Heute in den Feuilletons

Zumindest diskursiv im eigenen Saft

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2010. Der iranische Philosoph Abdulkarim Soroush erklärt in seinem Blog, warum iranische Geistliche so gern eine islamische Wissenschaft hätten. Douglas Coupland legt in The Globe and Mail einen "radical pessimist's guide to the next 10 years" vor, in dem er sich auch endgültig von der Mittelschicht verabschiedet. Die SZ berichtet von einem Eklat bei der Verleihung des Leipziger Medienpreises an Kurt Westergaard: Shirin Ebadi boykottierte die Veranstaltung und findet, dass Westergaards Karikatur gegen die UN-Menschenrechtserklärung verstößt. Und endlich: Der Heatball ist da!

Welt, 11.10.2010

Der Friedenspreis für David Grossman war für Jacques Schuster und Elmar Krekeler ganz klar der Höhepunkt der Buchmesse, ansonsten fanden sie es total öde: Leer war es und gestritten wurde nicht einmal über Mario Vargas Llosa: "Ach so. Haterdennichtschon? Lebtderdennnoch? 'Ochjoganzgutwahrscheinlich.' Oder Thilo Sarrazin, die Geld-Kuh der Deutschen Verlagsanstalt. Der Retter der Bilanzen des Buchhandels. Der Lordbrunnenvergifter des deutschen Integrationsscheinfriedens. Wenigstens dieser Burlesquedenker der Konservativen müsste es doch herausreißen. Demonstrationen müsste es geben, wenn er kommt. Es müssten Bücher fliegen wie damals anno 68. Nichts da. Der Hobbygenetiker aus Berlin sitzt mit Frank Schirrmacher, dem Hobbygenomiker aus Frankfurt, und dessen diesjährigem Haupthandyhalter friedlich am Tisch seines Verlages. Keinen interessiert's."

Die Friedenpreisverleihung hat Tilman Krause daran erinnert, dass Literatur fürs Existenzielle zuständig ist. Krause zitiert unter anderem aus David Grossmans Dankesrede den seiner Ansicht nach schönen und besonnenen Gedanken: "Ich denke, die bedeutendsten Dinge in der Geschichte der Menschheit haben sich nicht auf Schlachtfeldern ereignet, nicht in den Sälen der Paläste oder auf den Fluren der Parlamente, sondern in den Küchen, in Kinder- und Schlafzimmern."

Weiteres: Marc Reichwein begleitete die Osiander Buchhandlung vom Bodensee beim Tagesausflug zur Buchmesse. Besprochen werden der Saisonstart der Münchner Kammerspiele mit Dramatisierungen von Joseph Roths "Hotel Savoy" und Jack Londons "Ruf der Wildnis" sowie Sasha Waltz' Choreografie für Pascal Dusapins "Passion".

Und Paul Samson schreibt den Nachruf auf den großen Solomon Burke. Hier singt er noch einmal, unterstützt von einer Gruppe supercooler älterer Herren: "None of us are free"




Weitere Medien, 11.10.2010

(Via BoingBoing). Douglas Coupland legt in The Globe and Mail einen lesenswerten "radical pessimist's guide to the next 10 years " vor. Punkt 6: "The middle class is over. It's not coming back. Remember travel agents? Remember how they just kind of vanished one day? That's where all the other jobs that once made us middle-class are going - to that same, magical, class-killing, job-sucking wormhole into which travel-agency jobs vanished, never to return. However, this won't stop people from self-identifying as middle-class..."

Aus den Blogs, 11.10.2010

Am 7. Oktober 1849 starb Edgar Allan Poe in Baltimore einen rätselhaften Tod. Aus diesem Anlass hat Open Culture einen wunderbaren Animationsfilm aus dem Jahr 1953 von Poes "Das verräterische Herz" ausgegraben. Sprecher ist James Mason. In England war der Film mit einem X-Rating versehen worden, also für Jugendliche verboten.



(via Gawker) Gestern waren es über 12 Grad in Moskau. Sehr warm. Nikita Chruschtschow nahm ein Sonnenbad, reagierte aber verdrießlich auf die Frauenmode.

Der iranische Philosoph Abdulkarim Soroush erklärt in seinem Blog, warum den iranischen Geistlichen so viel an "islamischen Wissenschaften" gelegen ist: "They are mistrustful of empirical human sciences and want to replace them with transmitted human sciences; i.e., sciences that are extracted straight out of religious texts and present definitive and truthful explanations about human beings and societies. Ayatollah Javadi-Amoli has been striding in this realm for quite some time now. He declares proudly: On the basis of a single hadith (calling on people not to taint their certainty with doubt), we've been able to open a vast chapter by the name of istishab (presumption of continuity) within the field of the principles of Islamic jurisprudence which contains many subtle and delicate points; so why shouldn't we be able to extract the science of agriculture from a hadith on the subject of farming, or extract the science of shipbuilding from the Koranic verses about Noah's ship, or extract sciences about training and education from other hadiths, and so on. In fact, this is precisely the aim and purpose of the Theorizing Chairs, which is one of the Islamic Republic's most amazing inventions."

