett in der
Tonhalle Zürich.
Besprochen werden Andreas Homokis
Inszenierung von
Richard Wagners "Meistersinger" an der
Komischen Oper Berlin,
Joshua Ferris' Roman "Ins Freie",
Doron Rabinovicis Buch "Andernorts" und die
Biografie von
Walter Koschmal über den Prager Autor
Georg Langer, "Der Dichternomade" (mehr in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Welt, 28.09.2010
Der Historiker
Michael Wolffsohn denkt über die seiner Meinung nach fadenscheinige Unterscheidung zwischen Demokratie und Populismus nach, über die schwankende Einschätzung des Wählers mal als klugen Souverän oder als Idioten vom Dienst und kommt auch auf die Debatte um
Thilo Sarrazin zu sprechen: "Zurück zum Problem
Politik plus Medien gegen
den einen plus Volk: Verbarrikadieren sich jene hinter einer 'Mauer' und bewerfen scheinbar nur den einen, tatsächlich aber das Volk mit Parolen und Pädagogik? So schaffen sie Duckmäusertum. Oder wollen sie sich ein neues, ihnen genehmes Volk formen? Ihre
Mauer wird dauerhaft so wenig halten wie die Chinesische und Berliner Mauer."
Besprochen werden Andreas Homoki kreuzbrave Inszenierung der "Meistersinger" an der Komischen Oper ("zu sehen ist, was im Textbuch steht",
meint Manuel Brug) und
Eric Claptons Comeback-Album "Clapton".
FR, 28.09.2010
Arno Widmann und David Oliveira
begegnen am zweiten Tag ihrer Reise durch Deutschland einem
nigerianischen Zimmermädchen in Halle: "Seit dem Jahr
2002 lebt sie in Deutschland. Sie wollte immer arbeiten. Aber erst vor einem Monat bekam sie den Job. Er ist befristet bis zum 31. Dezember. B.O. musste Nigeria verlassen. Sie stammt aus dem Norden, aus einem Dorf in der Nähe von Kaduna. Dort herrscht die
Scharia. Als sie - unverheiratet - ein Kind bekam, sollte sie umgebracht werden. Nichts anderes konnte die Ehre der Familie wiederherstellen. Freunde halfen ihr. Deutschland gewährte ihr Asyl. Eine
befristete Aufenthaltserlaubnis. Alle drei Monate kämpft sie wieder um die Verlängerung. In den fast acht Jahren, die sie in Deutschland lebt, hat sie nur
drei Monate lang einen elementaren
Deutschunterricht gehabt. Dank der Caritas. Inzwischen hat sie noch eine Tochter bekommen."
Besprochen werden die
Ausstellung "Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg" im
Jüdischen Museum Berlin (
Zwangsarbeit, erkennt Harry Nutt hier, war "Zwangsarbeit keineswegs ein Abfallprodukt des 1939 entfesselten Kriegsgeschehens. Von Beginn an war sie Teil der rassistischen NS-Ideologie"),
Andreas Homokis Inszenierung von Wagners "Meistersinger von Nürnberg" an der Komischen Oper Berlin, die Uraufführung von
Hans Werner Henzes Oper "Gisela" in Gladbeck, eine Inszenierung von
Rene Polleschs Stück "Drei Western" am Stuttgarter Schauspiel,
Lars-Ole Walburgs Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Goldener Drache" und Bücher, nämlich
Heinrich Hannovers "Reden vor Gericht" und
Dorion Rabinovicis Roman "Andernorts" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Aus den Blogs, 28.09.2010
"The end of an era in tech blogging?",
fragt Robert Scoble in seinem Blog
Sobleizer und berichtet über Gerüchte, dass das Blog
Techcrunch an
AOL verkauft wird, für 25 Millionen Dollar oder mehr.
"
Robotic Vaginas Make Childbirth Look More Horrifying Than Ever",
fürchtet Rosa Golijan in
Gizmodo.
TAZ, 28.09.2010
Heinz Dürr, der im Interview "
Stuttgart 21" verteidigen soll, wird von Ingo Arzt und Wolf Schmidt vorgeworfen: eine Mehrheit sei gegen das Projekt, die Stimmung sehr aufgeheizt, die Kosten, Stuttgarter Klüngel, andere haben auch keinen Bahnhof gebaut, das neue Viertel wird seelenlos, der Abriss des Bahnhofes laut und andere Bahnprojekte könnten jetzt nicht gebaut werden. Dürr
wehrt sich tapfer und benennt noch mal
die Chancen, die das Projekt für die Stadt eröffnen: "Die hässlichen oberirdischen Gleisanlagen, die jegliche Stadtentwicklung unmöglich machen, fallen weg. Warum redet heute niemand mehr über
die Möglichkeiten dieses neuen Stadtteils, der im Zentrum entstehen könnte?"
Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt war auf dem Berliner
Literaturfestival unterwegs, ohne irgendwelche Erkenntnisgewinne mitzunehmen ("Interessant schien mir auch, dass bei meiner ersten Lesung vier, bei der zweiten drei und bei der dritten zwei auf der Bühne saßen.") Isolde Charim
denkt über den Erfolg der
Grünen nach, der sich "einer großen Angsterzählung" verdanke. Der
Historiker Jürgen Osterhammel spricht anlässlich des heute beginnenden
Deutschen Historikertag in Berlin im
Interview über
Globalgeschichte, Nationalgeschichte, Klimaforschung, Grenzen, Einwanderung, den Islam, China und schließlich die
Demokratie, der er außerhalb des Westens wenig Erfolg voraussagt: "Rechtsstaatliche Verhältnisse dürften sich weiter ausbreiten, jedoch nicht immer gefolgt von parlamentarischer Demokratie westeuropäischen Typs." Und der palästinensische Philosoph
Sari Nusseibeh erklärt im
Interview, warum
Gewalt im Nahostkonflikt nicht weiterhilft, die Selbstmordattentate der
Hamas aber auch nicht schlimmer sind als "das Flächenbombardement, mit dem die USA die Zivilbevölkerung in
Vietnam und in anderen Orten der Welt terrorisiert hat".
