Heute in den Feuilletons

Dabei ist Tony Blair ein netter Mensch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2010. In der Presse erklärt Klaus Theweleit, wo der Kalte Krieg heute ist: im Internet. Und Hans Magnus Enzensberger gesteht, welchen deutschen Klassiker er garantiert nicht mehr lesen wird. In der Welt hat der Politologe Christian Hacke Bedenken an der von Joschka Fischer initiierten Studie über die Rolle des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit. Die taz ist froh: New Orleans ist wiederauferstanden, dank seiner musikalischen Kraft. In der SZ erklärt Slavoj Zizek, was "liberale" Leitkultur ist.

Welt, 26.10.2010

Der Politologe Christian Hacke hat einige Zweifel an der von Joschka Fischer in Auftrag gegebene Studie über die Rolle des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit und personelle Kontinuitäten: "War massive Opposition von Anfang an Illusion? Stellt sie sich nicht vielmehr als individuelle Charakterleistung dar, die allenfalls in Gruppen Gleichgesinnter entstehen kann? Ist deshalb die Erwartung einer Opposition des Auswärtigen Amtes insgesamt illusorisch angesichts der Machtmechanismen eines totalitären Systems?" Und kann es sein, dass Christian Hacke seine Meinung gern in Frageform kleidet?

Weitere Artikel: Matthias Wullff kommentiert noch einmal die Betriebsposse um den Jungverleger Konstantin Neven-DuMont. Ulrich Weinzierl wurde von seiner Redaktionen zum kleinen aber feinen Literaturfestival "Literatur im Nebel" im Waldviertel expediert, das in diesem Jahr Hans Magnus Enzensberger würdigte. Wibke Gerking beobachtet den Startenor Jose Cura, der in Karlsruhe Saint-Saens' Oper "Samson und Dalaila" selbst inszeniert.

Besprochen werden die Ausstellung "Lust und Laster - die 7 Todsünden von Dürer bis Nauman" in Bern, eine CD der Berliner Jazzband Em (Hörproben) und ein Symposion über "mobile Textkulturen" (mehr hier).

Auf der Forumsseite muss der Medienwissenschaftler Volker Demuth nach Lektüre einiger neuerer Romane konstatieren, dass ein ökonomisches Denken in die Intimität der Paarbeziehung eintritt.

Presse, 26.10.2010

Hans Magnus Enzensberger, am Sonntag von der Presse beim Festival "Literatur im Nebel" in Heidenreichstein interviewt, erzählt fröhlich von seinem ganz unsakralen Umgang mit Büchern: "Ich habe inzwischen angefangen, Klassiker, bei denen ich es dreimal vergeblich versucht habe, einfach rauszuschmeißen. Darunter sind deutsche Bildungsromane wie der 'Maler Nolten'. Das ist immer die gleiche Geschichte vom Buben, der Künstler sein will. Sonst passiert nicht viel. Bei den Deutschen war das im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Deshalb haben sie so wenig brauchbare Romane. Da ist zu wenig Welt drin."

Und Klaus Theweleit, der auf einer Tagung über den Kalten Krieg in Wien war, erzählt im Interview, wo dieser heute geführt wird: "Nehmen Sie das Beispiel Internet und die Diskussion über Kontrolle. Das betrifft nicht nur Diktaturen. Der Hintergrund ist, dass die Mächtigen und Regierenden die Angst haben, die Kontrolle zu verlieren über die Bevölkerung, die sich in Netzen äußert. Wenn hier geheime Dokumente auftauchen, dann ist die Kontrolle weg! Unglaublich ist auch, was da mit HartzIV läuft! Ein riesiger Teil der Bevölkerung hat keine Arbeit. Die werden als Gegner gesehen: Die kriegen ihr Arbeitslosengeld nicht, damit sie zu essen haben, sondern damit sie innerhalb ihrer Grenze bleiben - und nicht gegen die Regierung demonstrieren."

Aus den Blogs, 26.10.2010

(Via Achgut) Die Reise des Ausschusses für Auswärtige Kulturpolitik im Bundestag in den Iran hat unsere Feuilletons nicht interessiert. Dabei konnte man Claudia Roth da mit Kopftuch sehen ("Wir dürfen die Beziehungen nicht auf das Nuklearprogramm reduzieren", verkündete sie nach der Reise). Und auf der Website der PDS-Abgeordneten Luc Jochimsen kann man etwas über die hehre Motivation der Politiker erfahren: "Wann wird Auswärtige Kulturpolitik besonders wichtig? Wenn es außenpolitisch schwierig ist. Wenn sich die internationalen Beziehungen verschärfen. Wenn Bedrohungen ins Spiel kommen."