Lesenswert: Ulrike Langers Lesetipps zum Wochenstart, unter anderem über eine recht verzagte Tagung des Deutschen Journalistenverbands über Onlinejournalismus.

(Via Achgut) Der Heatball ist da, eine extrem effiziente Kleinheizung, die nebenbei so viel Licht abwirft wie eine Hundertwattbirne. Und sie kann in die selbe Fassung gedreht werden. Begründung: "In Passivhäusern macht die Wärme, die durch Glühlampen in die Räume eingetragen wird, einen erheblichen Anteil der Heizenergie aus. Der Austausch von Glühlampen durch Energiesparlampen nimmt diesen Teil, der nun anderweitig zugeführt werden muss."

TAZ, 11.10.2010

Ulf Erdmann Ziegler bespricht die Ausstellung "Weltenwandler" über die Kunst der "Outsider" in der Schirn. Andreas Fanizadeh schickt seine letzte Buchmessenkolumne. Ines Kappert berichtet von der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an David Grossman. Ingo Arend besucht Kunst- und Nebenmessen in Berlin.

Schließlich Tom.

FR, 11.10.2010

Harry Nutt ist sehr zufrieden: mit der Rede des Laudators Joachim Gauck wie mit der Rede David Grossmans bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Grossman nutzte seine Dankesrede zu einem "zurückhaltenden, gleichwohl emphatischen Plädoyer für eine israelische Neuorientierung. 'Ich wünsche mir', sagte Grossman, 'dass mein Land, Israel, die Kraft finden wird, seine Geschichte noch einmal neu zu schreiben.'"

Weitere Artikel: Der Ägyptologe Jan Assmann anwortet auf den Kollegen Franz Maciejewski, der den Mythos vom Monotheismus der von Echnaton gegründeten Amarna-Religion wiederlegen will. Judith von Sternburg hörte eine Lesung Jonathan Franzens in Frankfurt.

Besprochen werden neue Inszenierungen an den Münchner Kammerspielen, einige lokale Ereignisse und Bücher, darunter Peter Careys Roman "Parrot und Olivier in Amerika" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 11.10.2010

Die Publizistin Alena Wagnerova schildert in einem interessanten Hintergrundtext, wie weit die Aufarbeitung der Vertreibung in Tschechien bereits gediehen ist - weiter als man in Deutschland wahrhaben will, wie sie meint: "Der jungen Generation macht es keine Probleme mehr, sich der ganzen Geschichte der Gemeinden zu stellen. In der deutschsprachigen Presse und anderen Medien wird über diese Entwicklungen auf dem Feld der deutsch-tschechischen Verständigung leider wenig berichtet. Kein Wunder, beherrschen das Bild immer noch die alten Klischees, die weit hinter der Realität zurückbleiben. Man kann von einer Art selektiver Wahrnehmung sprechen, die sich an Deutungsschemata und Stereotypen aus der Zeit der Teilung Europas orientiert."

Weiteres: Andreas Breitenstein resümiert den alles in allem nicht unattraktiven Auftritt Argentiniens auf der Buchmesse, fragt sich allerdings, für wen er gedacht war: "Argentinien schmorte zumindest diskursiv im eigenen Saft." Joachim Güntner berichtet von der Verleihung des Friedenspreises an David Grossman. Eric Facon verabschiedet Solomon Burke. Peter Hagmann bespricht die Uraufführung von Marc-Andre Dalbavies "Gesualdo" am Opernhaus Zürich.

SZ, 11.10.2010

Aus Anlass des Friedensnobelpreises für Liu Xiaobo druckt die SZ Kurzfassungen zweier Essays des chinesischen Dissidenten. Einmal sein Schlussplädoyer im Prozess 2009. Und einen zweiten Text, über dessen Entstehensumstände leider nichts gesagt wird: "Ein zivilgesellschaftliches Wertesystem, das unabhängig vom bürokratischen Wertesystem ist, nimmt nach und nach Gestalt an, und obwohl die Indoktrination mit Lügen und die Kontrolle der freien Rede weiter existieren, hat die Überzeugungskraft der Regierung doch erheblich nachgelassen."

