Heute in den Feuilletons

Wahrung einer herausgehobenen Podestposition

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2010. In der FAZ fordert Grünen-Politiker Franz Schulz, dass Eltern aus dem Mittelstand ihre Kinder auf Problemschulen schicken. Er würde es bestimmt auch tun, wenn er das Sorgerecht hätte. In der Welt fragt Ian McEwan: Warum hat eigentlich so gut wie kein deutscher Autor von Rang über die Berliner Mauer geschrieben? Wikileaks hat neue Dokumente aus dem Irak-Krieg an Qualitätsmedien verteilt. Der Spiegel hat sie gesichtet und fragt sich selbst, was das nun bringt. In der FR erklärt Hannelore Schlaffer, warum sie sich von ihren demokratischen Repräsentanten nicht demokratisch repräsentiert fühlt.

NZZ, 23.10.2010

Die Beilage Literatur und Kunst ist ganz dem Internet gewidmet. Andrea Köhler probiert einige Apps für den Ipad aus und stößt auf eine Schatzgrube: "iTunesU, in der Audio- und Videomitschnitte von Vorlesungen und Podiumsgesprächen an namhaften Universitäten und Colleges zu finden sind; auch Museen - insbesondere das Metropolitan Museum of Art - stellen Aufzeichnungen von Vorträgen bereit, die Library of Congress und andere Archive warten mit historischen Tondokumenten auf. Die Liste der beteiligten Hochschulen und Institutionen ist imposant ... Obendrein sind all diese Herrlichkeiten kostenlos zu haben."

Der Soziologe Hans Geser schildert den gewaltigen Demokratisierungsschub, den das Netz ausgelöst hat. Schwierig sei es jedoch noch, "Freiheiten der Meinungsäußerung mit potenten Mechanismen der Konsensbildung und Entscheidungsfindung zu verknüpfen". Daran, so Geser, sind auch die traditionellen Medien schuld, die sich "dem Online-Diskurs bis anhin fast völlig verweigern, weil sie - was bei Journalisten besonders augenfällig wird - in einem Medium, das alle User zu gleichrangigen Lieferanten von Text-Voten degradiert, keine Möglichkeiten zur Wahrung einer herausgehobenen Podestposition mehr sehen."

Außerdem: In einem zweiten Artikel beschreibt Hans Geser die digitale Kluft zwischen reichen und armen Ländern. Angela Schader stellt die amerikanische Webseite Kickstarter vor, die Künstler und Mäzene zusammenbringt. Weitere Artikel sind eher pessimistisch: Uwe Justus Wenzel sucht dem Netz mit Marshall McLuhan und Teilhard de Chardin auf die Spur zu kommen. Der Medientheoretiker Olivier Voirol überlegt mit Georg Simmel, welche Auswirkung das Internet auf unsere sozialen Interaktionen hat. Andrea Köhler beschreibt das Netz als digitalen Pranger. Reinhard Storz untersucht den Umgang der Kunst mit den elektronischen Kommunikationsmitteln. Der Ethnologe Hans Peter Hahn überlegt, welchen Nutzen es uns bringt, wenn Alltagsgegenstände "intelligent" werden.

Im Feuilleton erzählt der Linguist Horst Sitta in der Kolumne "Digitaler Alltag", wie er - einige - technische Neuerungen lieben lernte. Joachim Güntner besucht das Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg. Eveline Suter beschreibt Eindrücke auf der 29. Biennale von Sao Paulo. Andrea Köhler meldet, dass das berühmte New Yorker Chelsea Hotel verkauft wird. Besprochen wird eine große Werkretrospektive von Mario Botta im Museo di Arte Moderna e Contemporanea von Rovereto.

TAZ, 23.10.2010

So lustig wie intelligent fand Julian Weber, was Studio Braun (Heinz Strunk, Rocko Schamoni, Jacques Palminger) mit ihrem Stück "Rust - ein deutscher Messias" am Hamburger Schauspielhaus auf die Bühne brachten: "Man kann ihr verschwenderisches 'psychedelisches Volkstheater' (Studio Braun) als ablehnenden Kommentar zur Politik der knappen Kassen lesen. Vielleicht werden die überragenden dramaturgischen Einfälle, die traumwandlerische Musikuntermalung und das besondere Gespür der drei Komiker, das Publikum mit Sonderansprachen aus der Fassung zu bringen, bald gar nicht mehr möglich sein... 'Rust' bündelt die 16 bleiernen Jahre der Kohl-Ära zu einem Kaleidoskop der Scheußlichkeiten: Schrankwand-Mief und nerdige Technikbegeisterung, verklemmter Sex und Monokel-tragende Fliegerhelden aus 'Was ist was'-Bänden."