NZZ, 26.10.2010

Joachim Güntner berichtet von der Tagung der Deutschen Akademie, die neben der Büchnerpreisverleihung an Reinhard Jirgl auch eine Rede von Günter Grass und einen Vortrag von Thomas Steinfeld über die besondere Qualität seiner Sprachkritik auf der Agenda hatte. Sieglinde Geisel besichtigt in einem alten Brauereikeller die Galerie unter Berlin.

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung von Dvoraks "Rusalka", in der Staatsoper München (die in den Augen Marco Freis völlig zu Unrecht Buhrufe kassierte), Dennis Kellys Stück "Waisen" in Basel, Rodolfo Enrique Fogwills Roman über den Falklandkrieg "Die unterirdische Schlacht", ein Sammelband zum "Kalten Krieg in Österreich", Eric Voegelins Schrift "Realitätsfinsternis" und Sara Stridsbergs Roman über die Feministin Valerie Solanas "Traumfabrik" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 26.10.2010

Hannes Klug besucht New Orleans, das dank seiner lebendigen Musikszene wieder auf die Beine gekommen ist: "'Rebuilding New Orleans one Groove at a Time', so hat es sich die Band Papa Grows Funk auf die Fahnen geschrieben: Nicht nur Bagger und Kräne bauen diese Stadt neu auf, sondern Jazz und Cajun, Zydeco, Soul und R 'n' B. 'Regeneriert sich die Musikszene, regeneriert sich auch die Stadt.' Dies, sagt der Jazztrompeter Leroy Jones, sei von Anfang an seine Überzeugung gewesen."

Weiteres: Recht friedlich fand es Jenni Zylka beim Geburtstagskonzert der Einstürzenden Neubauten: "Wo einmal reine Wut war, ist heute öfter Witz." Isolde Charim empfiehlt in ihrer Boulevard-Kolumne Emotionsmanagement im Kampf gegen Unvernunft und Rechtspopulismus. Besprochen werden Alice Schwarzers Band "Die große Verschleierung" und Eric T. Hansens Brevier überdeutsche Brevier über deutsche Sitten "Nörgeln!" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 26.10.2010

In der Debatte um Multikulti bringt der linke Philosoph Slavoj Zizek einen ganz neuen Begriff auf, den der "liberalen" Leitkultur: "Auch wenn liberale Linke die Idee einer 'Leitkultur' als heimlichen Rassismus verdammen, so wäre doch zuzugestehen, dass diese Idee zumindest eine angemessene Tatsachenbeschreibung darstellt. Der Respekt individueller Freiheiten und Rechte, auch auf Kosten von Rechten einzelner Gruppen, die volle Gleichberechtigung von Frauen, die Religionsfreiheit (inklusive des Atheismus), die Freiheit der sexuellen Orientierung, die Freiheit jeden und alles zu kritisieren, sind zentrale Bestandteile einer liberalen Leitkultur."

Weitere Artikel: Florian Kessler resümiert ein Symposion über "mobile Textkulturen" (mehr hier). In der Reihe über Kunstschulen besucht Jörg Häntzschel das einst von Walt Disney in Los Angeles gegründete CalArts (mehr hier), bis heute, so Häntzschel, die "einflussreichste amerikanische Kunstschule". Laura Weißmüller gratuliert dem Architekten Ralf Schüler, der West-Berlin mit "Bierpinsel" und Kongresszentrum prägte, zum Achtzigsten.

Besprochen werden ein "Don Giovanni" in der Regie Roland Schwabs an der Deutschen Oper Berlin, die deutschsprachige Erstaufführung des Stücks "Enron" der jungen Britin Lucy Prebble in Nürnberg, Filme des Leipziger Dokumentarfilmfestivals und Bücher, darunter Fabrizia Ramondinos Roman "La Via" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 26.10.2010

Mehrere Friedensnobelpreisträger, darunter Desmond Tutu, Lech Walesa, Jimmy Carter und der Dalai Lama haben in einem gemeinsamen Brief die westlichen Staatschefs aufgefordert, gegenüber China auf die Freilassung des inhaftierten Schriftstellers Liu Xiaobo zu drängen, meldet die Los Angeles Times: "Die Freilassung Dr. Lius durch die chinesische Regierung würde die bemerkenswerte Transformation wiederspiegeln, die China in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat', heißt es in dem Brief. Er drängt die Staatschef der G 20, die am 11. November in Seoul zusammenkommen, sich persönlich bei Hu Jintao für Lius Entlassung einzusetzen."