Ganz erschrocken berichtet Christiane Schlötzer auf der Medienseite von der Verleihung des Leipziger Medienpreises an Kurt Westergaard, die zu einem Eklat führte: "Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi und ihr iranischer Landsmann, der Journalist und Regimekritiker Akbar Ganji, boykottierten die Verleihung." Ebadi distanzierte sich überdies bei einer Rede von Westergaards Zeichnung: "'Eine Form von Hass-Propaganda' sah sie darin, sogar einen 'Verstoß gegen die UN-Menschenrechtskonvention'. Als Ebadi den Saal verließ, streckte ihr der grauköpfige Däne die Hand hin. Ebadi erwiderte den Gruß im Vorbeigehen, abseits der Kameras." Und selbst Seymour Hersh fand den Preis für Westergaard "naiv".

Weitere Artikel: Franziska Augstein berichtet von der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an David Grossman. Jonathan Fischer schreibt zum Tod des Soulsängers Solomon Burke. Niklas Hoffmann resümiert in den "Nachrichten aus dem Netz" noch einmal die insgesamt einigemaßen entspannte Reaktion des Facebook-Konzerns auf den Film "The Social Network". Auf der Literaturseite resümieren Sebastian Schoepp (der sich dem Lateinamerika-Schwerpunkt widmet) und Johan Schloemann die Frankfurter Buchmesse.

Besprochen werden neue DVDs, erste Inszenierungen und Lesungen in der Intendanz von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen (die von Christine Dössel mit großem Wohlwollen aufgenommen werden) und Richard Strauss' "Daphne" in Dresden.

FAZ, 11.10.2010

Felicitas von Lovenberg berichtet von der Friedenspreisverleihung an David Grossman. In ihrer Fixiertheit auf dessen eigene Themen nicht ganz angemessen fand sie Joachim Gaucks Laudatio, umso beeindruckender die Worte des Geehrten selbst: "Als er nach dem Tod seines Sohnes Uri wieder zum Schreiben zurückgekehrt sei und stundenlang nach dem richtigen Wort für ein ganz bestimmtes Gefühl gesucht habe, sei er zunächst erstaunt gewesen, dass etwas 'so Geringfügiges' ihn überhaupt beschäftigte. 'Doch als ich das richtige Wort gefunden hatte, empfand ich eine Befriedigung, von der ich geglaubt hatte, ich würde sie nie mehr im Leben empfinden können: das Gefühl, in dieser chaotischen Welt eine Sache so zu machen, wie sie gemacht werden muss.'"

Weitere Artikel: Andrea Diener fragt sich in ihrer Bilanz, ob die diesjährige Buchmesse nun einfach "harmonisch", oder doch eher "langweilig" war. Karen Krüger muss feststellen, dass von aktuellen Diskussionen hierzulande um Integration, Islamismus oder Ehrenmord bei den türkischen Verlagen nichts zu finden ist. Aus Anlass des demnächst in Kraft tretenden Burkaverbots denkt Joseph Hanimann über die neue Wertschätzung der Republik und Glaubensfragen in Frankreich nach. Über unser Begehren nach "Reziprozität" denkt in seiner "Klarer denken"-Kolumne der Schriftsteller Rolf Dobelli nach. In der Glosse sieht Gina Thomas in der Ernennung des Historikers Simon Schama ein gutes Zeichen für die "alte Werte"-Offensive der konservativen britischen Regierung in der Schulpolitik. Timo John lobt die "angenehme Zurückhaltung" der neuen Galerie "Schauwerk" in Sindelfingen.

In amerikanischen Zeitschriften geht es um den Bücherherbst - da liest Jordan Mejias auch kritische Töne über die "middlebrow mimesis" des auch in seiner Heimat keineswegs durchweg gefeierten Jonathan Franzen. Der angekündigte Skandal bzw. vernehmliche Proteste gegen die Kollektivierung der Preise beim Deutschen Fernsehpreis blieben bei der Verleihung, wie Michael Hanfeld mitteilt, aus. Andreas Platthaus und Felicitas von Lovenberg zählen auf einer Vogue-ähnlichen Seite mit Kleinfotos von Prominenten allen Ernstes auf, wer alles beim FAZ-Buchmessenempfang anwesend war ("Die Buchautorin Stephanie zu Guttenberg brachte ihren Mann mit, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg".) Edo Reents schreibt zum Tod des Soulmusikers Solomon Burke, von Gerhard R. Koch kommt der Nachruf auf den Tanzkritiker Jochen Schmidt

Besprochen werden der Auftakt von Marius Müller-Westernhagens Deutschland-Tour in Mannheim, der jüngste Pollesch, Titel "Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisserus zu überzeugen, in Frankfurt, eine Aufführung der Händel-Oper "Amadigi di Gaula" im Mainzer Staatstheater, und Bücher, darunter die von Raoul Schrott ins Deutsche gebrachten "Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).