Weitere Artikel: Andreas Fanizadeh und Christoph Villinger sprechen mit dem ehemaligen Mitglieder der Revolutionären Zellen Thomas Kram über die Rolle der RZ im internationalen Terrorismus der Siebziger bis Neunziger Jahre, wie er in Olivier Assayas' "Carlos"-Film dargestellt wird. Ein Wort gefällt Kram allerdings nicht dabei: "Könnten Sie den Begriff 'terroristisch' in diesem Zusammenhang streichen?" Im Interview mit Cristina Nord erklärt Tilda Swinton unter anderem, warum für sie die Darstellung des Esels in Robert Bressons "Zum Beispiel Balthasar" das Ideal der Schauspielkunst verkörpert. Steffen Grimberg stellt die nunmehr verabschiedete neue Rundfunk-Haushaltsabgabe noch einmal in ein paar Einzelheiten vor. Sehr nachdrücklich weist Jörg Sundermeier auf die herausragenden Qualitäten des literarischen Werks des am vergangenen Wochenende verstorbenen Thomas Harlan hin. Tim Caspar Boehme erlebte den Auftritt Roberto Savianos in der Berliner Volksbühne. Im Interview im vorderen Teil zeigt der Sozialpsychologe Harald Welzer volles Verständnis für die 21- und andere Proteste gegen Formen von "Planungsstalinismus".

Besprochen werden nur Bücher, darunter Jean-Philippe Toussaints Trilogie-Abschlussroman "Die Wahrheit über Marie" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 23.10.2010

Die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer (Jahrgang 1939) und der Architekt Max Bächer (Jahrgang 1925) haben eine gemeinsame Streitschrift zur Unterstützung der Proteste gegen Stuttgart 21 verfasst, die so beginnt: "Ja, zum Donnerwetter, wo sind wir denn eigentlich? Hört denn keiner mehr zu? Bei allem Respekt vor Ihrem Amt, Herr Ministerpräsident: Wir sind nicht Ihre Untergebenen, und der Ton, in dem Sie mit uns reden, gefällt uns nicht. Wir haben 'keine Angst vor Fürstenthronen', sondern eher vor einer 'demokratischen Befehlsgesellschaft', in der einige Abgeordnete glauben, bestimmen zu können, was die Bürger zu tun haben." Von Schlaffer gibt es außerdem noch einen Text zur Geschichte deutscher Protestkultur seit 1968.

Weitere Artikel: Bischof Friedhelm Hofmann und Intendant Ulrich Khuon unterhalten sich in großer Ausführlichkeit über reale und mögliche Nähen und Fernen zwischen Theater und Kirche; Anlass ist die Tagung "Theater und Glaube", die an diesem Wochenende im Deutschen Theater Berlin stattfindet. Viel zu kurz gedacht findet Frank Nullmeier den scharf sozialstaatskritisch daherkommenden "Altherrenliberalismus", der ihm aus dem jüngsten Heft der Zeitschrift Merkur entgegenweht. In einer Times Mager geht es um den Sexappeal langer Frauenarme und eine US-Studentin, die die Qualitäten der Männer, mit denen sie im Bett war, in einer Hausarbeit analysierte.

Besprochen wird ein Abend mit drei Choreografien Hans van Manens aus den Neunzigern in der Alten Oper (im Ort liegt für Sylvia Staude das Problem, das die Überschrift ihrer Rezension benennt: "Unterhalb des Knies nur Köpfe").

Welt, 23.10.2010

Ian McEwan war in Berlin, um seinen neuen Roman "Solar" vorzustellen. Im Gespräch mit Wieland Freund und Jacques Schuster erzählt McEwan, der durch den Berlin- und Mauer-Roman "Unschuldig" bekannt wurde, wie sehr er sich darüber wunderte, dass praktisch kein deutscher Autor von Rang über die Berliner Mauer geschrieben hat: "Wenn die Mauer mitten durch Manhattan verlaufen wäre, die amerikanischen Schriftsteller hätten sich nicht von dem Thema abgewandt. Warum also diese Stille auf der westlichen Seite? Ich glaube, es gibt zwei Antworten darauf. Die eine lautet: Die meisten deutschen Schriftsteller standen politisch eher auf der linken Seite. Hätten sie über die Mauer geschrieben, hätten sie sich gegen sie wenden müssen. Doch in der geteilten Welt des Kalten Krieges wollten die Autoren nicht auf der Seite der CIA stehen. Die andere, ästhetisch interessante Antwort hat mir ein deutscher Kollege gegeben, der mir auf die Frage, warum er nicht über die Mauer schreibe, gesagt hat: Die Mauer ist was für Journalisten."