Unschlagbar, diese Franzosen: Fotos vom großen Streik bei The Big Picture.

FR, 26.10.2010

Um die "schleichende Aushöhlung" der Bibliotheksangebote zu demonstrieren hat der Deutsche Bibliotheksverband für Journalisten eine Reise durch die Bibliotheken im Land organisiert. Harry Nutt ist mitgefahren, sah aber eigentlich nur schöne Bibliotheken wie die Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität in Weimar, die nicht nur mit Karteikästen, sondern auch mit W-Lan ausgestattet ist. "Eine der spannendsten Diskussionen in der universitären Welt dreht sich denn auch um die Fragen zu E-Publishing, Open Access und der Digitalisierung. Hinter dem allgemeinen Bemühen, sich nicht als technisch unaufgeschlossen zu disqualifizieren, tobt ein Kampf um die Pole-Position bei der Digitalisierung und um die dafür zur Verfügung stehenden Fördermittel."

Weitere Artikel: Weniger Schlichtungsabsicht als "nachgeholtes Politikmarketing" sieht Christian Schlüter in Heiner Geißlers Versuch, den Streit um Stuttgart21 beizulegen. Roberto Saviano erklärt im Interview über seine Essaysammlung "Die Schönheit und die Hölle": "Das Talent ist die gefährlichste Waffe gegen den Status quo."

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung von Dvoraks "Rusalka" an der Münchner Staatsoper mit einer "fulminanten" Kristine Opolais in der Titelrolle, Mei Hong Lins Inszenierung von Bizets "Carmen" in Darmstadt und der Historikerbericht über das Auswärtige Amt und die Judenvernichtung (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 26.10.2010

Thomas David ist mit John Le Carre in Bern unterwegs. Sie sprechen über seinen neuen Roman "Verräter wie wir", seine Arbeit für den Geheimdienst, die Macht, das Geld und auch über einen Mann, von dem er lieber nicht interviewt werden wollte: "'Interessant, wer mich unlängst interviewen sollte', sagt Le Carre. Er sitzt im Fond einer schwarzen Limousine, der Blick aus dem Fenster gleitet über die Aare, vorbei am Helvetia-Platz, am Historischen Museum: "'Ich habe abgelehnt. Dabei ist Tony Blair ein netter Mensch. Aber auch einer der größten Langweiler, denen ich je begegnet bin.'"

Weitere Artikel: Jan Brachmann schildert Hintergründe zum Streik der Berliner Opernorchester. Die Juristin Tatjana Hörnle widerspricht dem Produzenten der umstrittenen "Tatort Internet"-Sendung: Es gebe, anders als dieser behaupte, sehr wohl Gesetze gegen das sogenannte "Cyber-Grooming", also die Anbahnung von Sexualkontakten Pädophiler mit ihren Opfern im Internet. Vom Filmfestival in Abu Dhabi, das sich ganz klar die Meinungsfreiheit auf die Fahnen geschrieben hatte, berichtet Verena Lueken. Werner Jacob hat sich die vom Architekturbüro Martin Roth entworfene Villa F in Uffenheim angesehen und bedauert, dass das Gebäude bei aller Qualität nicht zur Avantgarde energetischen Bauens zählt. Abgedruckt wird Salomon Korns Rede zum 100. Jahrestag der Einweihung der Synagoge im Frankfurter Westend. In der Glosse plaudert Gina Thomas das eine oder andere aus Keith Richards' Memoiren "Life" aus, die heute in den USA und Großbritannien veröffentlicht werden. 

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung von Dvoraks "Rusalka" an der Bayerischen Staatsoper, Egil Heidar Palssons Mannheimer Inszenierung von Tracy Letts' Horrorfarce "Verwanzt" eine Ausstellung mit Werken der Illustratoren der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und ihres Lehrers Heinz Edelmann in Rüsselsheim, und Bücher, darunter Philip K. Dicks Frühwerk "Stimmen der Straße" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).