Besprochen wird die
Ausstellung "Der rote Bulli -
Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie" im
NRW-Forum.
Und
Tom.
SZ, 28.09.2010
Burkhard Müller verfolgte eine Tagung über "Die Securitate in Siebenbürgen", wo natürlich auch über
Oskar Pastior diskutiert wurde. Auch
Stefan Sienerth, der Pastiors IM-Verstrickung offen gelegt hatte, war dabei, so Müller. "Wie soll man nun zu Pastiors Verhalten stehen? Diese Frage spaltete die anwesende Gemeinde. Sienerth selbst gab zu bedenken: 'Ich möchte
andere sehen, wenn sie in diese Zwangslage kämen!' Pastior habe bereits fünf Jahre in einem sowjetischen Lager verbracht und panische Angst vor einer Wiederholung gehabt; eineinhalb Jahre habe ihn die Securitate zappeln lassen, ehe sie zuschlug."
Weitere Artikel: Auch in der
SZ wird die
Kampagne für
Liu Xiaobo jetzt vermerkt. Sie löst bei der chinesischen Regierung Nervosität aus, schreibt Alex Rühle: "Es käme einem
PR-GAU gleich, wenn an dem Tag tatsächlich wahr würde, was Tutu, Havel und die mehr als 300 chinesischen Juristen, Professoren und Künstler fordern: Den Friedensnobelpreis soll in diesem Jahr Liu Xiaobo erhalten." In der Zwischenzeit kommt Gustav Seibt nochmal auf "
Wandrers Nachtlied" (besser: "Ein Gleiches") zurück, das den Deutschen in der Sarrazin-Debatte in Erinnerung gerufen wurde. Jutta Göricke gratuliert dem Ausstellungsmacher
Christoph Vitali zum Siebzigsten. Rainer Gansera resümiert das Filmfestival von
San Sebastian.
Besprochen
Volker Löschs Stück "Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg", dessen "grottenschlechte Inszenierung" Till Briegleb als Sinnbild einer desaströsen
Hamburger Kulturpolitik empfand, eine Ausstellung des in Zürich gerade vom Volk abgeschmetterten
Thomas Demand in
Monaco und Bücher, darunter
Alice Schwarzers Band gegen das Kopftuch, das Thomas Steinfeld als "große Schmäh- und Kampfschrift gegen den Islam" begreift (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
FAZ, 28.09.2010
Bernd Nicolai, Architekturhistoriker aus Bern,
verteidigt Paul Bonatz' Stuttgarter Hauptbahnhof gegen die partiellen Abrisspläne von Bahn und Politik: "Mit Paul Bonatz hat man zwar keinen bequemen, aber einen der bedeutendsten
Vertreter der Moderne in Stuttgart, kein Avantgardist, aber der Architekt, der neben Fritz Schumacher und Theodor Fischer den Übergang des Werkbund-Reformstils um 1910 in eine moderate Moderne vollzog..." Ab 33, so Nicolai, versuchte Bonatz, die
"
Moderne in die NS-Zeit einzubinden". (Sein Bau aus den Zwanzigern kann einen aber durchaus schon an die monumentale Ästhetik der Nazis erinnern, unter denen Bonatz seine Talente übrigens bestens entfalten konnte,
mehr im Blog von Clemens Heni).
Weitere Artikel: Gemeldet wird, dass das Zürcher "Nagelhaus" von
Thomas Demand nach einer Volksabstimmung nicht gebaut wird. Patrick Bahners
unterstützt in der Leitglosse noch einmal den Kunsthistoriker Peter Geimer, der in der
FAZ in der letzte gegen das Volk und für die Jury plädierte. Felicitas von Lovenberg fragt sich in einem kurzen Artikel, warum sich die Leser in diesem Jahr nicht für die Romane der
Shortlist für den Buchpreis zu interessieren scheinen. Levke Clausen verfolgte eine Tagung von
Wikipedianern und Wikipedia-Forschern in Leipzig ("Das Machtmonopol der Administratoren führt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen: '
Löschkriege' und '
Sperrwahn' haben das
Mitmachinteresse bei Wikipedia gesenkt. Wikipedia ist zu einem Club geworden.") Wolfgang Günter Lerch schreibt zum Tod des Islamwissenschaflters und Philosophen
Mohammed Arkoun.
Auf der Medienseite berichtet Detlef Borchers, dass die
Software Haystack (Heuhaufen), die politisch gefährdeten Autoren etwa im
Iran helfen sollte, ihre Nachrichten verschlüsselt zu senden, fatale Fehler aufzuweisen scheint, die es gerade ermöglichen, die Autoren aufzuspüren - aufgedeckt wurde die Schlappe von dem
Internetskeptiker Evgenij Morozov. (Borchers warnt darum vor "
Slacktivism", also vor oberflächlicher Interneteuophorie der Medien - eine Gefahr, die in der
FAZ aber kaum drohen dürfte.)
Besprochen die Ausstellung "Weltenwandler - Die Kunst der Outsider" in
Frankfurt,
Ermanno Olmis Film "Hundert Nägel" (mehr
hier), die ersten Inszenierungen unter dem neuen Bochumer Intendanten
Anselm Weber und Bücher, darunter eine Neuauflage von
Jan Patockas "Ketzerischen Essays" (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr)..