Weitere Artikel: Stephan Peter Jungk traf Peter Handke, um mit ihm über sein jüngstes Buch "Immer noch Sturm" zu sprechen. Besprochen werden ein Band mit Marilyn Monroes Tagebüchern und Fritz J. Raddatz' monumentaler Band mit Notizen aus dem Literaturbetrieb (mehr hier).

Auf der Feuilletonseite unterhält sich Josef Engels mit dem Jazzbassisten Charlie Haden.

Spiegel Online, 23.10.2010

Wikileaks hat neue Dokumente aus dem Irak-Krieg an internationale Qualitätsmedien geleakt. Der Spiegel hat sich dazu entschlossen mitzumachen und die Dokumente zu sichten. Und stellt trotzdem lauter ratlose Fragen zur Angelegenheit: "Wissen wir nun, da WikiLeaks Geheimprotokolle des US-Militärs zum Irak-Krieg veröffentlichen will, endlich alles über diesen Feldzug? Bringen solche Versuche, den Krieg in seinen unendlich vielen Einzelereignissen und Zahlen erfassbar zu machen, überhaupt noch Erkenntnisgewinn? Lohnt es sich, der Flut von Büchern, Berichten und Dokumentationen noch weitere 391.832 Dokumente aus den Jahren 2004 bis 2009 hinzuzufügen?"
Stichwörter: Der Spiegel, Irak

FAZ, 23.10.2010

Wenn sich immer mehr Einwandererkinder aus bildungsfernen Schichten in bestimmten Schulen ballen, liegt das vor allem daran, dass die Mittelschicht - und zwar die türkische wie die deutsche - ihre Kinder aus solchen Schulen fernhält, berichtet Melanie Mühl in einer Reportage. Einige Politiker wie den grünen Bürgermeister von Berlin-Friedrichshain Franz Schulz ärgert das: "Jeder habe eine moralische Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Mit dem Integrationsproblem verhalte es sich wie mit dem Klimawandel. Man müsse einen Beitrag leisten. ... Es gibt einen Satz, den man in diesen Tagen immer wieder hört von Türken und Deutschen. Er lautet: 'Ich opfere doch nicht mein Kind.' Auf die Frage, ob er sein Kind auf eine Kreuzberger Schule schicken würde, antwortet Franz Schulz, er habe ja nicht das Sorgerecht."

Weitere Artikel: Daniel Harrich, Produzent der stark kritisierten Serie "Tatort Internet", verteidigt sein Konzept: erst die Leute an den Pranger stellen, dann zugeben, dass ihr Verhalten nicht strafbar ist, dann eine Verschärfung der Gesetze fordern, auf dass es strafbar werde. In der Leitglosse berichtet Irene Bazinger über einen Auftritt Roberto Savianos in der Berliner Volksbühne. Jürgen Dollase isst im Burgenland bei Walter Eselböck. Karen Krüger berichtet über Bundespräsident Wulffs Besuch der Irenenkirche in Istanbul. Andreas Rossmann beschreibt wenig begeistert das neue Kulturquartier in Köln, das heute eröffnet wird. Gina Thomas referiert eine Rede Rupert Murdochs, der in London im Rahmen einer Vortragsreihe zu Ehren Margaret Thatchers den "alten Eliten" kräftig eins überbriet. Israelische und amerikanische Zeitungen fragen, ob man mit der Verleihung eines Ehrenoskars an Jean-Luc Godard nicht einen Antisemiten auszeichnet, berichtet Jürg Altwegg, der das entschieden verneint: "Godard entgleist gelegentlich und provoziert regelmäßig. Ein Antisemit ist er nicht, schon gar kein 'notorischer'." (Und wir meinen: Er ist es doch, leider.) Kerstin Holm besucht ein neues Multimediakunstmuseum in Moskau. Ulrich Olshausen war beim Irish Folk Festival in Mainz und erklärt Niamh Ni Charra - "ein bezaubernder Vollprofi" - zum Star des Festivals.

Bilder und Zeiten bringt einen Auszug aus Verena Luekens überarbeiteter "Gebrauchsanweisung für New York". Alard von Kittlitz stellt eine "Klagenfurter Ausgabe" betitelte DVD mit dem Gesamtwerk Robert Musils vor. Lena Bopp besucht das Musee Carnavalet in Paris. Christian Metz liest Norbert Gstreins Roman "Die ganze Wahrheit" als "Gesprächsangebot" an den Fotografen Thomas Demand. Konstanze Crüwell besucht den Verleger John Dieter Brinks (Triton Verlag). Und der amerikanische Songschreiber Van Dyke Parks erklärt im Interview mit Ulf Erdmann Ziegler: "Ich habe den armen Leuten zugehört, wie sie sprechen - nämlich mit Melodie."

Besprochen werden Studio Brauns Inszenierung "Rust" im Hamburger Schauspielhaus, die Ausstellung "Unsichtbare Schatten - Bilder der Verunsicherung" im Museum Marta in Herford, eine Ausstellung des Comiczeichners Moebius in der Fondation Cartier, das zweite Klavierkonzert Prokofjews mit Yefim Bronfman und dem fünfunddreißigjährigen Dirigenten Yannick Nezet-Seguin, der erstmals die Berliner Philharmoniker dirigierte, einige CDs, darunter das neue Album von Belle & Sebastian und zwei Aufnahmen des Leipziger Streichquartetts: Schumanns Quartette op.41 im Urtext und Quintette von August Klughardt, sowie Bücher, darunter eine modernisierte Fassung von Grimmelshausens "Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Wulf Segebrecht ein Gedicht von Durs Grünbein vor:

"Kleine Litanei

Ach ja, wir sterben, wo wir gehn und stehn.
Hast du nicht selbst gesagt, daß es so sei?
Man wünscht, das sollte besser nicht geschehn,
Und doch gehört es hier zum Vielerlei.
..."

SZ, 23.10.2010

Alex Rühle hat ein Buch des Journalisten Peter Gill über die Auswirkungen der Live-Aid-Aktionen gelesen und ist dabei sehr ins Zweifeln geraten über Sinn und Zweck von Spenden dieser Art. Finanziert wurde nämlich unter anderem eine Zwangsumsiedlung aus den notleidenden Gegenden Äthiopiens in andere Regionen des Landes: "Die zwangsrekrutierten Menschen wurden fünf, sechs Tage lang durchs Land gefahren, bei diesen auszehrenden Transporten sind 50.000 bis 100.000 Menschen gestorben. In den südäthiopischen Gegenden starben dann viele an Seuchen und am Dreck in den Lagern. Finanziert wurden diese Zwangsumsiedlungen großteils von den Live-Aid-Spenden. Die französische Sektion der 'Medecins sans Frontieres' zog sich damals unter Protest aus Äthiopien zurück - und sagte, dies sei 'die größte Deportation seit dem Völkermord der Khmer Rouge'."

Weitere Artikel: Einen so eindrucksvollen wie furchterregenden (und glaubwürdigen) Bericht aus ihrer Arbeit als Literaturvermittlerin für Hauptschüler und Migrantenkinder liefert die Schriftstellerin Mirijam Günter. Eine Antwort, die sie bekommt: "Ich glaube mit Träumen sind Sie bei uns an der falschen Stelle; hier träumt schon lange keiner mehr." Florian Kessler hat den Auftritt des Autors Roberto Saviano an der Berliner Volksbühne erlebt. 

Im Aufmacher der SZ am Wochenende stellt Petra Steinberger die Bewegung der "Collapsitarians" vor - jene Menschen also, die über den ihrer Ansicht nach bevorstehenden Zusammenbruch der Zivilisation hinauszudenken versuchen. Frank Nienhuysen stellt Krimiautorinnen aus Moskau vor, die sich die Verbrechen nicht aus den Fingern saugen müssen. Auf der Historienseite stellt Harald Hordych fest, dass die heute mit dem Islam verbundenen Überfremdungsängste in sehr ähnlicher Weise schon angesichts der Zuwanderung von Italienern, Spaniern und Griechen existierten. Rebecca Casati unterhält sich mit Tilda Swinton über Schönheit, Reichtum, ihren neuen Film "I am Love" und über "Konvention".

Besprochen werden das Mathias-Rust-Stück der Theatertruppe Studio Braun (Heinz Strunk, Rocko Schamoni, Jacques Palminger) im Hamburger Schauspielhaus (Till Briegleb mag es, nutzt die Gelegenheit aber vor allem, um noch einmal gegen den sich in "eitlem Selbstmitleid" ergehenden Ex-Intendanten Friedrich Schirmer und den "selbstgefälligen" neuen Kultursenator zu schießen), die Ausstellung "Gabriel von Max - Malerstar, Darwinist, Spiritist" im Münchner Kunstbau, die Ausstellung "Ein Licht mir aufgegangen" zu Leo Tolstoi und Deutschland im Literaturhaus München, Elton Johns und Leon Russells gemeinsames Album "The Union", ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann mit Schreker, Mahler und Brahms und Herta Müllers in neuer Ausgabe erschienenes erstes nach ihrer Übersiedlung veröffentlichtes Buch "Reisende auf einem Bein" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).